Germaine Adelt

Lesestunde

            Das Telefon klingelte unaufhörlich und sie fragte sich erneut, wer so ausdauernd sein konnte. Sie lag auf dem Sofa, eigentlich um Kafka zu lesen, und betrachtete das Telefon, das dann doch verstummte. Sie versuchte erst gar nicht, sich erneut mit Kafka zu beschäftigen. Es war eine Frage der Zeit, wann es wieder klingeln würde. Erfahrungssache. Und tatsächlich. Nachdem es fast so geschienen hatte, als hätte es kurz Luft geholt, klingelte es erneut. Sie sah kurz auf das Display, obwohl sie die Antwort schon ahnte. „Unbekannte Nummer.“

            Für einen Moment ärgerte sie sich, dass sie vergessen hatte, den Anrufbeantworter einzuschalten. So begrenzte sich das Klingeln wenigstens auf fünfmal und sie hatte zudem die Sicherheit, nicht doch noch einen wichtigen Anruf zu verpassen. Aber jetzt konnte sie vorerst nichts mehr unternehmen. Er, sofern es überhaupt ein Er war, hatte sich schon müde geklingelt. Noch ein oder zwei Mal und dann wäre vorläufig Ruhe. Auch Erfahrungssache. Diese Ruhe musste sie dann nutzen, um den Anrufbeantworter an und alles andere auf stumm zu schalten. Ihr Versuch, weiter im Buch zu lesen, scheiterte, da sie nun regelrecht darauf lauerte, aktiv werden zu können.

 

            Manchmal fragte sie sich, ob das Telefon tatsächlich klingelte oder ob sie es sich nur einbildete. So wie es Einbildung sein musste, dass jemand regelmäßig ihre Wohnung durchstöberte, wenn sie nicht da war. Es konnte nicht sein, da niemand einen Nachschlüssel hatte. Und trotzdem, die Kleinigkeiten die sie stutzen ließen: der Kellerschlüssel, der plötzlich am Schlüsselbrett gehangen hatte, die Kühlschranktür, die einmal nur angelehnt gewesen war.

            Und dieses Telefonklingeln, das nicht aufhörte, aber wie durch Zauberhand abbrach, wenn jemand in ihrer Wohnung war. Als Melanie sie letztes Wochenende besucht hatte, war schlagartig Ruhe eingekehrt. Bis zu dem Moment, als Melanie wieder die Wohnung verlassen hatte und außer Hörweite gewesen war.

            Der Antrag bei der Post hatte auch nichts ergeben. Sie sollte vorher ein Formular ausfüllen und darin angeben, wen sie verdächtigte. Wenn sie das wüsste, bräuchte sie die Post nicht. Sie ging ins Badezimmer, um sich ein heißes Bad einzulassen, vielleicht brachte sie das auf andere Gedanken.

 

            Brummend legte er den Hörer wieder auf. Sie hatte den Anrufbeantworter eingeschaltet. Es war an der Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Beim nächsten Mal würde er das Gerät funktionsuntüchtig machen. Zwar würde sie sich sofort ein neues besorgen, aber bis dahin würde ihm schon etwas einfallen. Immerhin musste er auf sie aufpassen. Zart und gutmütig wie sie war, konnte sie das alleine nicht. Und dazu gehört eben ein regelmäßiger Kontrollanruf, wenn sie sich in ihrer Wohnung befand.

            Es hatte ihm gar nicht gefallen, dass letztes Wochenende ihre Schwester zu Besuch gewesen war.  Zwei ganze Tage lang hatte er keine Kontrolle über sie gehabt. Aber sie hat sich wenigstens einmal ausgeschlafen. Sonst war immer bis nachts um eins Licht in ihrem Schlafzimmer. Kein Wunder, wenn sie diesen Kafka las. Gestern hatte er einmal in dem Buch geblättert. Das war nun doch nichts für sie. Dieser Tolstoi, der ging ja noch. Obwohl es bestimmt auch anstrengend für sie war, soviel zu lesen.

            Er sah zur Uhr, gleich fünf. Wenn sie es auch bemerkt hatte, dass sie keine Milch mehr im Kühlschrank hatte, würde sie jetzt gleich einkaufen gehen. Die Möglichkeit, den Anrufbeantworter zu kappen. Bei der Gelegenheit könnte er dann gleich diesen Kafka mitnehmen. Und wenn er sich beeilte, würde er ihr vielleicht noch im Treppenhaus begegnen. Sie hatte ein so bezauberndes Lächeln.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.11.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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