Charlotte, die blaue Karotte.
Meiner Mutter Dorle fiel bis zu meinem Geburtstag im
Oktober 1949 um 17 Uhr 15, bis hin zu den letzten Preßwe-
hen kein Vorname für mich ein. An jeder Haarspitze hing
ein Schweißtrofen, als Mama sich aufbäumte wie ein Gaucho
beim Zureiten einer neuen Rinderherde. Sie schrie auf und in
diesem Moment brach Opas, vom Holzwurm beschlagnahmtes
Bett unter ihr zusammen.
Opa schickte Onkel Kalle los um Oma und die Hebamme zu holen.
Beide waren in der Turnhalle, wo sie bei den Theaterproben für
das Weihnachtsmärchen Rotkäppchen und der Wolf schweißgebadet
über eine provisorisch aufgebaute Bühne tobten. Dort wurden
sie von meiner 14 tägigen, verfrühten Ankunft dermaßen
überrascht, daß sie sofort in ihren Kostümen Richtung Gast-
stätte Südertor liefen, wo Mama in der 1. Etage in Zimmer 103
zwischen Plümos und Holzbohlen in den Wehen lag.
Auf dem Weg von der Turnhalle zur Gaststätte zogen sie
einen Rattenschwanz von Neugierigen hinter sich her, die
sich die neue Variante des Märchens nicht entgehen lassen
wollten.
Bei der dann folgenden Hausgeburt trug die Hebamme
einen Jägeranzug und hatte eine Flinte über der Schulter.
Oma war in einen Wolfspelz gekleidet und hatte in einem Sack
um den Bauch Baggersteine gebunden, so daß sie so schwanger
aussah wie Mama.
Opa und Onkel Kalle wurden vor die Tür gesetzt, wo
schon Papa mit einer Kiste Selbstgebranntem nach uraltem
Hausrezept auf dem Bordstein zwischen der Menge saß. Die
gesamte Nachbarschaft war zwischenzeitlich ebenfalls angetreten,
um ihm als Co-Gebärenden in der schwersten Stunde beizustehen.
Als die Flaschen geleert waren, wußte keiner der
Anwesenden mehr, wie er hieß und wo sein Zuhause war.
Noch wochenlang sollen sich fremde Leute bei uns am
Frühstückstisch ein Stelldichein gegeben haben.
Als ich Stunden später mit himmelblauen Augen, zwar dunkel-
blau angelaufen, aber mit wunderschönen karottenroten Haaren
aus Mama krabbelte, war Oma im Wolfspelz genauso durchge-
schwitzt wie Mama zwischen den Brettern und Kissen auf dem
Fußboden. Oma hielt Mamas Hand zurück, weil diese mir schon
während der Austrittsphase aus dem Gebärkanal einen
Butterlecker in den knallroten Haarflaum stecken wollte.
Es kann nun leider nicht mehr nachvollzogen werden, ob ich vor
Schmerzen schrie, oder vor Schreck, als ich die Riesenschleife sah.
Meine liebe zu Hunden aber beruht wohl darauf, daß ich gleich
nach der Geburt das Gesicht eines Wolfes in Gestalt meiner Oma
sah.
Auf die Frage der Hebamme, wie die Kleine denn nun heißen soll,
nuschelte Oma etwas in den Schafspelz, was niemand verstand, da
sie ihr Gebiß zwischenzeitlich in die Besteckschublade der Kommode
gelegt hatte. Oma deponierte das Gebiß immer dort, wenn sie sich auf
eine Sache konzentrieren mußte. Dann bekam sie nämlich ständig
Nießanfälle und hatte dabei schon 2 mal das Gebiß verloren.
Bei Doofmanns Taufe spuckte das Teil ins Taufbecken, als sie den
Täufling über dieses hielt.
Ein Gebiß blieb auf dem Baggersee. Oma hielt nur kurz das Paddel
unseres Ruderbootes, weil Opa einen Priem nachlegen wollte.
