Hartmut Pollack

Suderbruch - Erster Schultag

 
Erster Schultag
 
Die Sommerferien gingen dem Ende zu. Ein wenig seltsam fühlte ich mich schon. Hier war fast nur flaches Land. Für mich war es schon eine Umstellung. Vorher erreichte ich in kurzer Zeit den Wald in einer bergigen Umgebung. Nun schaute mein Auge auf weidende Kühe und kleinere Waldflächen in der Umgebung von Suderbruch. 
Der Menschenschlag war gleichfalls ganz unterschiedlich zu den Leuten in Südniedersachsen. Mir schien es, als ob bei aller Freundlichkeit die Leute mich genauer beobachteten, als ich es bisher gewohnt war. Ich war kein anonymer Mensch aus einer Kleinstadt mehr,  irgendwie lebte ich persönlicher, war Teil des kleinen Dorfes. Man versuchte sich ein Bild von mir zu machen. Jeder kannte schließlich jeden im Dorfe.
Hier lebte keiner allein.  Es war für einen Mann aus der Stadt schon etwas sonderbar. Als Lehrer war ich öffentliche Persönlichkeit. Hoffentlich konnte ich den Erwartungen standhalten.
Weg fahren war mir damals auch unmöglich. Mehr als ein altes Fahrrad hatte ich nicht als Fortbewegungsmittel. Gezwungenermaßen wurde das kleine Dorf mein Lebensmittelpunkt. Erst nach einem Jahr reichte das knappe Geld für ein gebrauchtes Auto.
Der erste Schultag war da.
Morgens das Ritual des Aufstehens.
Duschen – nicht möglich, da nicht vorhanden.
Also Gesicht und Hals waschen, mit dem Waschlappen über den Oberkörper, Zähne putzen und danach nass rasieren.
Leicht braunes Wasser aus einem Wasserfilter in einer uralten Küche holen, noch mit einer Pumpe in der Mitte. Dann wurde Kaffee gekocht. Der tägliche Kaffee war immer etwas dunkler als in der Stadt wegen des eisenhaltigen Wassers.
Ein Frühstücksbrot war schnell geschmiert, Margarine, etwas Wurst oder Käse drauf. Schnell mit etwas Kaffee gegessen und man war schulfertig. Die Hausschuhe wurden ausgezogen, sportliche Lederschuhe übergezogen und ab ging es in den Klassenraum.
Die Dienstwohnung des Lehrers lag im gleichen Gebäude. Sieben Zimmer in zwei Stockwerken, dazu ein riesiger Flur. Ein großes Wohnzimmer,  daneben ein Esszimmer, durch den Fußboden wuchs vereinzelt das Gras, Küche, Waschküche, Kellerkammer lagen im Untergeschoss. Unter der Kellerkammer war natürlich ein kleiner Keller, dessen geringe Höhe für manche Kopfnuss sorgte.
Eine knarrende Holztreppe, wie ich die später oft verflucht habe, führte zum Schlafzimmer hoch. Gleich daneben lag das Kinderzimmer.
Aus dem Flur führte eine Holztür in einen kleinen Gruppenraum. Durch einen Glastür betrat der Lehrer den Klassenraum, welcher im Winter mit einem alten Ölofen beheizt wurde. Der Weg in den Unterrichtsraum war also kurz.
Ein wenig Herzklopfen hatte ich schon. Mein erster Tag in der Verantwortung für heranwachsende Kinder.
Meine Unsicherheit überspielte ich mit einer übertriebenen Freundlichkeit. Einige Gedanken zum ersten Tag hatte ich mir schon gemacht, Liedertexte abgeschrieben, über ein Bild nachgedacht.
Tief atmete ich durch und dann fasste meine Hand die Türklinke und mit einem fröhlichen: „Guten Morgen!“ betrat ich das Klassenzimmer.
Wie eingeübt klang es aus 18 Kinderkehlen: „Guten Morgen, Herr Lehrer! “
Vier Tischgruppen zu je drei Zweiertischen boten meinen Kindern Platz. Die hatte ich vorher in der Gruppenform zusammen gestellt.
Vor mir standen 6 Kinder aus der zweiten Klassen, weitere sechs besuchten die dritte Klasse und hinten rechts standen die Großen einer Grundschule.
Mein erster Weg führte an die Tafel, blank geputzt, aber uralt und mit teilweise gesprungener Oberfläche. Kreide war reichlich vorhanden, dafür hatte mein Vorgänger gesorgt. Mit großen Buchstaben schrieb ich meinen Namen an die Tafel.
