Richard von Lenzano

Das Zyklopenauge

 
 
 
 
 
 
 
 
Ich bin ein Relikt der griechischen Mythologie.
Meine Vorfahren waren menschenfressende Riesen, welche nur mit einem Auge ausgestattet waren. Dieses Auge befand sich mitten auf der Stirn.
 
Ich wurde von allen Wesen gemieden, weil ich erstens so groß und zweitens ein Menschenfresser war. Drittens sah ich fürchterlich aus, da ich eine hohe Stirn hatte aus der mein einziges Auge hervorstach. Einige wenige Harre umkränzten meine Stirn und hingen in langen Strähnen wirr von meinem Kopf.
 
Es hatte schon einen Vorteil, die Welt mit nur einem Auge zu sehen. Wenn wir den Kopf drehten, konnten wir einen schnellen Rundblick machen und bekamen fast alles mit, was es zu sehen gab.
Allerdings war es eine Gewohnheitssache.
 
Aus Erzählungen und aus Erfahrungen von Menschen und anderen Wesen weiß ich, dass es auch Wesen mit zwei Augen im Kopf gibt. Diese sollen allerdings gewaltige Probleme haben, da sie gleichzeitig mit dem rechten und dem linken Auge sehen müssen, das heißt: beide Augen sehen jeweils etwas anderes. Das muss ja eine komische Sichtweise gewesen sein.
 
Da ist es bei mir doch einfacher und viel praktischer. Ich kann mein Auge auf einen Punkt fixieren und bestimmen was ich jeweils sehen will.
Bei den „Zweiäugern“ geht das so nicht. Sie müssen sich immer entscheiden, ob sie erst nach rechts oder links sehen wollen. Das wäre mir zu umständlich.
 
Also ich entscheide was ich sehen will – mit meinem zentralen Auge.
Will ich etwas anderes sehen, schaue ich einfach weg, und habe eine andere Situation vor meinem Auge.
Gerne habe ich immer gesehen, wenn es Kämpfe unter den Menschen oder zwischen Zyklopen und Menschen gegeben hat. Die Menschen haben sich – fast immer grundlos massakriert – und sich gegenseitig die Weiber weggenommen oder beklaut.
 
Eines Tages hörten ich dann, dass es in meiner Gegend einen Seher geben solle, der uns Zyklopen in die Zukunft sehen lassen könnte. Nachdem ich meinen Vater bekniet hatte, bekam ich Geschenke für den Seher mit und konnte diesen im Wald aufsuchen.
Er saß in seiner Laubhütte, die sich mitten im Wald auf einer kleinen Lichtung befand. Vor sich hatte er ein rundes Tongefäß stehen, in dem sich eine grünlich-schillernde Flüssigkeit befand.
 
Nachdem ich ihm Grüße meines Vaters und die Geschenke übergeben hatte, durfte ich mich neben ihn auf ein Mooslager setzen. Er fachte das Feuer unter dem Gefäß zu größerer Flamme an und diese züngelten langsam an dem Tongefäß hoch. Er warf irgendwelche Körnchen in die Flammen, die sich dadurch in die Höhe erhoben und wilde Konturen in den herrlichsten Farben annahmen.
Die Flüssigkeit im Gefäß fing langsam an zu brodeln und ein unerbittlicher Geruch erfüllte die kleine Laubhütte.
Urplötzlich stand der Seher auf, machte über dem Feuer einige energischen Handbewegungen – sofort wurden die Flammen kleiner, die Figuren waren schlagartig verschwunden und in die Hütte kehrte ein süßlicher, angenehmer Duft ein.
 
Vor Schreck konnte ich meinen vor Erstaunen aufgerissenen Mund nicht so schnell schließen. Der Seher erkannte dies, bewegte seine Hände über meinen Kopf und – in mir trat eine tiefe und ergriffene Zufriedenheit ein. Eine innere Ruhe hatte von mir Besitz ergriffen. Nachdem der Seher sich gesetzt hatte lächelte er mir freundlich zu und hob seine Hände leicht über das Tongefäß.
 
Sofort hörte die grünliche Flüssigkeit zu brodeln auf. Nach kurzer Zeit verfärbte sie sich und leuchtete in einem wunderschönen blau. Die Oberfläche war ruhig und man konnte keinerlei Bewegungen fest-stellen.
 
