Uwe Neugebauer

DesTeufels letzter Umzug

Langsam rollte der Lkw die abschüssige Straße entlang. Ein paar Mal bremste der Fahrer und blickte beidseitig zu den Häuserfassaden, bis er sich sicher wähnte, die richtige Hausnummer doch nicht gefunden zu haben. Vor dem Eingang Eichenbergstraße Nummer 38 blieb der Möbelwagen dann stehen. Zwei stämmige und ein hochgeschossener, hagerer Mann stiegen aus. Die Stämmigen begannen sogleich und erledigten auch den Großteil der Arbeit. Aber dem Hageren war anzusehen, dass es womöglich sein letzter Umzug sei, und daher verziehen es ihm die Möbelpacker, wenn er nur eine Tischlampe oder seine Wäschestücke bis in die vierte Etage trug.
Ein Ehepaar aus dem Mietshaus lehnte nebeneinander aus dem Fenster und beobachtete jenes Tun auf der Straße argwöhnisch.
,,Er trägt ´nen schwarzen Anzug", flüsterte Frederike Bahr ihrem Ehemann zu.
,,Und guck mal, wie der aussieht", sagte sie noch.
Rolf Bahr lehnte sich etwas über den Fenstersims. Er konnte das knochige Gesicht des Mannes sehen. Außerdem glaubte Rolf Bahr zu bemerken, wie dem Mann eine eigenartige Aura umgab.
,,Solche Augen hab ich noch nie geseh´n", sagte die Ehefrau leise. ,,Als käme er aus ´ner Gruft."
Kurz darauf lächelte das Ehepaar angestrengt auf die Straße hinunter. Dort unten blickte der hagere Mann zu ihnen hinauf, als würde er wissen, was beide gerade sagten oder gedacht haben.
Aber die Menschen waren ihm schon immer ein Gräuel. In den letzten Jahren jedoch hatte er aufgehört darüber nachzudenken, ob die Seelen der Lebenden wertvoller wären als die der Toten. Es machte keinen Unterschied mehr. Obgleich er den Toten jetzt mehr Respekt entgegensetzte. Doch das lag auch viel an seiner Einstellung zu der Sache. Er erfuhr einfach mehr von den Toten als von den Lebenden. Er kannte ihre Namen, den Tag ihrer Geburt und natürlich das Sterbedatum sowie meist den Umstand, weshalb sie davon geschieden sind. Ihre Gesichter, die starr und kalt blickten, erschreckten ihn nicht mehr. Diese Angst hatte er beim Anblick seines eigenen Gesichtes zu überwinden gelernt. Jetzt, nach den Jahren des Schmerzes und der Einsamkeit, sah er den Toten ähnlicher denn je. Aber das war in Ordnung, hatte der Mann oft gedacht. Wenn du den Lebenden ihre Schwäche nachsiehst und diese noch besser einzuschätzen lernst, ist das Grund genug, gelebt zu haben. Denn der Mann erwartete nicht mehr allzu viel von seinem Leben. Nur diese eine Frage, ob sein Leben vergebens sei, wollte er geklärt wissen. Er konnte auch nicht glauben, dass es nur ein Name war, der den Menschen Angst einflöste. Doch andererseits, dachte der Mann genauso so oft, ist es manchmal leichter, den Menschen ihren Glauben zu lassen, auch wenn es dich kaputt macht.
Aber heute dachte der Mann nicht diese Gedanken. Es war ein Umzug wie die vielen anderen auch, und er hatte gut zu tun damit fertig zu werden. Vielleicht, dachte er kurz, hast du endlich ein Zuhause gefunden.