Mir war dieser Begrüßungschor mit dem Abschluss Herr Lehrer zuwider. Es dauerte auch nicht lange, da reduzierte sich die Begrüßung auf das normale guten Morgen. Doch der Umweg ging über meinen Nachnamen.
„Ich bitte euch, auch damit ihr meinen Namen schneller lernt, beim Morgengruß hinter dem Gruß meinen Namen zu nennen.“
„Jawohl, Herr Lehrer!“
Sie waren es nicht anders gewohnt.
Auch hier dauerte es nur kurze Zeit und es ging anders.
Dann stellten sich alle Kinder mit ihrem Namen vor. Ich versuchte Zeit zu schinden.
Jeder musste zu sich etwas erzählen. Es fiel mir auf, dass sie sich mit freiem Erzählen sehr schwer taten. Überhaupt waren sie seltsam verklemmt, kaum ein freies Kinderlachen war zu sehen.
Vorher im Dorfe hatte ich das quirlige Kindervolk mit Freude beobachtet. Über Zäune ging es oder drunter durch. Hinter den Kühen liefen sie ohne Scheu her. Auf die Bäume konnten viele problemlos klettern. Lauf – und Hüpfspiele waren normal bei ihnen. Kaum ein Kind hatte Übergewicht.
Hier in der Schulstunde schien ihnen das Lachen vergangen zu sein. Sie wirkten wie eingesperrt, völlig verklemmt.
Als Mensch innerhalb des Dorfes hatten sie mich neugierig beobachtet, waren mir aber oft aus dem Wege gegangen.
Hier in der ersten Stunde baute sich in ihrer Kinderwelt eine übermächtige Autoritätsperson auf, welche ihnen den Atem nahm.
Meine Versuche mit kurzen Geschichten lockten ein kleines Lächeln hervor. Das gemeinsame Singen schien ihnen Spaß zu machen. Also sang ich die zweite Stunde, die erste war in Formalien gestorben.
Dann fiel mir nichts mehr ein.
„Kinder,“ begann meine Abschlussrede. „Für heute machen wir erst mal Schluss. Ihr geht nach Hause und grüßt eure Eltern von mir. Morgen geht es dann los mit der richtigen Schule. Auf Wiedersehen.“
Der Chor antwortete mit dem Abschiedsgruß plus Lehrer.
Nachdem die Kinder aus dem Schulgebäude waren, packte ich mein Fahrrad und ab ging es ins Nachbardorf. Dort sollte auch ein junger Lehrer sein.
Nach zwei Kilometern war ich im nächsten Dorf.
Die Schule war nicht zu übersehen. Ich klopfte an die Schultür.
Erstaunt schaute mich ein junger Mann an. Nachdem ich mich als neuen Lehrer von Suderbruch vorgestellt hatte, fragte er erstaunt:“ Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ich möchte kurz zuschauen dürfen, wie der Unterricht verläuft. Ich habe nämlich keine Ahnung, wie man eine einklassige Grundschule unterrichtet. Meine Ausbildung war eindeutig auf Haupt- und Realschule ausgerichtet.“
„Heute werden Sie nicht viel sehen können,“ war seine ehrliche Antwort.
„Doch nach dem Unterricht können wir uns kurz unterhalten.“
Mein erster Schultag begann mit Unsicherheit und schloss mit einem Gespräch über die Unterrichtsform im Nachbarort ab.
Mein Kollege erklärte mir in kurzen Worten, wie er einen Schultag organisierte. Für die erste Zeit half mir das.
Dann folgte ein Blick in seine Bibliothek. Etwas klüger fuhr ich zurück und bereitete den nächsten Tag vor.
©pk 01 / 07
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.01.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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"Schmetterlinge im Kopf und Bauch" ist mein holpriger lyrischer Erstversuch. Mit Sicherheit merkt man, dass es keine Lektorin gab, wie übrigens auch bei den anderen beiden Büchern nicht. Ungeordnet sind viele Gedichte, Gedankenansätze, Kurzgeschichten chaotisch vermengt veröffentlicht worden. Ich würde heute selbstkritisch sagen, ein Poet im Aufbruch. Im Selbstverlag gedruckt lagern noch einige Exemplare bei mir. Oft schau in ein wenig schmunzelnd in dieses Buch. Welche Lust am Schreiben von spontanen Gedanken ist zu spüren. Ich würde sagen, ein Chaot lässt grüßen.

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