Nils Kawen

Endzeit - Kapitel 1



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Wir sind so gerne in der freien Natur, weil
diese keine Meinung über uns hat.


 
Irgendein sehr intelligenter
Mensch hatte das irgendwann einmal in irgendein Buch geschrieben. Marek wusste
nicht im Geringsten wer das geschrieben hatte oder welches Buch das war, aber
diesen Spruch kannte er.
  Er
hatte ein paar intakte Seiten dieses Buches in einer Ruine in einer verlassenen
Stadt gefunden und mitgenommen. Der Einband des Buches war herausgerissen
worden und die meisten Seiten, die dem Einband nicht gefolgt waren, waren zu
verdreckt, um sie zu lesen. Trotzdem hatte Marek das Buch mitgenommen und las
gerne darin. Es war sein einziger Besitz, abgesehen von seiner Kleidung, seinen
Waffen und einem kleinen silbernen Anhänger an einer Kette. Besitz zählte jetzt
auch nicht mehr viel. Wer viel besaß hatte viel zu verteidigen gegen Diebe und
räuberische Banden. Im Umkehrschluss war das Leben einfacher, wenn man wenig
hatte und das auch zeigte. Angeblich war es in der Vergangenheit von Vorteil
gewesen, viel zu haben. Das musste aber schon vor Mareks Geburt gewesen sein. Er
konnte sich gar nicht daran erinnern, dass es einmal anders gewesen war. Konnte
aber auch sein, dass Alkohol und Rauschgifte so ihre Wirkung zeigten.
 Die Vergangenheit war so oder so für Marek
persönlich uninteressant. Wenn es irgendwann einmal anders war als jetzt, dann
hatte er jetzt auch nichts davon, schon gar nicht weil er von dieser Situation
profitierte. Das Gebiet, in dem er sich nun schon ein paar Jahre aufhielt, lag
zwischen Mexiko-Stadt und Sahagún. Diese beiden Städte lagen in Krieg
miteinander, das Gebiet zwischen ihnen war Grenzgebiet, das immer heiß umkämpft
wurde. Das ein oder andere Kaff lag hier, sonst nur Wüste. Aber im Krieg hatte
es nie darum gezählt, ob das gegenseitige Abschlachten Sinn machte, sondern nur
das Abschlachten an sich. Marek fragte sich, ob der sehr intelligente Mensch
etwas über den Krieg in sein Buch geschrieben hatte.
  In der
Vergangenheit sollten die Städte einmal etwas anderes gewesen sein, als ein
paar Bruchbuden, die nahe zusammenstanden, und in Mexiko-Stadt und Sahagún
sollte es tatsächlich einmal wirklich lebenswert gewesen sein. Das sagten die
grauhaarigen Alten, die glaubten man hätte nichts Besseres zu tun, als sich
ihre Geschichten anzuhören. Genau gesehen hatte Marek nichts Besseres zu tun,
da er gar nichts zu tun hatte. Er konnte einfach in den Tag hinein leben, wie
jeder, der es schafft sich den Umständen anzupassen. Aber das machte die
Geschichten der Alten nicht interessanter. Andere Alte wiederum erzählten diese
Gegend sei schon immer ein Dreckloch gewesen und habe schon immer Kriminelle
und Revolverhelden wie magisch angezogen. Schon seit mehr als zweihundert
Jahren. Aber die Vergangenheit interessierte Marek nicht näher als der Dreck unter
seinen Schuhsohlen.
  Auch
Marek war gerne in der freien Natur. Es wimmelte zwar von Ungeziefer, von dem
einige so groß werden konnten, dass es schwer wurde sie mit den Schuhen zu
zertreten. Da half nur ein gezielter Schuss, dass das Vieh auseinander flog und
in ekelhaften Fetzen auf der Erde lag. Das Geschmeiß, das nicht giftig war,
konnte man auch in aller Ruhe ignorieren, aber es machte Spaß die ahnungslosen
Skorpione, Ratten, Füchse und Schlangen abzuknallen.
