Norbert Schimmelpfennig

Die Brennnesselfeiertage

 

  


Am Fuße eines Bergrückens stand eine Ansammlung von Einfamilienhäusern. Der Bergrücken wurde „Berg der verpassten Winde" genannt, weil die Wolken sich meistens an seiner weniger bewohnten Seite abregneten und die sich Winde abschwächten. Ein ausgedehntes Brennnesselfeld erstreckte sich zwischen ihm und den Häusern. Dort wurden am selben Tag Hermine und Veit geboren.
Der Vater des Jungen besaß eine große Fabrik, in der Computer hergestellt wurden. Als er die Firma gegründet hatte, hatte er ein Logo erdacht, welches deutlich sichtbar in Steinplatten an der Außenwand des Gebäudes angebracht war:
 
  Com
+ puter
= schlau.
 
Dieses Logo im Rücken, spielten die Kinder schon früh auf dem Spielplatz vor dem Brennnesselfeld. Die Straße daneben war gerade frisch geteert worden. Die beiden steckten ihre Finger in den Teer und bestrichen sich gegenseitig damit – nicht nur ihre blonden Haare, sondern auch sein hellblaues Hemd und ihr hellrotes Kleid. Ihre Eltern waren davon zwar wenig begeistert, ließen sich aber schließlich von den Kindern dazu überreden, diese Kleidungsstücke aufzubewahren. Und sei es nur deshalb, damit die Kinder die Schelte nicht vergaßen, die sie dafür erhalten hatten, dass sie sich, mit ihren eigenen Worten, „so schön gefärbt" hatten.
 
An einem Pfingstsonntag, als beide zehn Jahre alt waren, feierte ein viel älterer Vetter des Jungen seine Hochzeit, zu der er und Hermine eingeladen waren und beobachten konnten, wie viele Blumen vor dem Brautpaar auf den Boden gestreut wurden. Da sagte Veit zu Hermine:
„Und zu deiner Hochzeit werfe ich Brennnesseln auf den Weg!"
Sie erwiderte:
„Da ich nie heiraten werde, wirst du das nie zu machen brauchen!"
„Dann werde ich dich ordentlich färben, wenn du nie heiratest!"
„Ach, du ..."
 
Kurz nachdem beide ihren 18. Geburtstag gefeiert hatten und sich von den anstrengenden Feiern erholen mussten, lagen sie im Gras bei den Brennnesseln und genossen die Stille und die Landluft. Sie fragte ihn:
„Könntest du für mich strippen?   Dann sag ich dir einen schönen Spruch, der mir gerade so eingefallen ist;  über etwas, das ich gerne berühren würde!"
„Nein, sag ihn mir so!"
„Das werde ich nicht. Aber lass dir wenigstens den Mund zukleben! Wenn du dir das Klebeband wieder abziehst, ist das zumindest eine kleine Form von Striptease!"
Darauf ließ sich Veit mit einem Achselzucken ein. Auch darauf, dass sie erst einmal kurz auf das Klebeband tippte, als wäre es ein Schreibmaschinenband, bevor er es wieder abstreifen durfte. Nun verriet sie ihm ihren Spruch:
 
„Tippen
- strippen
= Lippen!"
 
Und diese seine Lippen berührte sie nun mit den ihren.
Nachdem sie eine ganze Weile so gelegen hatten, löste er seine Lippen von den ihren und meinte:
„Du, ich habe in diesem Monat noch zu wenig Geld ausgegeben; wollen wir also heute nicht noch etwas unternehmen?"
Da entgegnete sie:
„Ach, weißt du, heute habe ich keine Zeit mehr, vielleicht ein andermal!"   
Dann verabschiedete sie sich.
 
Wenig später war in der Nähe eine Party angesagt, und Hermine rief Veit an und fragte ihn:
„Gehst du mit mir dahin?“
Doch er erwiderte:
„Nein, ich habe momentan zu viel zu lernen. Beim nächsten Mal wieder!“
So ging Hermine schließlich alleine auf diese Party. Dort entdeckte sie den angehenden Verwaltungsbeamten Siegmar, der ihr irgendwie gefiel, mit seinen gut gekämmten, schwarzen Haaren und der großen, schlanken Gestalt.
Als die Party zu Ende war, gelang es ihr, Siegmar zu überreden, sie nach Hause zu begleiten. Da ihre Eltern gerade nicht da waren, lud sie ihn noch auf ein Gläschen zum Aufwärmen ein, woraus sogleich mehrere wurden. Er wollte nicht gehen und sie ihn nicht rausschmeißen. Im Gegenteil rückten sie immer näher zusammen;  und es ergab sich, dass Siegmar ihr beiläufig über den Kopf strich und dabei etwas murmelte. Da sprach sie zu ihm:
„Was nuschelst du da?  Wenn du es mir nicht deutlicher sagst - werfe ich dir einen Spruch an den Kopf, der mir soeben eingefallen ist!"
Er schwieg und sah sie nur an;  und schließlich erklärte sie ihm:
„Weißt du, was für ein Spruch zu dir passt?
 