Doch dann passierte es wieder. Es war an einem Samstag. Ein gewöhnlicher Samstag und es war der fünfte Tag nach seinem Einzug in das Mietshaus in der Eichenbergstraße 38, als der Mann sich daran machte, sein Namensschildchen an der Wohnungstür sowie an dem noch freien Briefkasten anzubringen. Und er hatte Mühe, das dünne Päppchen, worauf er seinen Namen mit Faserstift geschrieben hatte, auf die exakte Größe zu zuschneiden, damit es in die vorgegebene Halterung an Wohnungstür und Briefkasten passte. Seine Hände zitterten wie gewohnt, als er mit der Schere zu Werke ging. Die langen, knochigen Finger gehorchten ihm nicht mehr. Schon jene einfache Tätigkeit war eine Plage, wenn er davon absah, dass ihm das schreiben seines Namens noch viel schwerer fiel. Doch dann hatte er es geschafft, und er ging von seiner Wohnungstür das Treppenhaus hinunter, um auch im Windfang, wo die Briefkästen waren, sein Namensschildchen anzubringen. Merkwürdig war, wie er fand, dass er seit seinem Einzug noch nie einem Mieter begegnete. Wo er doch ganz oben wohnte und beim Heimkehren oder Fortgehen irgendwann einen Menschen hätte sehen müssen. Mit zittriger Hand öffnete er den Briefkasten und schob das beschriebene Päppchen in dafür vorgesehene Halterung. Er schloss die dünne Blechtür und drehte den Schlüssel im Schloss. Edwin Teufel, stand nun mit blauer Tinte geschrieben an Briefkasten und Wohnungstür. Dann ging er zurück und langsam die Stufen hinauf. Über sich hörte er eine Frau aufstöhnen sowie das Geräusch, wenn etwas in Wasser getaucht wird.
Bärbel Kulinke wischte mit Schrubber und nassem Lappen über den Flur der vierten Etage. Beim auswringen stöhnte sie erneut auf, und als ihr Blick zur Wohnungstür des neuen Mieters fiel, bemerkte sie den Schriftzug dort. Sie trat näher heran. Dann las sie es ein zweites Mal. ,,O Gott", entwich es ihr leise. Der ausgewrungene Lappen glitt ihr aus der Hand.
Edwin Teufel hatte die zweite Etage erreicht. Das rechte Bein machte schon wieder Schwierigkeiten. Es ist schon seltsam, dachte er bei sich, seitdem du den fetten Kerl damals aus der Wohnung geschleppt hast und du mit ihm umgeknickt bist, kriegst du das nicht mehr los. Wie ein Fluch ist das, dachte er. Mühsam zog er das Bein nach.
Bärbel Kulinke hatte sich gerade wieder gefasst, als sie das schleifende Geräusch von unten her wahrnahm. Sie blickte vorsichtig über das Geländer und beobachtete durch das Treppenauge jene knöcherne Hand, die sich am Handlauf allmählich vorwärts bewegte. Und ihr fiel ein, was Frederike Bahr ihr über das Aussehen und das zwielichtige Wesen des Mannes erzählt hatte. Wenn es ihn doch gibt? dachte Bärbel Kulinke plötzlich.
Edwin Teufel wunderte sich manchmal, dass er tatsächlich noch über all das lachen konnte. Wenn auch immer seltener in seinem Leben. Ein bisschen Ironie muss sein, sagte er zu sich. Wenn du schon dem Tod so nah bist, dann lächle ihn wenigstens an. Und er lachte, weil ihm etwas in den Sinn kam, worüber es eigentlich nichts zu lachen gab. Es sah schon ziemlich albern aus, als er damals der jungen Frau den Ring von der leichenstarren Hand zog. Und auf dem ungewollten Polizeifoto wirkte es dann so, als wolle Edwin Teufel dieser Frau einen Antrag machen. Der leitende Ermittler in dem Mordfall hatte Edwin dann das Foto geschenkt. Damals hatte Edwin Teufel noch nicht das eingefallene Gesicht und die tiefen Schatten unter den Augen. Und die junge Frau hatte eine glatte und reine Haut, und ihre offenen Augen blickten Edwin Teufel an, wie wenn sie ihm Trost zusprachen. Er hatte nie geglaubt, welch unglaublich feine Nuancen der Tod haben kann. Aber das Bild sagte es, und das wirklich Komische an der Sache war, dass er seither keiner Frau mehr in die Augen blickte. Doch nicht aus Taktgefühl. Mehr aus Angst, er könnte ihr im Leben schon in die Seele sehen. Darüber musste er jetzt lachen. Er lachte erst still, dann wie nach Atem ringend und mit Tränen in den Augen.
