Dieter Kamensek

Samstag

Ich sehe durch die Fensterscheiben meines Kinderzimmers. Ich sehe durch die Scheiben und eigentlich müsste ich die Bäume und den Rasen sehen, ich müsste den Himmel und die Wolken erblicken. Ich sollte eigentlich die anderen Häuser, die Autos und die Vögel sehen und erkennen. Ich sehe aber hinaus aus dem Fenster und sehe nur in mich hinein. Meine Ohren hören nicht den Straßenlärm, hören nicht das Vogelgezwitscher, sie hören nicht die Menschen. Ich höre in mich hinein. Ich spüre nicht die Wärme der Sonne, nicht das wohlige Gefühl meiner Kleidung, ich spüre nicht den Luftzug der an mir vorbei streicht, ich spüre gar nichts.
Ich fühle keine Heiterkeit wenn die Sonne mein Gesicht streichelt, ich spüre keine Freude bei meinen vollen Kinderzimmer, ich spüre keine Zufriedenheit. Ich spüre nur Einsamkeit!
Ich denke nicht an die Schule, ich denke nicht an meine Freunde und an das spielen, ich denke nicht an morgen, ich denke nicht einmal an später. Ich denke nur an die Vergangenheit!
Ich sage nichts mehr, schon länger nicht, ich weine nicht mehr, ich lache nicht mehr, ich zeige nichts mehr von mir!
 
Ich bin mit meinen Gedanken bei Papa und Mama, ich bin bei ihnen. Ich lache und spiele und jauchze mit ihnen- aber stumm, niemand der in meiner Nähe ist hört es!
Sie tollen mit mir herum, nehmen mich mit, sie laufen mit mir. Doch niemand der in meiner Nähe ist sieht dass ich mich bewege.
Wir basteln und wir zeichnen, wir werken und manchmal albern wir herum und kleckern uns an! Aber niemand, der mich ansieht, sieht auch nur einen kleinen Fleck auf meinen Kleidchen!
Wir kuscheln und wir herzen uns, Mama, Papa und ich. Doch niemand in meiner Nähe sieht auch nur die kleinste Bewegung von mir!
 
Samstag fuhren wir, später als gewöhnlich, von einen Ausflug nach Hause. Es war wunderschön. Der Tag war lustig, ich habe ganz viel Eis gegessen, denn mein Papa hat mir, wenn sich die Mama umgedreht oder weggesehen hat, von seinen Eis etwas abgegeben! Wir fuhren mit einen Paddelboot am See, und mein Papa ruderte. Er ist superstark. Wir haben die Fische und die Enten gefüttert, lagen im Gras und sangen. Mein Papa singt zwar nicht schön, aber laut. Es war wunderschön. Ich habe noch mit ein paar anderen Kindern am Spielplatz gespielt. Danach fuhren wir noch zu einem Restaurant und aßen etwas Gutes! Ich habe mir noch einen wunderschönen Hüpfball aus dem Automaten drücken dürfen!
 
Er war gut drauf. Seine Arbeitskollegen haben ihn, weil er doch Geburtstag hatte, eingeladen. Am Samstag kann man doch viel entspannter und gelassener feiern als unter der Woche. Seine Kollegen  zahlten die Zeche, und je später der Abend, umso lustiger wurde es. Mit zunehmendem Alkoholspiegel stieg die Fröhlichkeit! Alles war lustig, alles war einfach! Alkohol macht die Gedanken frei, die Zunge locker und alles lustig. Betrunkene Frauen lachten ihren grässlichen, dümmlichen Lacher und zeigten sich in all ihrer Dämlichkeit, betrunkene Männer lallten ihre anzüglichen Bemerkungen und gaben ihre sonst so wohlgehütete Dümmlichkeit preis! Primitiv und äußerst geschmacklos ist die Zier der Alkoholiker. Was sie auch immer zu betäuben versuchen, jedem Tag nach dem Erwachen sehen sie doch wieder das gleiche Problem, die gleiche Person im Spiegel und den gleichen ausweglosen Alltag! Sie mussten das Lokal wechseln, denn es könnte sie doch irgendetwas einholen.
 
22.15 Uhr. Ein Kraftfahrzeug mit vier alkoholisierten Insassen rammte aus entgegenkommender Richtung ein anderes Fahrzeug mit drei Insassen. Bei den drei Insassen handelte es sich um zwei Erwachse und ein Kind. Die beiden Erwachsenen wurden infolge des Aufpralls schwerst verletzt und starben noch auf der Unfallstelle. Das Kind überstand, ebenso wie die Insassen des anderen Kraftfahrzeuges den Unfall unverletzt und bei vollem Bewusstsein. 
Das Kind wurde, wie auch die betrunkenen Insassen, zur Beobachtung in das nächstgelegene Krankenhaus gebracht.
 
Ich sehe durch die Fensterscheiben meines Kinderzimmers. Unsere Wohnung ist ganz hoch oben, ganz nahe am Himmel,…..
 
Die Vorhänge des Kinderzimmers wehen, getragen durch den Luftzug der durch das vor kurzen geöffnete Fenster kommt, in weitem Bogen in das Zimmer. Es ist auch niemand mehr da den sie berühren könnten!
Der Körper ist einfach zu schwer um dorthin zu reisen wo Mama und Papa sind.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.11.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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