Marco Banholzer

Weihnachten im Schuhkarton

Bereits zwei Wochen vor Heiligabend hatte es in dem
kleinen Dörfchen Martinszell inmitten des Allgäus angefangen zu schneien. Die
Kinder freuten sich über den Schnee, genossen lange Rodelpartien an steilen
Hängen und bauten herrlich große Schneemänner. Die kleine Katharina hatte
keinen Spaß an dem vielen Schnee. Sie saß stumm am Fenster ihres kleinen
Zimmers und starrte traurig hinaus in die verschneite Landschaft. Die
Schneeflocken an ihrem Fenster schmolzen um die Wette. In den Händen hielt sie
das Bild ihrer Mutter, der sie vor ein paar Jahren vom Jugendamt weggenommen
wurde.
 



 
Zum Glück waren Katharinas Pflegeeltern nicht zuhause, als
am Montag nach dem 3. Advent ein seltsamer, in blauer Folie eingepackter Schuhkarton
geliefert wurde. Katharina nahm ihn in Empfang und konnte auf einem goldenen
Adressaufkleber ihren Namen erkennen. Es war kein gewöhnlicher Adressaufkleber.
Dieser funkelte magisch in roter Schrift und um ihn herum leuchteten viele
weiße Sterne. Mit Tatjana, ebenfalls eine Pflegetochter der Familie, überlegte
sie lange, bevor sie gemeinsam das merkwürdige Paket öffneten. Verwundert
be-trachteten sie die leckeren Süßigkeiten und verschiedenen Spielsachen darin.
Ein kleiner Brief verriet, dass der Karton ursprünglich an ein herzkrankes Kind
in Russland gerichtet war. Wie ist das Paket ausgerechnet bei mir gelandet?“,
fragte Katharina unsicher und betrachtete den immer noch hell funkelnden
Adressaufkleber. „Wir werden das Paket zurückschicken, der Absender steht
dabei, eine Frau Christa Kunzmann“, überlegte Tatjana. „Wir dürfen Mama und
Papa nichts davon verraten“, sagte Katharina und verschloss den Schuhkarton
wieder. Katharina sagte zwar „Mama und Papa“, aber nur, weil diese darauf
bestanden. Einmal hatte sie sogar Schläge bekommen, weil sie nicht „Mama“ sagen
wollte. Tatjana legte einen Brief in das Paket, in dem sie das Missverständnis
aufklärte. Katharina unterschrieb und versteckte den Schuhkarton bis zum
nächsten Morgen unter ihrem Bett. Dann brachten die beiden Mädchen das Paket
heimlich zur Post und hofften, es würde bald bei der richtigen Adresse landen.
Katharina verbrachte die letzten Tage vor Weihnachten
damit, für Tatjana ein Bild zu malen. Immer wieder musste sie an das Paket mit
dem seltsamen Adressaufkleber denken, das wie durch ein Wunder bei ihr statt in
Russland gelandet war. Sie saß an ihrem Schreibtisch vor dem Bild ihrer Mutter
und malte, als vor dem Haus ein Auto hielt.
Eine Frau stieg aus und sah sich in der Straße um, bevor
sie auf das Haus, in dem Katharina wohnte zuging und klingelte. Katharinas
Pflegevater, ein grober Mensch mit unrasiertem Gesicht und fettigen zerzausten
Haaren, öffnete die Tür. Sein grimmiger Blick verhieß nichts Gutes. Trotz
eisiger Kälte war er lediglich mit einer leichten Sporthose und einem dünnen
weißen T-Shirt bekleidet. „Entschuldigen Sie bitte“, fragte die Frau
freundlich, „mein Name ist Christa Kunzmann, wohnt bei Ihnen Katharina
Fröhlich?“ Bevor er antwortete, warf der Pflegevater einen düsteren Blick zum
Auto und musterte anschließend die Frau. „Hier wohnt keine Katharina Fröhlich.
Verschwinden Sie, ich habe zu tun“, brummte er und warf die Tür zu. Die Frau
war entsetzt und stapfte durch den Schnee zurück ans Auto. „Was ist das für ein
unverschämter Kerl“, rief sie zornig ihrem Mann entgegen. „Vielleicht hast du
dich wirklich geirrt, Schatz. Lass uns nach Hause fahren. Es ist kalt und es
schneit immer heftiger.“ - „Ich habe mich nicht geirrt“, fauchte sie zurück,
„das ist die Adresse, die auf dem Brief in meinem Paket stand.“
Am Fenster über der Haustür verschwand Tatjana, die das
Schauspiel auf der Straße mitverfolgt hatte. Die Frau dort unten kam ihr
irgendwie bekannt vor. Wenig überrascht vom Verhalten ihres Pflegevaters ging
sie in Katharinas Zimmer. Katharina malte noch immer an dem Bild. Rechtzeitig
konnte sie das Gemälde durch ein Papier verdecken, als Tatjana den Raum betrat.
„Hast du das gerade mitgekriegt? Eine Frau hat eben nach dir ge…“ Tatjanas
Blick fiel auf das Bild von Katharinas Mutter auf dem Schreibtisch. Sie
erschrak und schrie: „Diese Frau auf dem Bild. Sie war gerade unten an der
Haustür. Ganz sicher!“ Katharina ließ den Pinsel fallen, mit dem sie gerade