Die Türnachbarin Bärbel Kulinke tauchte den Lappen in den mit Wasser gefüllten Plastikeimer. Noch schneller bemühte sie sich, den Lappen wieder auszuwringen, ihn um den Schrubber zu wickeln, um dann schleunigst den Rest des Bodens zu wischen. Sie hörte es scharren. Sie hörte das heimliche Gelächter. Und die Hand, die vor einer Weile noch in sicherer Entfernung auf dem Handlauf sich zu ihr bewegte, war bedrohlich nahe gekommen. Die 56jährige Witwe wollte nicht sehen, was da auf sie zukam. Der Teufel, dachte sie, hat sehr viele Gesichter und manchmal zeigt er auch sein wahres Gesicht und Namen. Bärbel Kulinke schaffte es nicht mehr, ihm zu entkommen.
Er hatte es geschafft. Noch acht Stufen und er könnte die Tür hinter sich schließen und allen Schmerz, auch den körperlichen, eine Weile vergessen.
,,Na, ein wenig fort gewesen", begrüßte ihn Bärbel Kulinke verkrampft heiter.
Er sah auf und blieb auf der Treppe stehen. ,,Beruflich", antwortete er.
,,Ein sehr ehrenwerter Beruf", sagte sie halb feststellend, halb nachfragend.
Er bemerkte, dass die Frau auf seinen dunklen Anzug, dem weißen Hemd und die Krawatte anspielte. Er senkte den Blick und beschloss weiter zu gehen. Sie würde nur Fragen stellen, überlegte er, und die Antworten darauf machten ihm Angst, da die meist nachfolgende Abneigung bisher nie ausblieb, denn was wurde nicht schon alles vermutet wegen seines schweigsamen Wesen.
,,Ich heiße Bärbel", versuchte sie es versöhnlich. ,,Auf eine gute Nachbarschaft."
,,Ja", sagte er und ging die letzten Stufen hinauf.
,,Sie haben einen ausgefallenen Nachnamen", hakte die Frau endlich nach.
,,Gewiss", entgegnete er.
,,Ich meinte ja nur, dass es selten vorkommt..."
Da schnitt er der Frau mit einem Blick das Wort ab. In seinen dunklen, traurigen Augen lag die unsägliche Angst verborgen, sein dennoch schuldloses Dasein durch einen unüberlegten Satz zu offenbaren. Wortlos schloss er die Wohnungstür auf und trat über die Schwelle. Doch dann fiel ihm ein, dass er der Frau gegenüber womöglich unhöflich war und dass sie ein gewisses Anrecht besaß zu erfahen, weshalb er manchmal auch nachts oder gar an Sonntagen seinem Beruf nachging. ,,Wenn Sie es genau wissen wollen", sprach er mit dem Rücken ihr zugewandt, ,,ich habe viel mit den Toten zu tun." Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Bärble Kulinke plumpste erneut der Lappen ins Wischwasser. Nun hatte sie es mit eigenen Ohren gehört. Sie hielt es für möglicher denn je.
 
In den darauf folgenden Wochen begegnete Edwin Teufel nur noch einmal einem Mieterehepaar in der Eichenberstraße Nummer 38.
Karl-Heinz Geller trat mit seiner Ehefrau an einem sommerlich warmen Sonntagnachmittag aus der Wohnungstür ins Treppenhaus.
,,Grüß Gott", sagte der korpulente und hochgewachsene Karl-Heinz Geller laut. Dabei drückte er den breiten Rücken kräftig durch und stand nun da in dem engen Treppenhaus, als müsse er irgendwas verteidigen.
Aber Edwin Teufel wusste nicht, irgendwas angegriffen zu haben. Daher beließ er es bei einem tonlos klingenden ,,Hallo" und schritt an dem Ehepaar vorbei die Stufen hinauf.
