Gunther Hoffmann

Unser tägliches Brot

Der Name des Dorfes, in dem die Geschichte angesiedelt ist, und die Namen der handelnden Personen sind geändert worden. Zum Dorf wird verraten, um den in der wörtlichen Rede angedeuteten Dialekt zu erklären: Es liegt zwischen dem Fläming und der Dübener Heide. 
 
 
Das Ereignis, von dem ich erzählen möchte, vollzog sich in der Geschichte des Dorfes Grodies in seinen Grundlinien wiederholt. Es folgte jeweils dem Aufbau eines klassischen Theaterstücks in drei Akten.

 
Im ersten Akt wird das Publikum, als das ihr euch verstehen sollt, zunächst in die Bühnenhandlung eingeführt, zumeist in deren Ausgangssituation. Erschütterndes muss sich noch nicht abspielen in jenem ersten Teil des Dramas. Werfen wir also einen Blick auf die Situation, wie sie sich vor dem Beginn des eigentlich dramatischen Geschehens auf der Grodieser Lebensbühne an einem Tage anfangs der fünfziger Jahre darstellte. Wir sehen im Morgenlicht die Bäckerei Diehl und Kunden derselben, die mit Taschen oder Beuteln zu Fuß oder auf Fahrrädern das Gebäude ansteuern und wieder verlassen, hören die heiser scheppernde Türglocke, vernehmen Gespräche sich begegnender Einwohner über das Wetter, die Familie und die Hauswirtschaft, erblicken ein Kind, das ein Brot davonträgt, dem frischen Aroma der warmen Backware nicht widerstehen kann, und verstohlen hineinbeißt ... ; kurz gesagt, wir schauen auf eine Szene dörflicher Idylle und gewinnen den Eindruck: Das täglich ausreichende Brot war in Grodies nach dem Hunger der unmittelbaren Nachkriegsjahre gesichert, nicht zuletzt dank Bäckermeister Diehl.
Das konstitutive Element des Dramatischen ist die Krisis. Der erste Akt endet gewöhnlich damit, dass die Krisis beginnt, die Wende zu einer problematischen Entwicklung eingeleitet wird. So dürft ihr euch nun vorstellen, wie ich an einem heißen Sommernachmittag zufällig in der Nähe der Bäckerei Diehl umherschweifte, in kurzen Hosen und barfuß und vielleicht in einem Rudel mit anderen Jungen. Da erschien der Meister oben auf der Treppe seines Geschäfts in weißer Jacke, weißen Hosen und fast weißen, weil mehlbestäubten Holzpantinen, blinzelte in die Sonne und schien, seinem angestrengten Gesicht war es anzusehen, einen inneren Kampf auszufechten. Schließlich drehte er sich zur Tür, rief etwas hinein, worauf seine schöne Tochter erschien und sich mit einem größeren Gefäß zur gegenüber gelegenen Gerstnerschen Gastwirtschaft begab. Ich, mit des Bäckers Gepflogenheit und deren möglicher Folgenschwere vertraut, eilte durch die lindenbesäumte Straße nach Hause, um meiner Mutter die warnende Meldung zu überbringen: „Diehl hat sich ‘ne Kanne Bier holen lassen.” Meine zweite, die Warnung verschärfende Meldung nach einiger Zeit lautete: „Er is nu selber zu Jerstners rüber, aber ohne Kanne.”
Dies war das Ende des ersten Aktes.

