Sebastian Müller

Der Gang

Ich packte sie am Handgelenk, doch sie entriss sich wieder und rannte weiter.
„Bleib stehen!“ Rief ich ihr nach und machte mich daran, sie zu verfolgen. Ich sah noch, wie sie ins Stolpern geriet, doch war ich nicht schnell genug und sie fiel auf den harten, gefliesten Boden. Mit meinen zitternden Händen packte ich sie an den Schultern und versuchte, sie wieder aufzurichten. Mit ein wenig Mühe gelang mir dies auch, So schnell, dass ich es kaum mitbekam, warf sie sich um meinen Hals. Sie weinte neben meinem Ohr.
„Ist ja schon gut. Beruhige dich, bitte.“ Flüsterte ich ihr tröstend ins Ohr. Meine Schulter war tränenass von ihr. Erst war ich zu schüchtern, doch dann legte ich meine Arme schützend und tröstend um sie und drückte sie sanft an mich.
„Was ist denn los? Was ist passiert?“ Fragte ich sie, aber drängte sie nicht, mir eine Antwort zu geben. Erst einmal sollte sie sich beruhigen. Langsam löste sie sich von mir und blickte mich an. Schnell senkte sie den Blick und wischte sich über die Augen, um den letzten Rest der Tränen auch noch zu entfernen. Eine Antwort schien sie mir nicht geben zu wollen.
Plötzlich stand sie auf. Die Arme fest um sich geschlungen, schaute sie den langen Gang entlang, in dem wir uns befanden. Ich blickte über meine Schulter zurück, doch sah ich dort nichts. Ohne mich von ihr abzuwenden, stand ich auf. Weiterhin blickte sie den Gang entlang, doch viel mehr schien sie ins Leere zu starren. Irgendwas schien sie zu sehen und ihr Angst zu machen. Ich stellte mich vor sie, dass ihr der Blick auf den Gang verwährt war, doch sie starrte durch mich hindurch, als wenn ich nicht da wäre. Ihre Haut war so bleich wie noch nie und ihre Augen waren so leer, wie das, in das sie starrten. Plötzlich sackte sie zusammen.
Warum sie so plötzlich starb, weiß niemand, doch ich glaube es zu wissen: Es war ihre Vergangenheit, die sie eingeholt und getötet hat.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.01.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Zwei sensible Frauen, die sensible Gedichte schreiben. Beide schürfen tief. Da bleibt nichts an der Oberfläche. Beide schöpfen aus ihrem emotionalen Reichtum und ihrem souveränen Umgang mit Sprache. Dabei entfalten sie eine immer wieder überraschende Bandbreite: Manches spiegelt die Ästhetik traditioneller formaler Regeln, manches erscheint fast pointilistisch und lässt viel Raum für die eigenen Gedanken und Empfindungen des Lesers. Ein ausgefeiltes Sonett findet sich neben hingetupften sprachlichen Steinchen, die, wenn sie erst in Bewegung geraten, eine ganze Lawine von Assoziationen und Gefühlen auslösen könenn. Bildschön die Kettengedichte nach japanischem Vorbild! Wer hier zunächst über Begriffe wie Oberstollen und Unterstollen stolpert, der hat anhand dieser feinsinnigen Texte mit einem Mal die Chance, eine Tür zu öffnen und - vielleicht auch mit Hilfe von Google oder Wikipedia - die filigrane Welt der Tankas und Rengas zu entdecken. Dass Stefanie Junker und Monika Wilhelm sich auch in Bildern ausdrücken können, erschließt an vielen Stellen eine zusätzliche Dimension [...]

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