Anne Hürdler

Hässlich

Fröhlich hüpfend sprang sie über die Straße. Die Sonne strahlte auf den Asphalt unter ihren nackten Füßen und er reflektierte die Wärme. Sie lachte und gluckste, wie nur ein junges unschuldiges Kind es kann. Ihre schwarz schimmernden langen Haare waren seitlich mit roten Bändern zu Zöpfen gebunden. Sie trug einen roten Rock der bis zu den Knien reichte und große weiße Punkte aufwies. Sie hatte ein weißes T-Shirt an und eine schwarze Jacke darüber. Eigentlich war sie viel zu dick gekleidet, doch sie hatte keine Empfindungen mehr.     
Ihre Figur war zart und schmal und noch nicht sehr groß. Sie tanzte auf der Straße zwischen den Häusern und den Menschen entlang. Niemand beachtete sie und niemand hörte ihr Lachen. Sie strahlte mit der Sonne. Ihre Arme und Beine schlängelten in einem Rhythmus, der nur ihrem eigenen entsprach. Ihre Haut war weiß wie frisch gefallener Schnee, ihre Augen riesig groß, hell und kräftig wie das schönste Meer, umrandet von dichten, langen Wimpern. Der Ausdruck ihrer Augen war deutlich, aber man verstand ihn nicht. Er war stark und aufregend, aber ruhig. Einfach zu seltsam, als dass man ihn sich erklären konnte.
 Sie lachte und lachte und ihre Zähne blitzen zwischen blassrosa Lippen hervor. Aufzuhalten war sie nicht, dabei bewegte sie sich kaum von der Stelle. „Lalala“, trällerte sie.
„Lalala“, „Lalala“, „Lalala“.
So unbeschwert und wunderschön, so leichtfüßig und geschmeidig, so wundervoll wie es kaum auszuhalten war. Man liebte sie und konnte kaum atmen, beim Anblick ihrer sagenhaften Gestalt. Zu vollkommen um wahr zu sein. Wie gemalt und irgendwie so irreal.
 Man begann zu zittern, wenn sie sich einem näherte, man bekam den Mund vor staunen kaum zu. Sie war perfekt, so unglaublich perfekt wie es nichts vergleichbares gab.
Ihre dünnen Beine schwebten durch die Luft. Der Rock flog im Wind umher und unterstrich die Faszination ihres Körpers.
Die Sonne verglühte und Wolken traten auf. Der Himmel begann um sie zu weinen, er wollte sie beschützen. Fing an zu schreien und zu brüllen.                                     
Richtig wütend wurde er, als das schöne Kind blieb. Einfach auf der Straße. Hüpfend. Singend. Wunderschön. Sie tanzte einfach weiter. Tagelang. Genoss jede Sekunde an der Luft. Atmete so tief, dass ihre Nasenflügel bebten und sie ihren Puls im Hals schlagen spürte. Speicherte Gerüche, Wärme und Kälte in ihren Zellen, als könnte sie ohne sie nicht leben. Schoss hoch in die Luft und kämpfte gegen den Wind, als er sie vertreiben wollte. Wie eine sich bewegende Statur, die aus ihrem Revier auf Verderb nicht fliehen wollte.
Von Oben weinte es aus vollem Herzen und brüllte bitterlich, doch das Kind ignorierte die Warnungen weiterhin. Es verschwand nicht und stellte sich der Trauer.
Dann kam das Ende, welches der Himmel erahnt hatte. Man stürzte aus den Häusern, auf die Straße hinaus und überwältigte das Mädchen.
Anstatt zu schreien und zu weinen, lachte es und tanzte in den blauen Sack hinein. Es schloss die Augen nicht, sondern behielt den Blick der letzten Jahre. Man starrte ihr in die Pupillen, als man sie in den Sack beförderte und spuckte sie an. Man schlug den Sack und zeigte ihr seinen Hass. Man trat und boxte, kniff und drückte, doch kein Geschrei drang heraus. Nach Stunden der Gewalt war man erschöpft. Der Schweiß lief einem hinab und man fühlte sich so wunderbar befreit.
Das Schöne war nicht mehr unter ihnen, der Alltag war wieder da.
Man hatte es nicht ertragen. Es war so schön gewesen, dass man nicht mehr denken konnte, nicht mehr essen und nicht mehr schlafen. Es hatte sie alle umgebracht und vergiftet. Man hatte Schmerzen gehabt, wie sie schlimmer kaum vorstellbar waren. Als würde man mit Reiben die Organe bearbeiten, bis sie bluteten und sich auflösten. Kaputt gerieben. Sie waren nicht mehr sie selbst, seitdem das Mädchen lebte.
Jetzt war die Perfektion in dem stinkenden blauen Sack, den man in den Fluss warf. Man war sie los, die Vollkommene. Man musste sie nicht mehr aushalten, nicht mehr zittern, nicht mehr weinen vor Hass.
Befreit und zufrieden, kehrte man in die Häuser zurück. Es war vorbei, das Leben ging weiter, wo es vor Jahren geendet hatte. Man vergaß sie, man lachte wieder und erfreute sich an sinnlosem wie dem Programm in Radio und Fernsehen. Man liebte wieder und fand schönes und hässliches. Niemand dachte mehr an die unbegreifliche, schmerzende Schönheit des Mädchens. Man lebte einfach so wie vor ihrer Geburt und war ein normaler Mensch, der von Gewöhnlichkeit geprägt war. Etwas ähnlich überwältigendes begegnete ihnen nie wieder im Leben.
Nicht mal die Eltern dachten noch an den Körper im Sack, der nach Westen getrieben wurde, ins unendliche Aus hinein.
Und noch immer gesummt hatte: „Lalala...lalala....lalala.“
Das Unheuer war weg und die Zeit mit ihm, war einfach ausgeblendet aus den Köpfen der Leute.

Und der Himmel weinte weiter, beschimpfte die Leute und versuchte, seiner Verachtung Ausdruck zu verleihen, indem er Häuser fallen lies, Autos schwimmen und Häute brennen.
Er war gescheitert. Hatte es wirklich versucht und doch hatte sie seine Hilfe nicht gewollt. Sie war reifer als die Leute um sich herum und hatte gehofft, irgendwann auf Verständnis zu treffen. Aber das war nie passiert. Niemand außer ihm hatte jemals die Erkenntnis erlangt über die Wahrheit in ihren Augen. Keiner hatte ihren Blick deuten können, der doch eigentlich ganz deutlich zeigte, dass sie es die gewusst hatte. Die ganze Zeit über. Sie waren einfach zu zerfressen gewesen vom Hass, der ihre Innerein solange zerrieben hatte, bis sie unheilbar zerschlissen waren.

Jeder andere Mensch hätte sich gewehrt und hätte sich bewiesen, indem er geflohen wäre. Doch sie drückte ihre Stärke mit ihrem Schweigen aus und gab ihr Leben, um den anderen ihr Leben zurück zu schenken.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.01.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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