Als dann ein Schwan in den Paddel biß, nießte Oma ihm eine 32 zackige
Krone aufs Haupt, mit der er stolz davonschwamm.
Mama antwortete ebenfalls nicht. Sie begutachtete in diesem Moment
verzückt den großen Leberfleck auf meiner rechten Pobacke und verglich
ihn mit dem Muttermal an ihrem linken Ellenbogen.
Sie hat das Echtheitszertifikat, flüsterte sie und küßte meinen Hintern.
Da nahm die Hebamme einen Stempel. Dieser wurde damals jeder 2.
weiblichen Person standartmäßig nach der Geburt auf den Körper
gedrückt, wenn den Eltern nichts besseres einfiel.
Auf meiner rechten nackten Pobacke stand nun
in großen Lettern R E N A T E Punkt.
Oma Emma hatte inzwischen ihren Wolf in den Flur gelegt, wo er sofort
von Ping und Pong unseren Mischlingshunden zerrissen wurde.
Da es keinen weiteren Wolfpelz in Winsen gab, stiftete der Förster
Huhneknecht, um die Weihnachtsaufführung zu retten, eine Saudecke.
Das Märchen Rotkäppchen und das Wildschwein wurde ein voller Erfolg.
Oma badete mich und legte mich in ein kuscheliges Nest, das sie
Stubenwagen nannte. Ich sah auf einen Vorhang, wie im Kasperletheater.
Oma schon den Vorhang zur Seite und hob ein zappelndes Etwas über
den Rand des Stubenwagen. Mir wurde der 2. schwere Schock meines
gerade begonnenen Lebens zugesetzt, als ich Doofmann erblickte.
Diese Glatze mit Ohren kreischte los und schrie: das ist ja eine Ziege .
Oma setzte Doofmann auf den Holzfußboden, wo er vor Aufregung einen
lauten Furz ließ, mit Echo. `Das trommelte immer ganz laut.
Das mach er heute noch, wenn er sich aufregt. Oma nahm mich in meinem
himmelblauen Strampelanzug aus der Wiege und ich hörte sie sagen:
Aber das ist doch Charlotte, Charlotte die blaue Karotte.
Doofmann hörte auf zu furzen, sah mich mit großen Augen an und sagte:
Ne `ne Ziege, ne Ziege, ne Ziege.
Über Omas Lippen kam fortan aber bis zu ihrem Tod nie ein anderer
Name als Charlotte. Mit der Zeit wurde er von allen Familienmitgliedern
übernommen. Außer von meinem Bruder, für den hieß ich bis in alle
Ewigkeit Ziege.
Ich wurde erst bei meiner Eheschließung daran erinnert, daß mein Stempel
äh, Pardon mein Vorname Renate ist und ich keine Ziege bin. Seit dem Tage
meiner Eheschließung heiße ich nämlich Spiderly. Ich habe meinen Mann
stark in Verdacht, daß dieser Kosename darauf zurückzuführen ist, daß ich
einen dicken Körper und spindeldünne Arme habe.
Paul-Peter bestreitet dies. Aber ich setzte ihn auf meine Liste.
Mit Rückblick auf meine Kindheit muß ich nun feststellen, daß sich meine
Haarschleifen-Allergie wohl schon damals entwickelte, als meine Mutter
mir als Kleinkind mit einer Rosenzange jeden morgen einen doppelten
Scheitel zog, die Locken hochzog, in den Mund nahm um dann mit beiden
Händen einen riesigen Butterlecker an dem Zöpfchen zu befestigten.
Einen Butterlecker kennen alle weiblichen Personen meines Jahrgangs 1949.
Auf sämtlichen Gruppenfotos der damaligen Zeit haben Mädchen einen
Butterlecker auf dem Kopf, der größer ist als ein Propeller.