  Menschliches
Ungeziefer gab es hier auch, in Form von Banden, die die Bewohner der kleinen
Dörfer zwischen den großen Städten terrorisierten. Die meisten Dörfer lagen
deswegen in der Nähe der großen Städte Mexiko-Stadt und Sahagún, die sie mit
ihren Soldaten beschützten. Gegen eine kleine Abgabe versteht sich. Meist waren
die Soldaten auch nicht besser als die Banditen. Beide Gruppen nahmen sich von
den Dorfbewohnern, was sie wollten. Alleine in dieser Gegend zu wohnen oder
sich nach Einbruch der Dunkelheit in der Wüste aufzuhalten war gefährlich. Allerdings
nur für die, die sich nicht zu verteidigen wussten. Wenn einer dieser Trottel
dachte in Marek ein einfaches Opfer gefunden zu haben, weil er allein war,
hatte der Trottel bald ein Loch im Kopf.
 Er befand sich jetzt ziemlich genau in der Mitte zwischen den großen
Städten. Hier gab es eigentlich nichts außer ein paar Händlern, die die Banden
mit Waffen und Nahrung ausrüsteten, und deswegen von ihnen nicht angetastet
wurden. Meistens zumindest. Irgendwo in der Gegend gab es auch noch eine Stadt,
die größer war als die üblichen Dörfer.
 Otumba de Gómez Farias von den Einwohnern La Otumba Roja genannt. In La
Otumba Roja gab es mehr Bordelle als andere Häuser. Die Banden besuchten diese
Stadt nur zu gerne, um ihre Libido auszutoben. Auch Marek war ein gern
gesehener Gast in den Freudenhäusern der Stadt. Als er gerade an La Otumba Roja
dachte, kam ihm in den Sinn, der Stadt mal wieder einen Besuch abzustatten. Aber
im Moment war er noch auf dem Weg zu einem der Händler. Hinter der nächsten
Düne war der Laden, der zugleich auch Wohnstätte war. Im Gegensatz zum Rest der
Leute wohnten die Händler nicht in Bretterbuden, die beim ersten starken Wind
in sich zusammenfielen, sondern in soliden Häusern, weil sie einen Schutz gegen
die Tiere brauchten. Es gab nichts widerwärtigeres, als Aufzuwachen und einen
Skorpion von der Größe eines Stiefels auf dem Gesicht vorzufinden. Darum hatte
sich Marek sehr schnell einen breitkrempigen Hut besorgt, den er sich auf das
Gesicht drückte, wenn er im Freien schlief.
 Auf der Düne stehend sah Marek nach dem Nachtmarsch durch den eintönigen
Wüstensand endlich mal was Neues im Mondlicht. Vor dem Laden standen vier
Motorräder. Das war an sich nicht weiter verwunderlich, denn viele Banden
benutzten Motorräder. Doch neben den Motorrädern lag der Händler und neben dem
Händler lag seine Familie, eine Frau und zwei Söhne. Zwei Männer in
Lederjacken, nicht älter als zwanzig Jahre, bearbeiteten alle vier mit Tritten
und ihren primitiven Waffen. Der Eine benutzte ein Eisenrohr, der Andere eine
Eisenkette. Marek ging an ihnen vorbei in den Laden und sah nur einmal flüchtig
hin. Was auch immer diese Idioten dazu veranlasste, einen Händler anzugreifen,
ihm war es egal. Dreck unter seinen Schuhsohlen oder die Banditen, er sah
keinen Unterschied.
 „Hilf uns“, brachte der Händler unter einem Stöhnen hervor. Er war über
Vierzig, leicht untersetzt und hatte eine Halbglatze.
  „Hilf dir selbst“, antwortete Marek. „Ich bin
doch nicht die Heilsarmee.“
 Mit diesen Worten betrat Marek den Laden und sah Lederjacke Nummer Drei
und Vier an der Theke sich bedienen. Drei war ein bisschen jünger als die
Anderen, Vier hatte seine Jacke mit Nieten und Stacheln verziert.
