D. K. Densa

Pflanze

Da Kali weder schizophren noch irgendwie manisch oder so, mit reichlich Talent vom lieben Gott beschenkt war, glaubten seine Schulkameraden , zu denen auch ich gehörte, daß aus ihm mal ein berühmter Künstler werden würde. Klar , man könnte sein Versagen den Drogen zuschreiben. Was heißt Versagen? Kali war nie im Knast gewesen, nie im Methadonprogramm, litt weder an Hepatititis noch an Aids. Ihm fehlten ein paar Zähne , und er war chronisch untergewichtig, das waren schon seine offensichtlichen Krankheiten. Seine seltsamen Kunstwerke verkaufte er auf Flohmärkten und seit zwei Jahren auch in Automaten. So , über ein paar Gönner, hier ein kleines halblegales Geschäftchen, dort ein Motorrad bemalt und ohne große Ansprüche hielt er sich trotz erheblichem Heroinkonsum über Wasser.
Seit fünfzehn Jahren in der Kunsthochschule eingeschrieben, ohne dort einen einzigen Schein gemacht zu haben, bekam Kali immer wieder mal Ärger mit der Krankenkasse, aber niemand drohte ernsthaft, ihn von der Uni zu verweisen. In Walburg war er ein Original, in Ruhrstadt, wo er hätte hinziehen müssen , um eine große Nummer zu werden kannte ihn dagegen kein Mensch. Woher auch? Allerdings habe ich nie gehört, daß sich Kali darüber beschwert hat, von wegen über die Galeristen schimpfen, den Zeitgeist zur Hölle wünschen oder so. Dazu war er viel zu abgehoben. Wenn ihm jemand zehntausend für ein Bild oder eine Schnitzerei geboten hätte, hätte er die mit Sicherheit ohne viel Aufhebens in nullkommanichts verfeiert. Soll aber nicht vorgekommen sein.

Im April rief er mich auf meinem Handy an. Woher er wußte, daß ich in der Stadt war, war mir in dem Augenblick ein Rätsel. Daß er es wußte , entnahm ich seiner Zielstrebigkeit. Große Story, laß uns da und da treffen; selbst die Uhrzeit gab er vor, obwohl man doch annehmen durfte, daß ihm größere Zeitreserven zur Verfügung standen als mir. Fast hätte ich auch abgesagt. Einer seiner Gönner, die ihm, wenn er in der Klemme steckte , Geld für einen Beutel von den Drogen, die er brauchte gaben, war nämlich zugegebenermaßen ich. Oftmals verpackte er seine Schnorrerei mit seinem blendenden Charisma in so ausgefallen krude Ideen, für was er das Geld investieren müsse, daß man ihm diese Lügen einfach großzügig honorieren mußte. Den Tag wollte ich aber einen Freund im Krankenhaus besuchen, war deshalb überhaupt kurzfristig in Walburg und fand es daher unmoralisch , mir zu meinem Vergnügen einige Lügengeschichten anzuhören. Am nächsten Tag ging schon mein Flieger nach Mallorca, wo ich für die dritte Auflage unseres vegetarischen Reiseführers einige wichtige Recherchen durchführen sollte.
"Ich kann nicht, Kali", unterbrach ich ihn .
"Wie , du kannst nicht? Mir hast du erzählt, du kannst immer, hähähä. Acht Uhr ist doch eine gute Zeit."
"Eben war es noch sechs Uhr. Ich muß morgen wieder weg und hab noch einiges vor. Ich würde ja gerne, aber..."
"Schwachsinn. Ich brauche dich und ein Auto für eine Riesensache. Vergiß deinen Scheiß-Reiseführer."
Ich wüßte nicht, wem außer Biggy und meiner Agentin ich davon erzählt haben sollte.
"Ich bin unter die Hausbesitzer gegangen, Hugo. Ich wollte dich sozusagen als Gutachter dabeihaben, wenns geht, aber ich mach s auch alleine. Komm einfach um sieben in den Schlechten Witz und fertig."