Ich frage mich noch heute, warum wir bei aufkommendem Wind nicht
aufgestiegen sind.
In meinem Zimmer hingen an einem alten Wanderstab sieben dieser Monstren.
Es ist schwer zu sagen, welchen ich am wenigsten mochte, sie verfolgten mich
bis in meine Träume und hüpften singend im Kreis um mein Bett, um sich
abzusprechen, wer am nächsten morgen meinen Kopf verunstalten würde.
Der nächste morgen kam leider wie jeden morgen. Mein 2 Jahre älterer Bruder
steckte seinen Kopf aus dem Federbett und murmelte: `Morgen Ziege`.
`Morgen Doofmann´ kam meine Antwort und ich fing mir postwendend wie
jeden morgen eine Ohrpfeige ein.
Mein Bruder stand auf der Liste meiner `Dinge die einem das Leben erschweren` an oberster Stelle. Eigentlich konnte er gar nicht soviel dafür. Aber da ich alle seine Klamotten auftragen mußte, selbst seine Schuhe, sah ich immer aus wie ein Junge mit Locken und Butterlecker im Haar. Blöder konnte man wirlich nicht aussehen. Seine Freunde brüllten immer vor Lachen, wenn sie mich sahen und ließen mich nie mitspielen. Meine Freundin Renate ( die hatte keine Oma und benutzte ihren Stempel ) wagte nicht zu lachen, sonst hätte ich nicht mehr mit ihr gespielt.
Nur Oma mochte mich so leiden wie ich war. Sie mochte mich eigentlich immer. Dem Vernehmen nach war ich frech, unausttehlich, ein ständiger Wutkopf und habe alle um mich herum geärgert. Oma nahm immer ihr Gebiß aus dem Mund, wenn ich es zu schlimm trieb und kniff mir damit in den Hintern, bis ich Ruhe gab.
Meine Oma hatte ich lieb, sie stand nicht auf meiner Liste.
Oma war auch immer da. Sie hat nie was verpetzt und nie geschimpft. Wenn ich meine Butterlecker in den Pipitopf geschmissen habe und darauf gepinkelt habe, hat Oma die Schleifen gewaschen, getrocknet und gebügelt. Sie hat die blöden Dinger dann wieder lachend an den Wanderstock gehängt und gesagt: Charlotte, Charlotte du blaue Karotte.
Mein Einwand: Aber ich mag sie doch nicht Oma, stieß auf taube Ohren!
Sie winkte immer ab und sagte:
Mußt gehn spielen Charlotte, geh auf Straße vor Tir, aber paß auf bei die Laster.
Meine Oma war nicht doof, sie stammte aus Ostpreußen.
Sie sprach das aus: astpreißen und Doofmann sagte immer zu ihr Oma astscheißen.
Wenn Mama das hörte gab es natürlich Mecker und ich freute mich. In diesen Momenten vergaß ich sogar in der Nase zu popeln, was ich eigentlich ständig tat und von meinem Onkel
Kalle geerbt haben soll. Onkel Kalle hat Nasenlöcher so groß wie Kaffeetassen. Das hat mich aber nie gestört an ihm, weil er mir immer bei seinen Besuchen Sahnebonbons gekocht hat.
Onkel Kalle war Schiffskoch und selten bei Oma zuhause. Ob die Matrosen von seiner Popelei wohl was wußten? Sie konnten ihn ja nicht über Bord werfen, dann wären sie verhungert.
Außerdem schmecken Popel nach garnichts, außer nach Popel.
Wer kennt nicht den alten Abzählreim:
Ene Mene Mopel, wer frißt Popel, Ene Mene Meck und Du bist weg.
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eine Anekdote aus meiner Kindheit, mit kleinen
Einlagen, die vielleicht ein wenig übertrieben wirken, sich aber in meiner Erinnerung so abgespielt haben.Renate Nottorf, Anmerkung zur Geschichte
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.11.2006.
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