Thorsten Sadecki

Der Beobachter am Fenster

Es regnete. Dicke Tropfen rannen am Glas der Fensterscheibe hinab, die mit Schmutzflecken übersät war. Die Welt dahinter war nur in kleinen Ausschnitten sichtbar, durch den heftigen Regen sogar nur verschwommen. Man konnte Teile einer Wiese erblicken, den Ansatz eines Waldes und die kleine, ausgebrannte Ruine einer Kapelle. Es war, als würde man in eine andere Welt hinübersehen, eine Welt, in der alle Dinge unscharf waren und jede Bewegung zusammenhanglos wirkte, was durch die unvollständige Sicht noch unterstrichen wurde. Wenn man sich darauf einließ, vermochte die eigene Fantasie die erstaunlichsten Bilder und Gesichter aus dem Treiben jenseits des Glases hervor zu zaubern.
Doch jener, dessen Stirn an der kalten Scheibe ruhte und der dem gleichmäßigen Trommeln der Regentropfen lauschte, hatte keinen Blick für die Schönheit des Momentes, obwohl er durchaus einer der wenigen war, die dazu in der Lage waren. Der Fokus seiner Gedanken lag viel weniger in der Gegenwart als...nun, eigentlich lag er nirgendwo, denn die Dinge, die ihm durch den Kopf schossen, kamen eher wild und ungeordnet in sein geistiges Blickfeld, umschwirrten ihn wie Fliegen und verschwanden dann wieder. Mal waren es Erinnerungen, mal waren es Wünsche, dann wieder nur unzusammenhängendes Gestammel von der Stimme in seinem Kopf. Irgendwie war er nicht in der Lage, die auf ihn eindringenden Bilder zu ordnen und die ihnen enthaltenen Informationen aufzunehmen. Es war, als liefe in seinem Innern ein Film, chaotisch und ohne jede Handlung.
Er saß auf einem sehr wacklig aussehenden und in die Jahre gekommenen einfachen Lehnstuhl aus dunklem Holz vor dem einzigen Fenster des Raumes, hatte den Kopf gegen die Scheibe gelehnt und starrte teilnahmslos in eine Richtung. Seinem Körper war kalt, doch seltsamerweise spürte er es nicht. Ebensowenig wie die Spinne, die über sein Gesicht, seine Schulter und schließlich über seinen nackten Oberkörper krabbelte. Er fühlte und wusste überhaupt nichts. Nicht einmal seinen Namen. Es war, als wäre nur Leere in ihm, in der die Rufe seiner Gedanken ungehört verhallten. Lediglich eines wusste, oder besser, vermutete er: etwas war geschehen. Es musste etwas so unfassbares, etwas so grauenhaftes und unvorstellbares sein, dass es ihm schlichtweg unmöglich war es zu verarbeiten oder auch nur zu erfassen. Nur was?
Plötzlich hob sich sein Blick. Anstatt auf das Fensterbord, starrte er nun durch die sauberen Teile des Glases nach draußen. Etwas hatte sich verändert. In den gleichmäßig trommelnden Rhythmus des Regens hatte sich ein neuer Klang gemischt. Es hörte sich an wie Schritte, ein dumpfes Geräusch, dem ein zweites direkt hinterher folgte, dann eine kurze Pause, dann wieder dieses Klangpaar. Seltsamerweise vermochte sein umnebelter Verstand das Geheimnis dahinter sofort zu erfassen. Jener, der dort kam humpelte.
Er starrte weiterhin nach draußen und wartete, ob jemand in sein Blickfeld trat. Und tatsächlich, hinter den Resten der zerstörten Kapelle kam eine Gestalt zum Vorschein. Ihre Konturen waren verschwommen, doch sie schien einen langen, schwarzen Mantel zu tragen und einen dazu passenden Hut mit breiter Krempe. Sie bewegte sich auf das Haus zu, in dem sein stiller Beobachter am Fenster saß. Wenige Meter davor blieb sie stehen, schien sich kurz umzusehen und wandte sich schließlich nach links, der Haustür zu. Mit einem Mal erfasste ihn Angst, panische Angst. Er konnte sich nicht erklären warum er sich fürchtete, er wusste nur, dass, sollte diese Gestalt das Haus betreten, etwas furchtbares geschehen würde.