Er legte auf. Es klang ehrlich enttäuscht, sein ich-mach-s-auch-alleine. So eine Tränendrüsenmasche-Masche stand ihm nicht, war nicht seine Art. Seinen Charme hatte er zum großen Teil seiner Anständigkeit zu verdanken, also ging ich davon aus, daß sich sein Schnorrerstil nicht auf Talfahrt befand, sondern, daß er im Gegenteil bestimmt etwas Inspirierendes zu bieten hätte. Außerdem wollte ich wissen, wie gut er Biggy kannte. Meinem Kumpel ging es nach einer Meniskusoperation ganz gut. Ich hasse Krankenhäuser, war auch gar nicht lange da, fuhr ins Hotel duschte und nahm den gemieteten Van zu den baufälligen Lagerhallen unten an der Till , kurz hinter dem kleineren Wehr . Der Schlechte Witz läuft zur Tarnung als Verein zur sinnvollen Freizeitbeschäftigung, ist aber nichts weiter als eine große, billige Kneipe. Die Macher dort geben sich mit kleinen Events richtige Mühe, ansonsten hätte das Ordnungsamt den Laden mit seinem lobbylosen Publikum wegen Brandgefahr schon längst dicht gemacht. Während meiner Studienzeit war das mein Stammlokal. Wie ich auf den Parkplatz fuhr, fiel mir auf, daß ich schon seit einigen Jahren nicht mehr hier gewesen war. Kalis altes Hollandrad lehnte unabgeschlossen neben dem Eingang, mit den aufgemalten Fratzen viel zu auffällig, andererseits zu schäbig, um es zu klauen. Er hockte in der Nähe des Ofens über seiner Cola und starrte in die Kerze vor ihm auf dem Tisch. Als er mich sah , leuchteten seine Augen. Das tun sie bei ihm aber chronisch, weil die von der Droge verkleinerten Pupillen den ganzen Platz für die helle, tiefe Bläue lassen.
"Mensch, Hugo. Alles fit im Schritt?"
"Hi, Kali. Alles klar?"
Seine langen Haare waren in der Mitte nach hinten gegelt. Er sah nicht ungepflegt aus, aber für jemanden der ihn nicht kannte auch keineswegs vertrauenswürdig. Für verschiedene Zwecke hatte sich Kali unterschiedliche Gebisse selbst geschnitzt, mit Spangen versehen, so daß man sie auf den ersten Blick für professionelle Arbeiten halten konnte. In Discos trug er schon mal Schweinehauer, oft lief er mit spitzen Haifischzähnen rum, heute trug er jedoch seine seriösen.
"Tut mir leid, wie ich am Telefon war", begann er und winkte der Bedienung zu.
"Aber es ist echt total wichtig, daß jemand dem ich vertraue mir Rückendeckung gibt. Zumindest, daß jemand Bescheid weiß. Hast du schon mal von Ka Tyeneo gehört?"
Ich schüttelte nicht mal mit dem Kopf, sah ihn nur gespannt an , bestellte mir einen Tee.
"Von den vedischen Samhitas?"
"Ouh... bist du jetzt auf dem Indientrip?"
"Du weißt genau, daß ich eine Weile da unten gelebt habe. Genauso in Westafrika. Daher kommt der Kult um Ka Tyeneo."
Ende der Achtziger hatte er gelegentlich angejahrte Peugots von Frankreich nach Nigeria überführt und von dem Erlös die einheimische Schnitzerei studiert. In Indien , dachte ich immer , sei er nur wegen der billigen , leicht erreichbaren Drogen gewesen.
"Du siehst doch hier die Narben auf den Rudraksa-Kernen."
Dabei zeigte er auf die Einkerbungen in den Gliedern seiner Halskette.
"Das sind mukhas - Gesichter. Jenachdem wieviele solcher mukhas sich auf dem Rudraksa-Kern befinden, haben die Kerne ihre Bedeutungen. Der hier" , er fingerte an seiner Kette rum und zählte tastend , "hat zwölf. Der verkörpert Vishnu. Der hier hat drei, die die drei heiligen Feuer symbolisieren und immer so weiter. Zwischen einem und vierzehn mukhas hat jeder dieser Kerne, wobei die meisten sich mit so um die fünf begnügen. Der mit vierzehn, zum Beispiel soll von jeglichen Krankheiten heilen. Ich habe aber bisher noch nie einen gesehen. Jetzt kommts."