 
Ich war immer noch über das „Gesehene“ erstaunt und wartete gespannt, was weiterhin auf mich zukommen sollte.
Der Seher streckte dann seine rechte Hand zu mir, in der sich ein kleiner, ganz glatt polierter Flintstein befand. Diesen lies er nun von seiner Hand in das Tongefäß gleiten. Es gab einen ganz klein Spritzer und die Oberfläche zischte kurz auf. Danach erschienen von der Mitte nach außen konzentrische Ringe, welche gleichmäßig am Rand des Gefäßes ausliefen. Zum Schluss blieb ein ganz kleiner Ring in der Mitte der Oberfläche übrig.
 
Mit seiner linken Hand vollführte der Seher dieselbe Prozedur ein zweites Mal. Genau wie beim ersten Mal blieb ein kleiner Ring übrig. Mit beiden Händen gestikulierte der Seher dann über dem Behälter während er mir unbekanntes vor sich hin murmelte.
Letztlich verblieben beide kleinen Kreise in der Mitte des Behälters, als ob sie dort durch magische Kräfte festgehalten würden. Sie sahen jetzt fast so aus, wie die Augen der Menschen.
 
Fragend sah ich den Seher an und – bevor ich etwas sagen konnte, sagte er mir, dass ich nun in die Sichtweise der „Zweiäuger“ eingeweiht werden würde.
 
 
Plötzlich saßen wir nicht mehr vor einem Tongefäß sondern vor einem großen Fenster.
Während der Seher mir Erklärungen zu den vorbeilaufenden Bildern gab, hatte ich große Schwierigkeiten, alles zu sehen, was es zu sehen gab.
Die Ausführungen des Sehers waren so aufschlussreich, dass ich mir nicht alles merken konnte.
 
Nach einiger Zeit wurde die Seance vom Seher beendet und er wünschte mir einen guten Heimweg und trug mir auf, mich mit meinem Vater über das „Gesehene“ zu unterhalten.
Nachdem ich eine unruhige Nacht verbracht hatte, setzte ich mich mit meinem Vater zusammen und wir besprachen das, was ich am Vortag erlebt hatte.
 
Zunächst stellte ich fest, dass der Blick von einem „Zentralauge“ zum Sehen der „Zweiäuger“ ein Problem für mich darstellte.
Mit zwei Augen sieht man einfach mehr als mit nur einem Auge.
Wir Zyklopen können unser einziges Auge zuhalten und – sehen gar nichts mehr.
Wenn die Menschen sich ein Auge zuhalten, haben sie immer noch eines - mit dem sie sehn können.
 
Also, wenn die Menschen erkennen, was für sie schön und an genehm ist, können sie mit beiden Augen hinsehen und diesen Zustand genießen. Sollte es jedoch nicht so angenehm sein, dann können sie ein Auge schließen oder verdecken - und trotzdem mit dem anderen in eine andere Richtung blicken.
 
Man kann also bestimmen, was das jeweilige Auge sehen soll oder auch nicht.
Mit meinem Vater kamen wir zu dem Entschluss, dass die Menschen uns gegenüber im Nachteil seine. Zwei Augen sind nicht so praktisch wie lediglich nur ein Auge.
 
Die Menschen verfahren allerdings mit ihren zwei Augen sehr praktisch, obwohl sie nur das sehen wollen, was sie tastsächlich interessiert bzw. betrifft. Häufig, wenn es unangenehme Situationen gibt, schauen sie mit einem Auge kurz hin, obwohl das andere Auge bereits etwas „Angenehmeres“ im Blickfeld hat.
 
Selbst wenn ein anderer Mensch Not leidet oder Hilfe sucht, werden die Augen abgewendet. Der Blick geht dann stets stur in weite Ferne -man hat ja auf so viel zu achten.
 
Mein Vater erklärte mir, dass daher auch der bei den Menschen sehr bekannte Ausspruch: „Beide Augen zudrücken“ kommen würde. Man kann zwar sehen und erkennen, will es aber nicht wahrhaben.
 
 
 
Ich meine, dass es da bei uns Zyklopen doch einfacher und besser war.
Nur schade, dass es uns faktisch nie gegeben hat – aber trotzdem – könnte der Mensch doch auch von uns noch etwas lernen.
 
 
 
 
 
 
 
Richard von Lenzano
© 01-2007

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.01.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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