 „Ey! Warte“, rief ihm der Typ mit der Kette hinterher. Marek ignorierte
ihn und steuerte zielgerichtet das Regal neben der Theke an. In diesem Regal
lag die Munition. Normalerweise wurde man vom Händler hinter der Theke scharf
beobachtet und nur ein kleines Zucken brachte den paranoiden Mann dazu, einen
Kunden als Ladendieb zu verdächtigen und seine Flinte unter der Theke
hervorzuholen. Aber der Händler lag jetzt vor der Tür, was Marek zugute kam,
denn er hatte gar kein Geld. Jetzt aber konnte er einfach die Munition aus dem
Regal nehmen und wieder verschwinden. Er fand nur zwei Magazine seines
Kalibers. Innerlich fluchte er. Er hatte nur noch drei Schuss in seiner Waffe
und zwei Magazine waren wirklich wenig. Aber bis La Otumba Roja sollte es
reichen.
 Da er nichts bezahlen musste, nahm er sich auch noch ein bisschen
Fleisch aus einem Regal an der Seite. Es war Rattenfleisch von diesen
hundgroßen Wüstenratten, dem Geruch nach, aber es war ganz genießbar. Vor allem,
wenn man wusste, wie man die Biester jagen und erlegen musste. Der Händler
wusste dies anscheinend, Marek nicht. Wenn Marek ein Tier erschoss, war danach
kaum noch etwas dran, das man hätte essen können. Vermutlich musste man
kleinkalibrige Waffen benutzen, anstatt dieser Haubitzen, die Marek unter
seiner Kleidung versteckte.
 Wohl wissend, dass die Halbstarken ihn beobachteten, ging Marek ein
Regal weiter, in dem volle Flaschen standen. Der Schnaps dieses Ladens war nur
billiger Fusel, aber das Wasser war sauber. Er nahm sich drei Flaschen und
drehte sich zur Ladenmitte um. Dort standen die Halbstarken und funkelten ihn
an. Sie versuchten wohl möglichst bedrohlich auszusehen. Die Niete mit den
Nieten war wohl ihr Anführer. Jedenfalls bauten sich die Anderen hinter ihm auf
und er war auch derjenige, der das Wort ergriff: „Wer hat dir erlaubt, die
Sachen zu nehmen?“
 „Stört doch Niemanden“, antwortete Marek.
 „Mich stört es“, keifte der
Anführer und betonte das Wort Mich,
um keinen Zweifel daran zu lassen, dass er hier das Sagen hatte.
  „Und du bist ein Niemand.“
Ein Kampf war schon vorher
unausweichlich gewesen, nun hatten die Typen aber wenigstens einen Grund ihn
anzugreifen. Beim Gedanken an das Blutbad, das er gleich anrichten würde,
musste Marek grinsen. Einen von ihnen würde er wohl am Leben lassen. Nicht weil
er dem menschlichen Leben irgendeinen Wert zusprach, sondern, weil er nur noch
drei Kugeln im Magazin seiner Waffe hatte.
 „Du bist ja ein ganz Harter“, sagte der Anführer verächtlich. Seine
Kumpane lachten. Marek hatte keine Ahnung warum jede Bande von Jugendlichen die
gleichen Sprüche benutzte. Das war doch langweilig! Wenn er es sich recht
überlegte, sollte er doch lieber keinen von ihnen am Leben lassen. Soviel
Kreativlosigkeit musste einfach von der Erde verschwinden.