Kali langte nach hinten zu seiner Brieftasche, kramte ein winziges Stoffsäckchen hervor und präsentierte mir triumphierend noch so ein halben Zentimeter langen Baumkern. Ja natürlich, Dr. Karl Linde befreit die Welt von allen Gebrechen. Krebs, Malaria und Gelbsucht gehören der Geschichte an.
"Zähl", forderte er mich auf.
Ich zählte einmal, zweimal, doch jeweils sah es nach fünfzehn Narben aus.
"Fünfzehn", sagte ich also.
"Genau", erwiderte Kali immer noch mit dem triumphierenden Lächeln auf seinem schmalen Gesicht.
"Eine Mutation." Ich war überhaupt nicht begeistert. "Auch die Inder betreiben Kernkraftwerke, die machen sogar Atombombentests. Wenn alle Folgen davon so harmlos sind, können die von mir aus sogar damit weitermachen, oder beschwört der jetzt alle Krankheiten herbei?"
Für einen Augenblick wich alle Farbe aus seinem Gesicht, das Colaglas wackelte bedenklich. Dann holte er Luft und faßte sich.
"Verarsch mich nicht, Hugo. Ich verarsch dich auch nicht, obwohl man dich ziemlich leicht verarschen kann, ok?"
Er machte eine Pause, wartete bis ich wenigstens nickte. In solchen Momenten irritierten mich seine unnatürlichen Stechaugen ungeheuer.
"Es sind tatsächlich fünfzehn Gesichter, und ich habe das Ding selbst im Wald gefunden; hunderte Kilometer vom nächsten Kraftwerk und tausende von Atomtests entfernt, falls ein Funken Ernst in deinem Kommentar lag"
"Erzähl schon. Was bedeutet er?"
Meine Neugier war ehrlich. Ich hatte ihn auch nicht verletzen wollen.
"Es bedeutet Pflanze. Die Pflanze an sich."
Er zögerte, drehte sich eine Zigarette und bestellte sich ein Bier am Tresen. Das dauerte. Ich schätze, ich hatte ein Stück weit sein Vertrauen verspielt, aber so sensibel kannte ich ihn auch nicht. Ich bestellte mir ebenfalls ein Bier und beschloß, einfach zuzuhören .
"Wir haben uns lange nicht gesehen", begann er.
"Zwei Jahre", sagte ich und biß mir auf die Lippen. Ich nippte an meinem Bier , senkte den Kopf und blickte ihm ins Gesicht. Das sollte bedeuten, daß ich ab sofort die Schnauze halten würde.
"In der Zeit , als ich in Indien lebte, also vor ungefähr zehn Jahren, war ich ziemlich weit unten. Von wegen der geheimnisvolle Zauber Indiens. Die Shore gabs billig in den Apotheken und die Europäer blieben unter sich, zumindest in Goa. Aber das habe ich dir alles früher schon mal erzählt. Daß ich dann im Landesinneren in einem Kloster abgeturnt habe, glaube ich auch. Aber da habe ich eben bei einem Spaziergang diesen seltsamen Rudraksa-Kern gefunden. Ich zeigte ihn meinem Meister, und der brachte mich zu einem Brahmanen. Der Typ war völlig aus dem Häuschen, machte allerlei Zeichen in die Luft und klimperte mit seinen merkwürdigen Schellen, während er ständig redete. Mein Meister übersetzte mir auf englisch die Bedeutung dieser Kerne, wartete offensichtlich aber selber auf die Erklärung, was mein Fund denn nun offenbaren würde. Der Alte redete immer weiter, fing an sich zu wiederholen bis mein Meister auf seine höfliche Art einen Abschied einleitete. Für mich war das Ding also nichts weiter als eine Kuriosität. Als ich das Kloster verließ, schenkte der Abt mir diese Halskette , die du hier siehst. Den Kern trage ich seitdem als Talisman in diesem Beutel immer bei mir, habe mich aber nie weiter um einen tieferen Sinn gekümmert.