Es klopfte. Einmal, dann zweimal. Er rührte sich nicht, er konnte es nicht. Sein Körper schien sich in einer Art Stupor zu befinden. Wieder klopfte es, diesmal energischer. Schließlich schaffte er es, den Kopf zu drehen, so langsam, dass er es fast nicht bemerkte und, von Grauen erfüllt, zur Tür hin zu sehen. Just in diesem Moment schwang sie auf und ließ die Welt von draußen und ihre Bewohner herein. Ein kalter Windstoß fuhr durch das Zimmer, ließ die Fensterläden klappern und jagte eine Gänsehaut über seinen Körper. Im Türrahmen stand jene Gestalt, hoch aufragend, dunkel gekleidet und den Hut tief ins Gesicht gezogen, sodass selbiges nicht sichtbar war. Der Regen hatte ihre Kleidung durchnässt und der Mantel hing schwer an ihr herab. Ein seltsamer Geruch ging von ihr aus, der schwach in seine Nase drang und Bilder von verbranntem Fleisch in ihm heraufbeschworen. Der Grund dafür war offensichtlich: das rechte Bein dieser Schattenfigur war am Oberschenkel schwarz und verbrannt, die Hose zerrissen und mit Brandlöchern übersät.
Er konnte ihr leises, rasselndes Atmen hören. Die Gestalt musste Schmerzen haben und erschöpft sein. Vielleicht war sie ein Wanderer, der Schutz vor dem heftigen Regen und der Kälte gesucht und dabei auf dieses Haus gestoßen war. Nur woher stammte die Brandverletzung? War sie vor einem Feuer geflohen, wurde sie angegriffen oder handelte es sich lediglich um einen Unfall? Er spürte, wie der Anblick dieser Wunde an etwas in seinem Gedächtnis zerrte und unerklärliche Emotionen in ihm auslöste. Und so sehr er es auch versuchte, er konnte die Augen nicht abwenden. Ein Teil von ihm wusste instinktiv, dass dieses zerstörte Fleisch etwas mit ihm zu tun hatte, ihn sogar direkt betraf. Seine Angst steigerte sich dabei noch. Was auch immer diese Gestalt hier zu finden hoffte, er wollte es nicht wissen, nichts damit zu tun haben.
Schließlich hob er den Blick und sah der Erscheinung ins Gesicht. Oder zumindest dorthin, wo so etwas hätte sein sollen. Denn zwischen Hut und Mantelkragen existierte nichts als Schwärze und Schatten, die wiederum ihm zugewandt waren. Einige Momente lang geschah nichts weiter, als dass sich die beiden gegenseitig musterten. Dann bewegte sich die Gestalt und machte einige langsame Schritte in seine Richtung, verharrte zwei Meter vor ihm und setzte zum Sprechen an. Die Stimme, die im Raum erklang, hatte einen merkwürdig vertrauten Ton, wie ein Lied, das man nach vielen Jahren wieder hörte und von dem man wusste, dass es einmal ein Teil von einem war.
"Ich bin gekommen um es zu Ende zu bringen."
Die Worte hingen einige Sekunden in der Luft und schienen sich durch dicken Sirup zu seinen Ohren durch zu kämpfen. Er versuchte seine Zunge zu bewegen, um eine Antwort zu formen, was ihm schließlich mühevoll gelang. Er hatte seine Stimme schon lange nicht mehr benutzt, sie klang heiser und die Worte kamen schwerfällig.
"Was...zu Ende...bringen?"
"Die Qual...und das was geschehen ist.", erwiderte die Gestalt.
"Was...ist denn...geschehen?", fragte er.
Daraufhin verstummte sein Gegenüber. Sie schien verwirrt ob dieser Worte, was sich durch ein leichtes Schieflegen des Kopfes bemerkbar machte.
"Du...du hast es vergessen?"
"Was...vergessen?"