Seine Frau sah Karl-Heinz Geller mit wissendem Blick an.,,Siehst du", sagte sie dann.
Wenig später saß das Ehepaar Geller in ihrem olivgrünen Polo, zur sonntäglichen Ausfahrt in ´´Gilla´s´´ Café bereit. Und auf der Fahrt dorthin begann Hannelore Geller brüskiert: ,,Hast du den geseh´n?"
,,Is mir nicht entgangen", entgegnete ihr Mann.
,,Das so was überhaupt in unser Mietshaus einziehen darf."
,,Is eben freie Wohnungswahl. Wenn er wenigstens Ausländer wär´, da könnte man vielleicht was drehen."
,,Trotzdem, Karl-Heinz, der macht mir Angst."
,,Besonders vertrauenserweckend sieht er wirklich nicht aus."
,,Nicht mal gelächelt hat er. Was hat er überhaupt gesagt?"
,,Hallo, hat er gesagt."
,,Siehst du"
,,Jaja. Ob die Kulinke doch Recht hat?"
,,Er hat mit den Toten zu tun!" herrschte sie ihn an.

Es vergingen noch mal zwei Wochen, und die allgemeine Stimmung in dem Mietshaus Nummer 38 verschlechterte sich zusehends. Alle wusten nun Bescheid. Ein Mann hatte sich bei ihnen eingenistet. Ein wortkarger, krank aussehender und gespenstischer Mann. Was anfangs noch Vermutung war, wurde nun hinter vorgehaltener Hand angstvoll ausgesprochen. Es gab ihn wirklich, den Leibhaftigen. Und Jahrhunderte oder Jahrtausende vermochten daran nichts zu ändern. Auch nicht das 21. Jahrhundert. Was aber zu klären bliebe, und darauf konnte keiner der Mieter in der Eichenbergstraße 38 eine Antwort finden, war der Umstand, dass der Teufel auch menschlich sein konnte, und dies warf die Frage auf, wie solle man solch einer Kreatur gegenüber treten oder wenn nötig, sie besiegen.

Die hell lodernden Flammen erinnerten nur kurz an ihre zerstörerische Macht. Sogleich fielen sie in sich zusammen und der Funkenflug verkohlter Äste sprühte über die Wiese, wohin der Wind sie blies. Es war noch warm an diesen Abend. Der Himmel blau und klar, und Amseln zogen ihre Bahnen durch die laue Sommerluft.
Karl-Heinz Geller besah sich fachmännisch das schwindende Feuer. Dann griff
er zu dem Papiersack und schüttete vorsichtig die Holzkohlestücke über den Grill. Eine Weile später glimmte es glutrot.
,,War ´ne prima Idee von dir", lobte der pensionierte Bezirksamtsleiter
Siegfried Burgsinn Karl-Heinz Geller.
,,Ich dachte, bei dem Wetter und so, da is ein Grillabend für alle Mieter genau richtig."
,,Männer wie du", sagte Burgsinn, ,,sind die gute Seele einer jeden Gemeinschaft."
Karl-Heinz Geller war nicht ganz wohl bei dem Wort Seele. Er dachte jetzt an den eigentlichen Grund dieses Grillabends. Er wusste so gut wie alle hier, dass es letzten Endes genau um jene Seele ging, die, wenn sie nicht umsichtig blieben, womöglich auf immer verloren ist. Und genau deshalb waren die meisten der Mieter an diesen Abend gekommen. Es musste mal offen darüber geredet werden. Nur traute sich anscheinend noch keiner das Wort zu ergreifen. Bisher blieb es ein stummer, unausgesprochener Protest.
Kar-Heinz Geller nahm einen kräftigen Schluck aus der angetrunkenen Bierflasche. Genügend gutes bayrisches Bier hatte er auch besorgt. Er dachte, nach einer Weile wird der Alkohol schon so manche Zunge lockern. Und er behielt Recht damit.
