Germaine Adelt

Die Zauberin

           Als sie das Quietschen der Reifen hörte, wurde ihr klar, was es mit dem Begriff „unbewusste Reaktion“ auf sich hatte. Sie war auf die Bremse getreten, hatte sogar die Kupplung betätigt, ohne darüber nachdenken zu können. Erst jetzt, als ihr Denken wieder stattfand, sah sie durch die Windschutzscheibe in die weit aufgerissenen Augen eines Kindes. Und sie wusste, sie konnte nichts mehr tun. Sie wollte nicht mit ansehen müssen, wie das Leben des Jungen von ihrem Auto beendet werden würde, und so schloss sie die Augen, getragen von der Hoffnung, dass dies nur eine böse Halluzination sei.

            Als der Wagen endlich zum Stehen gekommen war, stand der Junge noch immer vor dem Auto und es schien, als hätte sie ihn tatsächlich um Zentimeter verfehlt. Nachdem sich ihre Starre endlich gelöst hatte, stieg sie mit zitternden Knien aus dem Auto, um sich zu überzeugen, dass es dem Kind gut ging. Dann überkam sie Wut auf diesen Jungen. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien und ihn lautstark gefragt, was er sich dabei gedacht hatte.

            Doch er starrte sie nur fragend an. Er war ganz blass. Selbst seine Lippen sahen blutleer aus. Schweigend nahm sie ihn in die Arme und genoss, mit Tränen in den Augen, das Gefühl, dass diesem Jungen nichts passiert war.

 

            Die ersten Schaulustigen sammelten sich um sie herum und tuschelten aufgeregt durcheinander. Jeder hatte etwas anderes gesehen und manch einer wandte sich enttäuscht ab, als klar war, dass es nichts weiter zu sehen gab als eine Frau, die mitten auf der Strasse ein Kind umarmte und sich durch nichts stören ließ.

            Ein Mann kam angelaufen und redete mit lauter Stimme auf sie ein. Sie beschloss ihn einfach zu ignorieren. Doch als der Junge in ihren Armen unmerklich zusammenzuckte, wurde ihr klar, dass sie früher oder später reagieren musste. Vermutlich war es der Vater, der sie nun zur Rechenschaft ziehen wollte. Dann fing er an, an dem Jungen zu zerren, als müsse er ihn aus ihren Fängen retten. Instinktiv umarmte sie den Jungen noch fester, um ihn zu schützen, und aus der Menschenmenge kamen die ersten Aufforderungen, der Mann solle seine schäbigen Finger von ihr lassen.

 

            Wie aus dem Nichts stand plötzlich ein Polizist in der Menge. Er war ein großer, kräftiger Mann und schon ein wenig älter. Er strahlte eine Präsenz aus, die ihr fast Angst machte. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie er ihr gleich alle ihre Vergehen aufzählen würde.

            Der andere Mann redete noch immer lautstark auf sie ein und hörte nicht auf, an dem Kind zu zerren. Der Junge schluchzte leise, so dass sie endgültig ihre Zurückhaltung verlor.

            „Schaffen Sie mir endlich diesen Typen vom Hals!“, raunte sie dem Polizisten zu, der nun fragend neben ihr stand. Im gleichen Moment hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen.    

            Wie kam sie dazu, der Staatsmacht vorzuschreiben, was sie zu tun hatte. Zu ihrer endlosen Liste der Vergehen, kam jetzt sicherlich noch das der Beamtenbeleidigung hinzu. Aber letztlich war es egal. Dem Jungen war nichts passiert und nur das zählte.

   Tatsächlich packte der Polizist, den noch immer tobenden Mann am Arm, um ihn von ihr wegzuziehen.

 

            „Bist du eine Zauberin?“, fragte der Junge leise.

            Sie musste lächeln und murmelte geheimnisvoll: „Vielleicht.“

            „Klar bist du eine Zauberin“, erklärte er mit einem Blick auf seinen Vater, der von anderen Polizisten zum Dienstwagen gebracht wurde.

            „Außerdem wäre ich jetzt bestimmt tot, wenn du nicht eine Zauberin wärst“, stellte er fest, „denn ich habe dein Auto vorher gar nicht gesehen.“

            „Na ja“, sie zögerte ein wenig, „ich komme aber nur einmal. Ab jetzt musst du vorsichtiger sein.“

            Der Junge nickte brav und murmelte: „Schade, du riechst so gut“

 

            „Was wollte der Mann von Ihrem Kind?“, fragte der Polizist besorgt.

            Sie schämte sich fast als sie antwortete: „Das ist nicht mein Kind.“

            „Wie bitte?!“ Die Augen des Polizisten funkelten böse.

            „Es ist“, versuchte sie zu erklären, „es war ... der Junge ist ganz plötzlich ... von der Seite ...“

            „Sie ist eine Zauberin“, sagte der Junge und sie stöhnte leise. Er meinte es sicherlich gut, brachte sie aber nun endgültig in Schwierigkeiten. Was musste die Polizei davon halten, wenn sie solche Geschichten verbreitete.

            „Ist sie das?“, fragte der Polizist gelangweilt.

            „Ja, ehrlich“, beharrte der Junge. „Sieh sie dir doch an.“

            Dann wandte er sich an sie: „Kannst du machen, dass ich meinen Papa wiederbekomme? Denn eigentlich ist er ganz lieb.“

            Der Polizist lächelte, setzte aber gleich wieder einen ernsten Blick auf, als der Junge ihn fragend ansah. „Wenn das so ist, bekommst du natürlich deinen Vater wieder.“

            Er winkte seinen Kollegen zu, die augenblicklich den Mann losließen. Der aber, noch beeindruckt von den Ereignissen, wie versteinert stehen blieb.

            „Den Bremsspuren entnehme ich, dass es knapp war“, bemerkte der Polizist leise.

            „Sie ahnen gar nicht wie knapp“, murmelte sie.

            Er grinste breit. „Was für ein Glück, dass Sie eine Zauberin sind.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.11.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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