Nun war auch er verwirrt und die Panik regte sich wieder, denn er wusste, dass die Antwort darauf zu schwer war, um sie zu ertragen. Schon bereute er, überhaupt gefragt zu haben und wollte sich wieder abwenden. Da zuckte die Gestalt auf einmal heftig zusammen und streckte den Arm nach ihm aus.
"Nein! Tu das nicht! Verschließe nicht deine Augen vor der Wahrheit! So hat doch alles erst angefangen!"
Er wollte es nicht hören. Er wollte gar nichts hören. Sein Blick galt wieder dem Fenster und der verregneten Landschaft draußen. Warum ging dieser Fremde nicht einfach und ließ ihn in Ruhe? Sie hatten nichts miteinander zu tun!
Eben jener schien das aber nicht so zu sehen. Die Gestalt kam wieder auf ihn zu, blieb direkt hinter ihm stehen und beugte sich vor.
"Erinnere dich." , flüsterte sie ihm zu, "Erinnere dich an an das, was geschehen ist. Sieh!"
Er sah den ausgestreckten Arm im Spiegelbild der Fensterscheibe, welcher auf den Boden hinter den beiden deutete. Und obwohl er sich mit aller Macht dagegen sträubte, drehte er langsam den Kopf und blickte mit vor Angst weit aufgerissenen Augen in die angegebene Richtung. Und was er dort sah, ließ sein Innerstes endgültig zu Eis gefrieren.
Es war der tote Körper einer jungen Frau mit schulterlangem, blondem Haar, der mit verrenkten Gliedern am Boden lag. Ihre Kleider waren zerrissen und anscheinend hatte ein Feuer ihre Beine vollkommen zerstört, denn sie waren schwarz und verkohlt, nicht ein Flecken Haut war zu erkennen. Überhaupt war jener Leib dort mit allerlei Stich- und Schnittverletzungen versehen. Sie musste große Schmerzen gefühlt haben, bevor sie starb und der Tod ihr die ewige Erlösung schenkte. Es gab nur eine einzige Stelle an ihr, die unverletzt schien. Ihr Gesicht war zwar bleich und regungslos, dafür allerdings bar jeder Wunde. Sie musste einmal eine sehr große Schönheit besessen haben, denn selbst ihr Ableben vermochte die edlen Züge nicht aus ihrem Gesicht zu verbannen.
Sekundenlang starrte er bebend und zitternd die Leiche an. Er kannte diese Person! Aber...aber das konnte nicht sein! Es war unmöglich! Sie konnte nicht tot sein!
Seine Emotionen mussten sich auf seinem Gesicht gespiegelt haben, denn die Gestalt legte eine handschuhbewehrte Hand auf seine Schulter und sprach:
"Sie ist es wirklich. Jene die...du...geliebt hast. Erinnere dich! Erinnere dich an ihren Tod!"
Die Stimme drang eindringlich in sein Ohr, doch er schmetterte sie von sich und sprang auf. Mit den Händen über den Ohren, das Gesicht zu einer Grimasse verzerrt, torkelte er vom Fenster weg und stieß gegen die Wand. Auf seinen Lippen lag ein stummer Schrei und die Augen rollten wild in ihren Höhlen. Die Gestalt trat wieder zu ihm und packte ihn nun grob an den Armen, um ihn umzudrehen. Er wehrte sich. Niemals wieder würde er ihr gestatten, ihm diesen schrecklichen Anblick vorzuführen. Sie konnte es nicht sein! Wer auch immer dort leblos am Boden lag, es war nicht Katharina! Niemals!!
"Sieh! Sieh was mit dir geschehen ist, was mit uns geschehen ist!" , rief die Gestalt und zwang ihn, den Blick nach unten zu richten. Zuerst wehrte er sich noch vehement, doch als er schließlich auf sein rechtes Bein hinuntersah, erstarrte er. Mit weit aufgerissenen Augen erblickte er eine große Brandwunde am Oberschenkel. Die Hose war an der Stelle zerrissen und mit Brandlöchern übersät.