Ein paar Jahre später habe ich dann diese Touren nach Nigeria gemacht. Nach dem dritten Konvoi mit Peugots hatte ich genug Geld zusammen, um dort leben zu können und mir einen Lehrer fürs Schnitzen zu suchen. Ich war ja clean damals. Einfach die Tourimärkte abklappern und rumfragen, das hat funktioniert. Die besten Künstler empfahlen mir alle den gleichen Mann, der zehn Eisenbahnstunden und einige Kilometer zu Fuß von Lagos entfernt in einem Dorf am Meer wohnte..."

Die Suaheli-Litanei dauerte schon zwei Tage. Bei nahe fünfzig Grad ohne Schatten saß Kali dem dicken Okoche gegenüber und fragte sich, so unverständlich der Singsang seines Meisters auch war, ob der nicht die ganze Zeit das Gleiche erzählte. Kali hatte ihm bei seiner Ankunft zwar gesagt, was er wolle, aber der für Nigerianer kleine Mann hatte ihm nur zu verstehen gegeben , daß er den richtigen gefunden hätte, indem er auf sich zeigend seinen Namen nannte. Ob er Englisch verstand oder Kali überhaupt als Schüler akzeptierte, war bislang nicht zu erkennen gewesen. Möglicherweise machte sich Kali mit seiner Geduld hier nur lächerlich. Unvermittelt wechselte Okoche ins Englische.
"Und am siebten Tag schickte Ka Tyeneo seine Boten über die Wasser , damit sie auch dort von seiner Herrschaft künden sollten. Er selbst ging auf den Berg des zweiten Tages und fand ihn kalt und kahl. Das Gras , das er in der Ebene gesät hatte wollte hier nicht wachsen. Vor Wut spuckte Ka Tyeneo auf einen Felsen und befahl ihm zum Leben zu erwachen. Der Felsen wurde warm und geschmeidig, doch blieb er grau und tot. Verwundert über die Kraft des Berges, sich seinem Willen zu widersetzen, riß Ka Tyeneo den Felsen von seinem Grund und betrachtete ihn. >>Auch du sollst ein treuer Diener werden>>, sprach er zu dem Stein und nahm ihn mit hinab zu seiner Hütte. Dort auf dem Boden angelangt schlängelten sich sogleich Wurzeln aus dem Felsen , Äste bildeten sich und Blätter wuchsen. Die größte Freude aber machten Ka Tyeneo die bunten Früchte. Seit diesem Tag gibt es Bäume auf der Erde.
Am siebten Tag erhob sich Ka Tyeneo von seiner Gefährtin Ryen'nee und sprach zu ihr >> geh mit den Vögeln den Fluß hinab zum großen Meer , damit auch dort meine Herrschaft offenbar werde>>. So geschah es. Er selbst machte sich auf den Weg zum Berg des zweiten Tages."
Nach etwa zehn Versionen dieser Geschichte überkamen Kali erneut Zweifel, ob sein vermeintlicher Lehrer ihn nicht nur zum Narren hielt, und wieder reagierte Okoche.
"Du bist eine Pflanze", sagte er.
"Ka Tyeneo ist dein Meister, nicht ich. Er wird dich begleiten und verwandeln."
Auf diese Weise lernte Kali wahrscheinlich sämtliche Versionen von Ka Tyeneo und seiner Schöpfung der Bäume kennen, die jemals erzählt wurden. Mal stellte er sich gleich den ganzen Berg in den Garten, mal vögelte er vorher ausgiebig mit seiner Ryen'nee, aber am Ende des Tages freute er sich immer wieder über die schönen bunten Früchte. So verging eine Woche. Dann holte Okoche das Werkzeug und unbehandeltes Holz aus seiner Hütte, reichte Kali ein Messer und begann in aller Ruhe die Rinde abzuschälen.

"Ich hab ne Menge gelernt da. Nur ich konnte nie etwas mit diesem ganzen mystischen Firlefanz anfangen, auf den Okoche ständig so betont wert gelegt hat. Mein Meisterstück ist eine Ka-Tyone-Figur, ganz schlicht; sie steht in meinem neuen Haus."
Ich kannte die Figur aus seinem für einen Drogensüchtigen absolut noblen Atelier. Daß er das jemals aufgeben würde, wäre mir nie in den Sinn gekommen.
"Hast du dein Atelier etwa aufgegeben."