gemalt hatte. „Mama?“, schluchzte sie, „meine Mama ist hier?“. Sie weinte vor Freude.
Beide Mädchen stürzten zum Fenster und schauten auf die Straße. Der Wagen
setzte sich eben in Bewegung. Katharina sank weinend in Tatjanas Arme. „Sie hat
mich bestimmt die ganze Zeit gesucht. Ich will zu ihr. Wieso ist sie wieder
weggefahren?“ Tränen kullerten über ihr kleines Gesicht, Tatjana hatte große
Mühe, sie einigermaßen zu beruhigen. „Papa hat sie angelogen und gesagt, dass
hier keine Katharina Fröhlich wohnt.“
„So ein Lügner! Ich hasse ihn! Wir müssen dem Auto
hinterher“, schlug Katharina vor und stand aufgeregt auf. Tatjana schüttelte
den Kopf und meinte: „Das hat doch gar keinen Sinn. Bis wir angezogen sind, ist
deine Mutter längst über alle Berge.“ Katharina konnte es nicht fassen, dass
der Pflegevater ihre Mutter wieder weggeschickt hatte.
Es dauerte lange, bis sich Katharina einigermaßen beruhigt
hatte. Noch musste sie ab und zu schluchzen. Tatjana nahm sie in den Arm und
streichelte ihr liebevoll über den Rücken. „Wenn das deine Mutter war, wird sie
bestimmt wiederkommen, glaube mir!“, flüsterte sie Katharina ins Ohr. Beide
Mädchen sahen aus dem Fenster. Katharina konnte schon fast wieder lächeln, als
sie die Schneeflocken langsam zu Boden wirbeln sah. „Das Auto“, rief Tatjana
plötzlich aufgeregt, „da ist das Auto wieder.“ Eben bog es erneut in die Straße
ein und fuhr ganz langsam auf das Haus zu. Katharina wischte das angelaufene
Fenster frei. Sie erkannte das Auto, das fast völlig zugeschneit war. Jetzt war
sie kaum mehr zu halten. „Mama“, schrie sie und klopfte wild gegen die Scheibe,
„ich will zu meiner Mama“. Tatjana hielt Katharina fest, als sie aus ihrem
Zimmer rennen wollte. „Katharina!“, befahl sie, „sei leise, damit Mama und Papa
nichts hören.“ Es war für Katharina eigentlich unmöglich, sich leise nach unten
zu schleichen, aber es gelang ihr trotzdem. Aus dem Wohnzimmer hörte man den
Fernseher und aus der Küche wehte der Geruch frischer Plätzchen herüber. Die
Pflegeeltern waren beschäftigt und bekamen von den beiden Mädchen nichts mit.
Wie eine Katze an ihre Beute schlichen sich Katharina und Tatjana Richtung Tür.
„Sei leise, Mama und Papa dürfen nichts merken“, flüsterte
Tatjana, als sie eben die Treppe herunter kamen. Auf Zehenspitzen schlichen sie
am Wohnzimmer vorbei, aus dem laut der Fernseher zu hören war. Die Tür zur
Küche war geschlossen und ein Rührgerät knatterte. Katharina erreichte zuerst
die Haustür. Vorsichtig drückte sie die Klinke nach unten und zog die schwere
Türe auf. Als sie nach draußen blickte, stand ihre Mutter vor der Tür und
wollte gerade klingeln. Als wären sie eben zu zwei Eisfiguren gefroren,
blickten sich Katharina und ihre Mutter nach jahrelanger Trennung sprachlos an.
Dann schluchzte Katharinas Mutter unter Tränen: „Katharina? – Mein Kind!“.
Katharina begann zu weinen und fiel ihrer Mutter in die Arme. Inzwischen war
auch ihr Mann aus dem Auto an die Tür gekommen. Tatjana stand fassungslos
daneben und konnte gar nichts sagen. Mutter und Tochter hielten sich fest und
innig in den Armen. Auch als der Pflegevater mit seiner Frau an die Tür kam und
die Versammlung derb anschrie, lösten sie ihre Umarmung nicht. Christas Mann
wies den Grobian sofort energisch zurecht und führte dann seine Frau und ihre
Tochter zum Auto. Tatjana mussten sie zurück lassen. Schweren Herzens
verabschiedete sich Katharina am Auto von ihr. „Wir werden uns um dich
kümmern“, versprach Katharinas Mutter und nahm Tatjana kurz in den Arm. Ihr
Mann schrie Katharinas Pflegevater an: „Und um sie auch. Sie werden von uns
hören.“
 

 
Noch am selben Tag erreichte Christas Mann beim Jugendamt,
dass Katharina wenigstens über die Feiertage bei ihrer Mutter bleiben durfte.
Danach wolle man alles klären. Die Dame vom Jugendamt versprach auch, sich um
Tatjana zu kümmern. Für Christa und Katharina war es das schönste Geschenk,
nach 4 Jahren das Weihnachtsfest zusammen feiern zu dürfen. Der Schuhkarton
wird beiden ewig in Erinnerung bleiben. Wer oder was dafür gesorgt hat, dass
Christas Schuhkarton mit dem magisch funkelnden Namen bei Katharina gelandet
war, bleibt das Geheimnis dieser Geschichte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.12.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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