Langsam, so langsam, dass es viele Augenblicke dauerte, schaute er auf die Verletzung der Schattengestalt. Und was er dort sah, bestätigte seine schlimmste Befürchtung. Ihre Wunden sahen sich nicht nur ähnlich, es waren ein und dieselben!
Und während er noch fassungslos den Blick zwischen zerstörtem Fleisch hin und her wandern ließ, ertönte wieder die flüsternde Stimme der Gestalt.
"Dies ist unser Mal. Unsere gestalt gewordene Erinnerung. Erinnere dich! Du musst es akzeptieren!"
Er taumelte. In seinem Kopf drehte sich alles. Bilder und Emotionen stürzten auf ihn ein und bombardierten ihn mit ihrer Wahrheit. Doch dieses Mal konnte er sie auch deuten, in sich aufnehmen und verarbeiten.
Er sah Feuer. Überall Feuer. Und Menschen, die durch die Flammen schritten. Sie hielten lange, glänzende Stäbe in ihren Händen, an deren Enden Eisendornen saßen. Aus ihren Rücken wuchsen riesige, matt glänzende Flügel mit scharfen Kanten. Er konnte ihre Blicke spüren, wie sie durch das Inferno schweiften und Überlebende suchten. Fanden sie jemanden, stachen sie so lange auf ihn ein, bis Feuer und Stahl die Seele aus dem Diesseits verbannt hatte. Und dann fiel ihr brennender Blick auf ihn und Katharina. Sie versuchten zu fliehen, doch diese Häscher des Flammentodes sprangen hinter ihnen her und verfolgten sie, verfolgten sie bis zu jenem Haus. Sie brachen durch die Tür und warfen sie hinter sich ins Schloss, doch es nützte nichts. Sie kamen herein und...
Er blickte auf ihren toten Körper. So lange schon...so lange schon saß er hier am Fenster und konnte es nicht akzeptieren, dass sie starb. Seit jenem Tage in der Flammenhölle verdammte er sich selbst, weil er unfähig gewesen war, sie zu retten. Er ging hin zu ihr und fiel neben ihr auf die Knie. Aus seinen Augen fielen in rascher Folge salzige Tränen, während er sie betrachtete. Seine Hand hob sich und strich ihr sachte über die Wange.
"Katharina..." , kam es leise aus ihm hervor.
Dann beugte er sich über sie und schloss sie in die Arme. Einige Momente saßen sie so da, dann begann ein sanftes Licht die beiden zu umspielen. Es wurde stärker und stärker, bis es ihre Konturen verschwimmen ließ und nichts als Helligkeit zu sehen war, die den Raum bis in den letzten Winkel erfüllte. Und schließlich, mit einem Schlag, verebbte das Licht und ließ nur Schatten zurück.
Die beiden waren verschwunden.
Es dauerte lange, bis die Gestalt im schwarzen Mantel sich wieder bewegte. Sie hatte die ganze Zeit nur auf die Stelle am Boden gestarrt, an der alles begonnen und alles geendet hatte. Ein leises Lächeln lag auf ihren Zügen. Endlich war der jahrelange Alptraum vorüber. Seitdem Katharina gestorben und ihre Mörder ihr Zeichen an ihm hinterlassen hatten um ihn zu quälen, war er rast- und ziellos durchs Land gewandert und hatte versucht, alles zu vergessen und in sich zu begraben. Doch egal, wohin er sich auch wandte, von jeder Ecke sah ihm ihr Gesicht entgegen, schallte ihre Stimme in seinem Ohr, lag ihre Berührung auf seiner Haut. Erst vor kurzem war es ihm klar geworden. Wenn er die Vergangenheit vergessen wollte, musste er sich ihr zuerst stellen. Und so war er hierher zurückgekehrt. Hier hatte er den Beobachter am Fenster getroffen. Seine eigene, Fleisch gewordene Unfähigkeit, ihren Tod zu akzeptieren. Und mit seinem Verschwinden war auch die Wunde auf seiner Seele verheilt.
Nach langer Zeit wandte er sich ab, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Der Regen hatte aufgehört.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.12.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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