 Der Tanz begann. Eisenrohr und Kette schwärmten aus, sodass die Bande
nun in einem Halbkreis um ihn herum stand, der Jüngste zog ein Messer. Blitzschnell
hatte Marek plötzlich seine Pistole in der Hand und hielt sie Kette, der am
Nächsten stand vor die Nase. Egal wie hart und wie eiskalt ein Mensch auch war,
wenn man ihm eine Desert Eagle vors Gesicht hielt reagierte er immer gleich: er
reißt die Augen auf, danach den Mund und stolpert einen Schritt rückwärts. Auch
der mutigste Gesetzlose macht sich plötzlich vor Angst fast in die Hose. Der
Effekt wurde noch verstärkt, wenn der Besitzer der Desert Eagle breit grinste,
als wäre er nicht ganz bei Trost. Das traf auf Marek beides zu, was er bei
jeder Gelegenheit bereitwillig zugab.
 Auch Kette stolperte rückwärts. Das nutzte ihm aber gar nichts. Marek
drückte ab und jagte ein Projektil durch Kettes Haupt, das in sehr ekliger
Weise am Hinterkopf wieder austrat. Bevor Kette zu Boden ging, fuhr Marek herum
und entledigte sich der beiden anderen, Messer und Eisenrohr, auf dieselbe
Weise. Nur der Anführer stand noch und umklammerte einen Holzknüppel, auf dem
das Wort Baseball geschrieben stand.
Er schwitzte stark und zitterte.
  „Na, mein Freund“, fragte Marek, „willst du
dich dazu gesellen?“
 „Du… du“, brachte der Typ unter Keuchen hervor.
 „Ich, ich was?“
 „Du hast keine Munition mehr.“
 „Woher willst du das wissen“, sagte Marek grinsend und zielte auf den
Kopf seines Gegners.
  „Du bluffst, du hättest mich auch erschossen,
wenn du könntest.“
 „Fang“, rief Marek ihm zu und bewarf den Anführer mit der Waffe. Verdutzt
fing dieser die Pistole auf und gab Marek so die Zeit, die er brauchte, um
hinter die Theke zu greifen und das Gewehr hervorzuholen. Da er ohne Hinzusehen
griff, bekam er nicht den Griff, sondern den Lauf zu fassen, also rammte er dem
Anführer, der mit erhobenem Schläger auf ihn zustürmte, den Kolben in den
Bauch. Danach verpasste er ihm einen Hieb gegen das Kinn, der ihn zu Boden
warf.
 „Du hättest weglaufen sollen“, sagte Marek, als er ihm den Lauf auf die
Brust setzte. „Dann hätte ich dir nur in den Rücken geschossen.“
 Das war das Letzte, was der Anführer in seinem Leben hörte. War wohl eh
nur ein unerfülltes Leben gewesen. Auf jeden Fall kein besonders Nützliches.
Marek las seine Pistole auf, die während des Kampfes zu Boden gefallen war. Hoffentlich
hatte sie keinen Kratzer abbekommen. Er mochte sie wirklich. Sie gehörte zu den
wenigen Dingen, die ihm mehr waren, als nur der Dreck unter seinen Schuhsohlen.
  Er sah
sich die Leiche des Halbstarken noch einmal an und entdeckte eine Sonnenbrille
in der Jackentasche des Anführers. Schicke
Brille, dachte er sich und setzte sie sich auf die Nase. Sie passte
wirklich gut zu dem langen, schwarzen Mantel, den er Tag und Nacht trug.
 Als er wieder ins Freie trat, blickte ihn der Händler mit offenen Augen
an, unschlüssig ob er Marek danken sollte oder nicht. Marek ignorierte ihn
wieder und bestieg eines der Motorräder. Eine Harley Davidson. Auf den
Benzintank hatte jemand den Kopf eines Adlers gemalt, darunter eine Flagge. Weiße
Sterne auf blauem Grund und weiße und rote Streifen. Er hatte keine Ahnung was
das bedeutete. Es war ihm aber auch egal. Mit der Maschine konnte er La Otumba
Roja noch vor Morgengrauen erreichen, das interessierte ihn im Moment, der Rest
erinnerte ihn zu sehr an seine Schuhsohlen. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.11.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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