"Nicht ruhig genug. Fahr mich hin. Auf dem Weg kann ich dir die Sache erklären."
Ich zahlte für uns beide, wir packten sein Fahrrad in den Van, und ich startete den Motor. Er dirigierte mich Richtung Erlenstrauch, dreißig Kilometer in den bergigeren Teil des Sauerwaldes hinein.
"Vor gut zwei Monaten fand ich die Einladung eines gewissen Swami Ranjha in meinem Briefkasten,. Ich sollte meine Ka-Tyone-Figur und den Rudraksa-Kern mitbringen. Anbei lagen ein Ticket nach Bombay und ein Scheck über tausend amerikanische Dollar"
c,,c,,c,c,,/c,,c,,c,c,,/c,,c,,c,c,,/c,,c,,c,c,, Seine Finger trommelten auf der Ablage. Kali war nicht gerade der begnadete Rhytmiker. Es sprach für seine Konzentration, , daß er ihn sauber hinbekam. Es fing an dicke Tropfen zu regnen. Aus Rhythmus wurde schnell Chaos, und er nahm seine Erzählung wieder auf.
"Ich hab mich natürlich nicht lange bitten lassen, bin sofort rüber und suchte diesen Swami auf. So ein englischer Archäologe hat eines der ältesten Teile der Veda entdeckt, das bisher als verschollen galt, das Jaiminiya-Brahmana. Tja, und mein Gastgeber behauptete nun, darin würde stehen, mir als Finder des fünfzehngesichtigen Rudraksa-Kerns stünde die Erleuchtung unmittelbar bevor, das Ende der Leiden oder so. Ich kenne mich im Hinduismus nicht so aus . Es war selbstverständlich alles viel komplizierter, aber das war es , was ich verstanden habe. Hihi. Toll, oder?"
Der Regen war stärker geworden. Sein Lachen klang seltsam, noch nicht beunruhigend aber merkwürdig.
"Joah, ich wär auch gern erleuchtet. Hat man dir aus Ehrfurcht ein Haus geschenkt?" kombinierte ich.
"Genau. Da vorne mußt du links ab."
Das Anwesen mußte zu Erlenstrauch gehört haben, lag aber durch einen Hügelkamm verdeckt etwas außerhalb. Über und über mit Efeu bezogen machte es einen noblen Eindruck. Der Garten war weder verwildert, noch hatte sich hier ein Gärtner in jüngster Zeit zu schaffen gemacht. Der üppige Wuchs war nicht den Brennesseln vorbehalten, wirkte irgendwie angemessen, angepaßt. Haus Garten und Wald gingen nahtlos ineinander über. Wir staunten beide schweigend. So schön es bei Sonnenschein auch aussehen mochte, bei Regen wirkte es unheimlich.
"Heh, du warst vorhin so gereizt. Am Telefon hast du auch nicht so geklungen, als ob du das große Los gezogen hättest. Was stimmt denn hier dann nicht?" Für was hatte er mich unbedingt dabeihaben wollen?
"Gemach, gemach. Laß uns erst mal reingehen."
Das klang viel zu locker. Ich konnte seine Anspannung deutlich spüren. Durch das unverschlossene Gartentor gelangten wir über lose Steinplatten zum überdachten Treppenaufgang. Ganz im Westen, wo langsam die Sonne unterging, brach die Wolkendecke. Mehrere überdimensionale Rhododendren standen in voller Blüte.
"Glaub mir. Ich weiß selber nicht, was mich da drinnen erwartet", sagte Kali während er aufschloß.
Der Fußboden fehlte. Nein, auf den ersten Quadratmetern konnte man die Dielenbretter noch erkennen. Jemand hatte die Erde von außen hereingeschafft. Kali ging durch den Flur und scharrte mit den Füßen .
"Liegt noch nicht lange hier", meinte er bloß.
Die Türen im Innern waren klugerweise entfernt worden. Der Geruch war nicht wie man erwarten würde modrig, sondern frisch.
"Es riecht nach Blumen", sagte ich.
"Probier mal den Lichtschalter."
Blaues UV-Licht gab dem dunkelbraunen Eindruck sofort ein freundlicheres , saubereres Flair.
"Du willst hier Gras anbauen, stimmts?"
