Annemarie Hülsmann

Verloren

                        Verloren
Immer wieder hörte sie sich schreien,hoch,schrill,am Boden zerstört.Immer das gleiche Wort,jeden Abend,jede Nacht,jeden Tag!
Lea stand im Bad,vor den weißen Fliesenwänden.Grau durchstreifte sie wie ganz kleine Straßen,in alle
Richtungen.Wieder stand sie auf dem blauen Boden,mit nackten,ebenfalls blauen Füßen.Wieder
sah sie den weißen Schrank,der neben dem gleichfarbigen Waschbecken hing,wieder war das Fenster
beschlagen.
Über dem Waschbecken,wo kaltes Wasser immer wieder auf den Untergrund tropfte,hing ein Spiegel.
Hinter dem Nebel,der vor ihm ruhte,konnte Lea schwach ihr bleiches Gesicht entdecken.Ihre
Gesichtszüge zitterten.Sie starrte auf ihr Spiegelbild.
 
Lea geht den Flur hinab,muss nur eben den Müll hinunter bringen.Sie hasst es,den Müll runter zu bringen.
Draußen hängen lange Eiszapfen an den Ziegeln der Dächer,die Straßen sind backpulverweiß,die Blumen
verschwinden unter der schweren Schneemasse.Sie stapft durch den weißen Weg zur Mülltonne,die vor der
Garage steht,der eisige Wind peitscht ihr Gesicht,zerzaust ihre Haare.Auf der Tonne liegt ungefähr ein
cm Schnee,als sie den Deckel aufmacht und der eisige Niederschlag als Lawine auf den Boden kracht.
So,Mülltüte rein,Deckel zu.Eine Eule kreischt,fliegt als Schatten am Badezimmerfenster vorbei.
Danach herrscht Totenstille.
Lea rennt durch das Schneegestöber,durch die Nacht,durch das Dunkel.Kein Stern blickt vom Horizont hinunter,nur der blassgelbe Mond blinzelt durch die Wolkendecke,Fledermäuse flattern vor dem Mond umher,verschwinden hinter den dunklen Wolken...
 
Lea atmete schnell,fast zu schnell.Ihre blonden Haare klebten an ihrer feuchten Stirn,ihr Gesicht war so blass,als bestände ihr Blut aus Milch.Ihre Hände hatte sie zu Fäusten geballt.
Warum war ihr das geschehen,warum?
Wieder schwitzte sie wahnsinnig,genau wie an jenem Tag...
 
Die Haustür fällt mit einem Krachen zu.Wieder wird es leichenstill.
Nur ein Rauschen dringt von ihrer Wohnungstür in den Hausflur.
Lea steigt die alte Steintreppe hinauf,16 Stufen,sie hatte diese einmal beim Wischen gezählt.
Als sie die gläserne Wohnungstür öffnen will,merkt sie,wie unter dem Schlitz der Tür Wasser durchsickert,mit Schaum gesprenkelt.Ihr Freund hatte sich ein Bad genehmigen wollen.Um Gottes Willen!
Lea lässt den Müllkorb fallen und dreht hektisch am Wohnungsschlüssel.Die Tür springt auf,ein
Schwall von grünem Badewannenwasser schießt ihr entgegen,strömt das Treppenhaus hinunter.
Die Badezimmertür ist einen Spalt geöffnet ,dumpfes Licht dringt durch die schmale Öffnung auf die
schneefarbene Raufasertapete im Flur...
 
Ihre Hände krallten sich am Waschbecken fest,ihren Kopf hielt sie gesenkt.Lea war schlecht,kotzübel,ihr Herz raste,hämmerte gegen ihre Rippenwand,als wollte es die Knochen durchbrechen.Ihre Knöchel färbten
sich so weiß wie das Waschbecken,so krampfhaft hielt sie sich am Waschbecken fest,um nicht umzukippen.
 
Panik durchflutet Lea,schießt durch ihren ganzen Körper.Rennen,denkt Lea,kämpft ihre ganze träge Körpermasse durch die Flutwellen.Die Tür ist nur noch ein paar Millimeter von ihr entfernt.
Sie reißt diese auf,sieht nach rechts...
 
Lea hockte nun angelehnt an der Badewanne,die langsam und gleichmäßig einlief.Nein,hörte sie sich immer wieder schreien,nein!Immer wieder.
Auch nach einem Jahr konnte sie dieses schreckliche Erlebnis nicht vergessen,nie würde sie es vergessen können!
Ihr Freund hatte leblos in der Wanne gelegen,den Kopf unter Wasser,die eine Hand an die kühle Fliesenwand,die Andere über den Badewannenrand.Wie sein Vater,der sich vor zwei Jahren am gleichen Tag an der gleichen Stelle ermordet hatte.Kreidebleich hatte er in ihr Gesicht gestarrt.
Lea hatte ihn hochgezerrt,immer wieder:"Wach auf!",gefleht,immer wieder.
Doch er hatte nicht geantwortet.
Die ganze Nacht hindurch hatte Lea nur ein Wort geschrieen:Nein!Hoch,schrill,gebrochenen Herzens.
Am nächsten Morgen haben sie ihn dann abgeholt.Lea hatte damals am Fenster gestanden und den Wagen
die Straße hinunterfahren sehen.
 
Lea ging zum Fenster und öffnete es.Der Wind preschte ihr entgegen,Schneeflocken wirbelten ins Zimmer.
Tränen klebten auf ihrem Gesicht,verschmirrten ihr Make-up.Sie sah nach oben gen Himmel.Ein Stern
schaute auf sie hinunter.
"Warum?",fragte sie ihn tonlos,der Wind trug ihr verzweifeltes Wort in die Nacht.
Ihre frage blieb unbeantwortet... 
 
 

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