Kuscheln
+ wuscheln
= nuscheln!"
 
In nächster Zeit ergab es sich, dass Veit immer mehr wie ein Süchtiger in der Fabrik seines Vaters arbeitete und studierte. Siegmar hingegen hatte wesentlich mehr Zeit – wie Hermine stets nach achtzehn Uhr und an den Wochenenden. So traf er sich immer häufiger mit ihr.
Ein paar Jahre später schließlich kündigten Hermine und Siegmar ihre Hochzeit an. Veit akzeptierte dies, ohne sich etwas anmerken zu lassen, und durfte als Gast aus nächster Nähe einem Einfall Hermines zusehen:
Und zwar sagte Hermine zu Siegmar vor der Zeremonie:
„Schließ deine Augen, zieh deinen Handschuh aus, und reiche mir die Drachenblume, die dir gleich jemand in die Hand drücken wird - und fasse sie sanft an!"
Dies tat er wie geheißen, während sie ihre Handschuhe anbehielt - und kurz danach brannte seine Hand. Als er die Augen wieder öffnen durfte, sah er, dass er ihr eine Brennnessel übergeben hatte! Sie eröffnete ihm nun:
„Wer mich besitzen will, muss zunächst einmal leiden!"
Und wer mich nicht besitzen kann, sowieso, dachte sie im Stillen. Jetzt wurde der Weg vor ihnen mit lauter Brennnesseln zugestreut.
 
25 Jahre später, als bereits zwei der vier Kinder Hermines und Siegmars in der Fabrik arbeiteten, die Veit schon seit langem leitete, feierten die beiden ihre Silberhochzeit. Hierzu schenkte Veit, der nie Zeit gehabt hatte, eine Familie zu gründen, den beiden eine in Silber gegossene Brennnessel. Da meinte Hermine lächelnd:
„Ich besitze immer noch das Kleid, das du mir damals mit Teer gefärbt hast;  du dein gefärbtes Hemd auch?"
Veit erwiderte:
„Ja, das nimmt immer noch einen Ehrenplatz in meinem Haus ein!"
 
Weitere fünfundzwanzig Jahre später schließlich konnten die zwei ihre goldene Hochzeit feiern;  und hierfür machte Veit ihnen ein goldenes Schmuckkästchen zum Geschenk, in welches Brennnesseln eingraviert waren. In dessen Innerem befand sich ein wie gekrakelt aussehender schwarzer Strich, genauso schwarz wie Teer. Wenn man ihn befühlte, merkte man allerdings, dass er aus schwarzen Edelsteinen zusammengesetzt war.
 
Wenige Wochen nach diesem Ereignis betrat Veit wie jeden Morgen seine Firma – anders als die meisten seiner Bekannten wollte er auch mit über siebzig noch nicht aufhören zu arbeiten.
Als er an seinen Schreibtisch trat, von dem aus er einen weiten Blick auf die Berge genoss, stürzte er jedoch um und schrammte dabei so unglücklich an einer Ecke des Tisches, dass eine Hand blutete. Mit der blutenden Hand fasste er sich ans Herz, bevor dieses Herz einen Moment später aussetzte, was ihm einen noch relativ schnellen Tod bescherte. Sein Hemd war danach blutig gefärbt.
Nachdem auch Hermine dies gesehen hatte, murmelte sie später vor sich hin:
„Wenigstens fällt mir da ein Spruch für seinen Grabstein ein, den er sicherlich gern gehabt hätte!"

Einem testamentarisch geäußerten Wunsch gemäß wurden auf Veits Grab nur Brennnesseln gepflanzt. Der Friedhof lag ebenfalls am Fuße des Berges der verpassten Winde, der so genannt wurde, weil sich meistens die Winde auf seiner anderen Seite abschwächten und die Wolken sich abregneten. Im Laufe der folgenden Wochen jedoch verhielt sich das Wetter nicht so, wie es dies im Durchschnitt zu tun pflegte, sondern bescherte viel Regen auf dieser Seite des Berges, wobei die Brennnesseln gut wachsen konnten. Schließlich war der Grabstein fertig und wurde aufgestellt;  und auf ihm stand auch Hermines Spruch geschrieben:
 
Bluten
+ sterben
= färben.
 
 
 
 
  

 

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