Es war dann später Abend, und vielleicht lag es am Schutz der Dunkelheit, dass es Edwin Teufel wagte, aus seiner 1 - Zimmer - Mietwohnung hinauszugehen. Er ging hinters Haus, zu der Wiese mit den sauber geschnittenen Hecken, dorthin, von wo das Stimmengewirr her wehte und wo es in gemeinschaftlicher Trautheit wohl nichts zu fürchten gab. Er zog das rechte Bein noch immer ein wenig nach. Ihm war, als hätte die Krankheit jetzt auch seine Knochen befallen. Zumindest konnte er mit Bestimmtheit sagen, dass jede kleinere Verletzung oder auch nur die geringste Erkältung nun doppelt solange zur Genesung brauchte, wie das es vor einem dreiviertel Jahr war. Bald schon müsste er sich in die Obhut ärztlicher Hände begeben. Ob freiwillig oder nicht.
Und so hatschte er über die Wiese, sah die überraschten Gesichter seiner Mitbewohner, ging weiter zu den aufgebauten Tisch - und Sitzreihen und blieb dann neben Karl-Heinz Geller, der sich um die letzten Rostbratwürste am Grill bemühte, stehen.
,,Hallo", sagte Edwin Teufel müde.
,,Ja, ja," entgegnete Geller mürrisch.
,,Ich wusste gar nichts von dem Grillabend heute", fuhr Edwin Teufel fort.
,,War mehr so ´ne zufällige Sache", sagte Geller.
,,Das ist auch schön", sagte Edwin Teufel.
Geller antwortete nicht.
,,Bestimmt wird es diesen Sommer noch mehr solche Gelegenheiten geben."
Geller sagte nichts.
,,Ich habe die Stimmen hinterm Haus von meinem Fenster aus gehört. Und dann stieg mir der würzige Geruch in die Nase."
Geller schwieg.
,,Was kostet eine Bratwurst?"
Geller schnitt ein Brötchen mit dem Messer längs über die Oberseite auf, nahm eine Bratwurst vom Grill und legte diese zwischen die beiden Brötchenhälften. Dann gab er wortlos Edwin Teufel beides in die Hand. ,,Auf unserWohl!" rief dann Geller Henri Kleinschmidt zu, der ebenfalls gerade seine Bierflasche erhob und zu den beiden Männern am Grill hinüber blickte.
Edwin Teufel sah sich um. Aus einem leise spielenden Radio klang Musik. Er sah Menschen zu dreier oder vierer Gruppen zusammenstehen, die sich unterhielten. Er sah ein paar Leute auf den Bänken sitzen, die erst stumm schauten, dann aber seinem Blick auswichen und plötzlich über das Wetter zu reden begannen. Er spürte die Blicke aller. Es waren kurze Blicke, gefolgt von einem Tuscheln. Und noch einmal sah er zu Karl-Heinz Geller.
Dieser trank von seinem Bier und schwieg weiter.
Enttäuscht ging Edwin Teufel über die Wiese zurück. In seiner Hand hielt er das Brötchen und die Bratwurst. Er könnte es an seinem Küchentisch essen, dachte er. Wenn du den einen Flügel öffnest, sagte er sich, weht die Nachtluft herein und trägt dir die Musik bis ins Bett. Na komm, ermutigte er sich. Es ist ein schöner Sommerabend. Die Leute sind vergnügt. Du hast zu essen und wirst an deinem Küchenfenster gratis unterhalten. Kurz darauf war er verschwunden. Der Verdacht, es könnte etwas mit dem Zugezogenem nicht stimmen, trug sich lautlos durch die laue Sommernacht.
Eine Weile später wurde die Musik aus dem Radio lauter gestellt. Nur hin und wieder trug der Wind die Stimmfetzen an Edwin Teufels Küchenfenster hinauf.
,,Ich hab gehört, er soll noch gar nicht so alt sein."
,,Ach", ereiferte sich eine andere Stimme.
,,Das hab ich auch gehört", erklärte eine dritte Stimme.
,,Und?" fragte die erste Stimme, die eine weibliche war.