Mir war die Absurdität dieser Vermutung schon bewußt, aber in dem Moment löste jeder andere Versuch einer Erklärung Unbehagen in mir aus.
"Es paßt spitzenmäßig", murmelte Kali.
"Was?"
Er war weitergegangen, stand jetzt in einem Raum , den ich nicht einblicken konnte.
"Komm her. Sieh dir das an."
Der Garten schien sich durch das riesige Panoramafenster in den Raum ausgebreitet zu haben. Die Raumhöhe ließ einer fünf Meter hohen Buche auf der Südseite Platz, sich noch weiter zu entfalten. Die Schlingpflanzen, Orchideen und Sträucher folgten alle einer wilden Ordnung, deren Mitte eine Art Sessel aus Palmenblättern bildete. Dem gegenüber stand thronend auf einem Sockel und größer wirkend als ich sie in Erinnerung hatte , die Statue des Götzen, der angeblich die Bäume erschaffen hat. Und das verhinderte völlig den Eindruck, man befinde sich in einem exzentrischen Gewächshaus. Ich drehte mich um und sah an der Wand zum Flur hin okkulte Zeichen über Bildern von Pflanzen, wie sie sich im Raum befanden. Kali machte Anstalten, sich in den Sessel zu setzen.
"Tu das nicht."
Meine Stimme klang dünn und wenig überzeugend. Der Sessel sah einladend aus.
"Schon Okoche hat gesagt, ich sei eine Pflanze, und der Swami hat ihn bestätigt. Meinte, diese Jaiminiya-Brahmana prophezeit meine Verwandlung und Erleuchtung, genau. Bequem hier, fehlt nur noch ... heh, was ist das?"
Er blickte über sich in das dichte Blätterwerk einer Pappel. Ich sah es auch: ein Tropf mit bestimmt drei Litern Volumen. Die grünen Schläuche, die ganze Apparatur ließen keinen Zweifel aufkommen.
"Wenn es das ist, wofür ich es halte, brauche ich überhaupt nicht mehr aufzustehen, hähähä."
Ich konnte Kalis Begeisterung kaum teilen.
"Ich glaube, das sollst du auch nicht, Mann."
Aber er hörte nicht auf mich. Er hatte schon den Hahn aufgedreht und schmeckte an der bräunlichen Flüssigkeit. Dann steckte er sich grinsend die Nadel in jenen Teil des Arms, der am wenigsten vernarbt war. Seine Augenlider wechselten auf Halbmast.
"Is ok, Hugo. Is sauber", sagte er und zog die Nadel wieder heraus. Als ob ich das bezweifelt hätte. Mir war die Angelegenheit undurch-schaubar, nur war mir nicht wohl dabei, Kali abgefüllt in diesem Dschungel zurück zu lassen. Er sah meinen Blick.
"Nee, ist echt ok. Ich komm schon zurecht."
Seine Gesten wiesen schon zur Tür. Er wollte alleine sein.
"Ich hol mir nur noch was zu essen, dann mach ichs mir gemütlich."
"Wo willst du denn um diese Zeit in diesem Kaff etwas zu essen herbekommen?"
"Hast recht. Naja dann morgen. Ich muß ein bißchen nachdenken."
Während meiner Studienzeit hatte ich selber mit Drogen experimentiert. Ich wußte, was er mit nachdenken meinte. Schöne Träume inmitten von Blumen bei angenehmer Temperatur. Wie auf Befehl ging unter dem Dach ein schummriges , von vielen kleinen Strahlern erzeugtes Licht an. Er mußte wirklich nicht mehr aufstehen. Die Sonne hatte sich verabschiedet.
"Geil", meinte Kali.
Wir verabredeten, daß ich mich, wenn ich von Mallorca zurück war, bei ihm meldete.