 
Der zweite Akt des Dramas in drei Akten pflegt die Krisis an ihren Höhepunkt heranzuführen, das Problem wird zugespitzt. Der Kunstgriff mancher Theaterschreiber aber besteht darin eine scheinbare Lösung einzufügen, die das Publikum aufatmen lässt, um es danach desto heftiger und tiefer erschüttern zu können. Auch das im wirklichen Leben Grodies’ stattgefundene Drama um den Bäckermeister ließ diesen Trick nicht aus. Ich kann ihn mit der dritten, einer Entwarnungsmeldung, an meine Mutter andeuten: „Keine Bange, Diehl is wieder nach Hause. Er schwankt eijentlich noch nich.” Allerdings schickte mich meine misstrauische Mama erneut auf Beobachterposten. Ich blieb lange aus, musste dann mitteilen: „Er is doch tatsächlich wieder zu Jerstners jerannt.” „Gerannt” – das ist eine untertriebene Bezeichnung, denn die Art der Fortbewegung des Bäckers zur Kneipe hin war das Furioso wirbelnder Holzpantinen, die ein Stakkato leidenschaftlichen Dursts auf den sandstaubigen Boden trommelten, sie war das Furioso heftig rudernder Arme, einer flatternden weißen Jacke und aufsprühender Mehlpartikel, während hinter dem Rücken des Dahinjagenden die klagenden Rufe seiner Gattin verklangen. Gleich darauf erscholl aus der Gaststube das „Hoi’Hoi” und „Ho’Ho”, mit dem die dort versammelte Trinkgenossenschaft den verloren Geglaubten wieder empfing. Auf eine detaillierte Schilderung dieses Sturmlaufs und seiner Zielankunft verzichtete ich damals vor meiner Mutter, vervollständigte stattdessen meine Mitteilung, um deren Bedeutung zu unterstreichen: „Er is jar nich wieder rausjekommen, sitzt fest”, fügte aber, um die Genauigkeit meiner Beobachtung unter Beweis zu stellen, hinzu: „Naja, er is noch mal rausjekommen, aber nur zum Seechen, hat sich jleich an die Hausmauer jestellt.” (Eine Anmerkung zum Dialektwort „seechen”: Es ist auf mittelhochdeutsch „seichen“ zurückzuführen und steht für „urinieren“.) Doch dieser Nebenschauplatz des Besäufnisses war meiner Mutter ohnehin unwichtig. Sie sah eine Nahrungskrise heraufziehen, die eigentliche Krisis des Dramas, von der ich vorhin noch dunkel-wissenschaftlich gesprochen habe. „Ach, du meine Güte, hoffentlich weiß Tillmann Bescheid.”
Bevor ich erkläre, welche Rolle dem eben Genannten auf der dörflichen Schaubühne zufiel, muss ich verkünden: Dies nun war das Ende des zweiten Aktes.

 
Im dritten Akt gibt es gewöhnlich ein Hin und Her um die Probleme, vor welche die Handelnden und Betroffenen gestellt worden sind; das dramatische Geschehen mündet schließlich entweder in die vollständige Katastrophe, sofern es sich um ein Trauerspiel handelt, oder in eine Lösung, die den Gerechten Befriedigung verschafft. Als die Gerechten waren auf der Grodieser Lebensbühne die Kunden von Bäcker Diehl anzusehen. Die Probleme, um die es ein Hin und Her gab, sind auf die Fragen reduzierbar, ob, und nun kommt der von meiner Mutter schon genannte Name Tillmann wieder ins Spiel, ob der Bäcker dieses Namens einspringen wird, ob er noch informiert werden müsse oder ob ihm schon die Kunde vom Unglück im anderen Teil des Dorfes überbracht worden sei.  Der Rest kann schnell erzählt werden. Tillmann wusste Bescheid. Er fungierte in diesem Theater gleichsam als Deus ex machina, als Gott aus der Maschine, der in vielen Aufführungen der alten Griechen und Römer mit Hilfe einer Mechanik aus der Höhe auf die Schauarena schwebte, um die Erlösung aus der dramatischen Not zu bringen. Aber Tillmann fungierte eben nur gleichsam in dieser Rolle, denn er fuhr nicht mit seinem zusätzlich gebackenen Brot von oben herab; um dieses zu erlangen, mussten wir uns zu ihm bemühen. So aber kamen wir doch noch zu unserem täglichen Brot, das war der glückliche Ausgang des Theaters in Grodies, und ich kann sagen, ich bin dabei gewesen, wenn auch nur in einer Nebenrolle.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.12.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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