,,34 Jahre, hat die Weißbär mir erzählt. Sie kennt die Fritsche vom Meldeamt und die hat ihr gesagt, dass er aus dem Allgäu kommt und laut seiner Personalien ist er eben 34 Jahre."
,,Erstaunlich!"
,,Jaja, wo er doch aussieht, als würde er bald vor Altersschwäche umfallen."
,,Menschen mit seelischem Stress sollen viel schneller altern."
,,Der und Stress?"
,,Vielleicht hat er ja ´ne schlimme Enttäuschung hinter sich."
,,Wir haben alle unser Kreuz zu tragen."
,,Genau!" erboten sich zwei Stimmen gleichzeitig.
,,Habt ihr geseh´n, wie er sich verdrückt hat? Warum wohl?"
,,Weil er was mit dem Leibhaftigen zu tun hat."
,,So einem ist alles zuzutrauen. Wissen wir denn, warum er hier ist?"
,,Möglich, dass er nur Dreck am Stecken hat", gab eine Stimme zu bedenken.
,,Quatsch. Der will unsere Seelen."
,,Habt ihr diesen Blick gesehen?"
,,So ´ne kaltblütige Fresse."
Es geschah drei Tage später, dass die Mieter in der Eichenbergstraße 38 dem Leibhaftigen in die Augen blicken sollten - ein letztes Mal.
Er sah eigentlich ganz anders aus, als sich das je einer von ihnen hätte vorstellen können. Blass und ausgezehrt. Viel magerer noch. Der Geruch von frisch Erbrochenem haftete ihm an. Aber er atmete.
Die Sanitäter hatten Edwin Teufel auf der Bahre festgegurtet. Seine Gestalt machte kaum eine Kuhle auf der gespannten Unterlage - doch er atmete. So trugen sie die leichte Last durch das Treppenhaus hinunter. Vorbei an den offen stehenden Wohnungstüren und den teils erschrockenen, teils zufriedenen Blicken der Menschen die dort wohnten, hinaus auf die Straße und in den Krankentransporter. Mit blitzenden Signallichtern entfernte sich das Fahrzeug.
Wie lange mag es noch dauern, überlegte Edwin Teufel, während er so dalag und der Krankentransporter über die Kreuzungen der Stadt jagte. Nur schwach hob und senkte sich die schmale Brust. Nun gab es kein Entrinnen mehr. Er hatte es gleich gewusst, als er an diesem Vormittag zum Telefonhörer griff und die Nummer des Notarztes wählte. Es war ihm klar, eines Tages würde auch er auf dem Sterbebett liegen. Genau wie all die Menschen, die er während der letzten Jahre als Leichenbestatter in das Papierhemd hüllte oder puderte und schminkte, wenn es sehr reiche Leute waren. Nun mussten sich die Menschen endlich um ihn bemühen. Darauf hatte er die langen Jahre gehofft. Denn als Aidskranker konnte er das nicht wirklich erwarten, und auch als gesunder Mann nicht, oder als kleiner Junge, da er sein Leben lang ein Außenseiter war.
Die Menschen haben Ängste, dachte er gerade, und der Krankentransporter bog harsch um die letzte Kurve in den Klinikpark ein. Wenig später lag Edwin Teufel allein in einem Zimmer. Endlich Stille, dachte er, und ihm fiel ein, dass er diese bald für immer haben wird. Ihm wurde bang. Er schluckte den Speichel hart hinunter und merkte, wie er Angst bekam. Doch es hielt nur eine Weile an. Auf einmal dachte er viel größer, viel tiefgreifender. Angst, dachte er glücklich. Ihm wurde klar, er hatte nicht vergebens gelebt. Er hatte nur vergessen zu beachten, wie leicht es ist, sich ablenken zu lassen. Angst, dachte er wieder, und schloss die Augen. Und im Anflug der ersten Bilder eines Traumes sah er Menschen. Die Menschen, dachte er noch, die sind wie du. Dann lächelte er und schlief zufrieden ein.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.01.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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