Die Recherchen für den Reiseführer gestalteten sich für mich als Nichtvegetarier äußerst langweilig. Einige Gemüseaufläufe, deren Köche ich dann meinen Lesern auch empfahl, entsprachen meinen Vorstellungen von einem Hauptgericht, allein mir fehlte das Fleisch. Nach zehn Tagen erhielt ich ein Fax, eine meiner Immobilien in Florida sei abgebrannt, und die Versicherung weigere sich wegen höherer Gewalt auch nur einen Cent zu zahlen. Also besorgte ich mir einheimische Restaurantkritiken, ließ sie mir übersetzen und verlegte meine Arbeit nach Tampa, wo sowohl mein amerikanischer Anwalt als auch die Versicherungsagentur residierten. Tausende mittel-ständischer Amerikaner teilten nach den verheerenden Waldbrand mein Schicksal, gaben sich ihm jedoch mehr oder weniger gleichmütig hin. Ich bin jedoch nicht der Typ dafür, daher lernte ich wegen Beleidigung und Bedrohung für zwei Monate das Staatsgefängnis von St. Petersburg kennen. Wieder zu Hause in Walburg verging noch mal eine Woche , bevor mir Kali wieder einfiel. Noch am selben Nachmittag fuhr ich in der heißen Augustsonne durch den Sauerwald und ärgerte mich über mein schlechtes Gewissen. Höhere Gewalt- wenn ich das akzeptieren mußte, mußte Kali das auch. An diesem grellen Nachmittag sah der Garten noch pompöser aus. Jeder kleine Halm schien zu wuchern und zu blühen. Ich klopfte mehrmals, ging aber als ich keine Antwort erhielt ohne zu zögern durch die unverschlossene Tür. Es roch ein wenig faulig heute , und ich mußte über Kalis schlechte Angewohnheiten grinsen. Das Grinsen gefror mir zur Maske. In dem überdimensionalen Wintergarten-Wohnzimmer hätte ich Kali, besser gesagt, das, was vonihm übrig war, beinahe gar nicht bemerkt. Die Verwesung hatte ein Stadium angenommen in der seine Farbe der des Erdbodens glich . Von seinen Zähnen abwärts konnte ich die im Grünzeug eingebetteten Konturen verfolgen. Keine einzige Fliege machte sich an ihm zu schaffen, aber die Pflanzen schienen ihn gierig aufzusaugen. In der Mitte, dort wo einmal seine Hände gewesen sein mochten wuchs ein Schößling direkt aus seinem Fleisch. Mir war sofort klar , daß sein sagenumwobener Rudraksa- Kern den einzig wahren Ort zum Keimen gefunden hatte. Wenn Kali irgendwie als Erleuchteter reinkarniert war, dann bestimmt in diesem kleinen Bananenbäumchen, oder was es war. Aus einem starken, instinktsicheren Gefühl heraus holte ich eine Plane aus dem Wagen, trennte die morschen Handknochen mitsamt dem Rudraksabäumchen vom Rest des Körpers, packte den seltsamen, aber nicht unappetitlichen Ballen in meinen Kofferraum und schlich, so hoffte ich unbemerkt von dannen. Genau das war ich meinem Freund schuldig gewesen. Es wäre nicht in seinem Sinne gewesen, wenn ich die Bullen gerufen hätte, und die ihn rücksichtslos seziert hätten.
Jetzt ist wieder Sommer. Kali steht bei mir auf der Veranda und gedeiht prächtig.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (D. K. Densa).
Der Beitrag wurde von D. K. Densa auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.08.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  D. K. Densa als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Auch Kühe brauchen mal Urlaub - Gute Nacht Geschichten von Susanne Schulmann



Kleine Kindergeschichten, in die man sich hineinversetzen kann. Kühe, die dringend Urlaub brauchen, Borkenkäferkinder, die ohne ihre Nussschale nicht Schlitten fahren können und sich erst einmal auf die spannende Suche begeben, ein Mistkäfermann Namens Hugo Müffelklotz, der eine Freundin sucht und ein Restaurant führt indem man Butterblumensuppe essen kann, ein Mückenmädchen, das verloren gegangen ist, ein Kakadu, der zum Südpol will, eine kleine Fledermaus, die eine Guten Tag Geschichten zum Einschlafen braucht und noch andere Abenteuer. Kindergeschichten zum Vorlesen und mit Bildern zum Ausmalen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Phantastische Prosa" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von D. K. Densa

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der betrunkene Pfarrer von D. K. Densa (Unheimliche Geschichten)
Leben im Korridor von Norbert Wittke (Wahre Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen