Egon Tenert

Eine Flöte in der Dämmerung

Der Nachmittag, den ich mit Hilde verbracht hatte, war recht gemütlich verlaufen. Ein kurzer Einkaufsbummel durch die Altstadt, ohne Ziel und Absicht und daher auch ohne Hektik, dann ein Eis in der kleinen, unscheinbaren Eisdiele in einem Seitengäßchen, die schon seit vielen Jahren als rein italienischer Familienbetrieb geführt wurde und wo man so ausgefallene Sorten wie Mandarine, Kastanie oder Mandel finden konnte. Im Hintergrund die Reibeisenstimme von Adriano Celentano, der von einer knisternden, abgespielten Platte wohl schon zum tausendsten Mal „Azzurro“ sang, dieses Lied, das so sehr nach fröhlicher und unbeschwerter Urlaubslaune klingt und doch nur von einem einsamen Sommer voller Langeweile und Sehnsucht erzählt, einem Schicksal, das mir diesen Sommer erspart blieb,  mir jedoch aus vergangenen Jahren nur all zu gut vertraut war.

Ich hatte Hilde bei einer Vernissage kennengelernt, wo sie – ganz im Gegensatz zu allen anderen Besuchern – nach der Eröffnung der Ausstellung nicht gleich losgestürmt war und sich in die heiße Schlacht am kalten Buffet gestürzt hatte, sondern ganz allein und still daneben stand und in ihrem Katalog blätterte. Da sie anscheinend zu schüchtern oder zu ängstlich war, sich diesem Tumult auszusetzen, hatte ich ihr meinen Teller angeboten. Ich wußte, als versierter Vernissagenbesucher konnte ich mir jederzeit leicht Nachschub organisieren.

„Das ist wirklich lieb von Ihnen, aber ich bin auf Diät, weil ich abnehmen möchte. Na gut, dieses kleine Gurkensandwich werde ich probieren, damit ich Ihnen keinen Korb gebe.“

Ich hatte ihr zwar zu ihrer Disziplin gratuliert, aber doch zu verstehen gegeben, daß ich sie trotz ihrer überschüssigen Kilos durchaus nicht unattraktiv fand und ich an einer Vertiefung unserer Bekanntschaft interessiert sei.

Vor allem in den ersten Wochen hatten wir sehr viel Zeit miteinander verbracht, und es war mir anfangs gar nicht unangenehm gewesen, daß sie mich regelrecht in Beschlag nahm und ich sie fast immer um mich hatte. Ich mußte mir nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen, wie ich lange Abende oder Wochenenden verbringen sollte, und es war schön, nicht mehr allein aufwachen und frühstücken zu müssen. Daß ich meine Freunde und Freundinnen nur noch selten sah (einen „freien“ Abend in der Woche hatte ich mir noch bewahren können), war mir auch nicht gleich bewußt geworden. Wenn ich zu einer Party eingeladen war und sie selbstverständlich auch willkommen gewesen wäre, wollte sie nie mitkommen, was natürlich mein Gewissen belastete und mir den Spaß verdarb. Andererseits fühlte ich auch – obwohl sie es nie direkt sagte – daß es ihr nicht recht gewesen wäre, hätte ich während ihrer Anwesenheit Besuch empfangen. Sie ihrerseits schleppte mich jedoch regelmäßig zu ihrer Mutter (die nach einer Scheidung allein lebte und mit ihrem Alkoholproblem kämpfte – mit wechselndem Erfolg), zu ihrer jüngeren, aber bereits verheirateten Schwester, die auch schon ein Baby hatte und ein zweites erwartete, und zu ihrer einzigen Freundin, die zwar deutlich mehr wog als sie selbst, sich jedoch offensichtlich damit abgefunden hatte und sich beim Essen keineswegs zurückhielt.

Wir waren nun schon etwa ein halbes Jahr zusammen, wie man so sagt, doch wir wohnten noch getrennt. Das lag wohl zum großen Teil an ihrem Kater Carlo, einem verwöhnten und frechen Biest, das immer wieder auf den Tisch sprang, sich ungeniert von unseren Tellern bediente, Topfpflanzen umwarf und mit den Krallen zerfetzte und – was mich am meisten störte – schon all zu oft unser Liebesspiel gestört und unterbrochen hatte, weil Hilde es einfach nicht übers Herz brachte, ihren eifersüchtigen Liebling aus dem Schlafzimmer zu verbannen. Als wir vorgestern beim Chinesen waren, hatte sie, nachdem sie von meiner Buddhistischen Fastenspeise gekostet hatte, darauf bestanden, dass ich auch etwas von ihrer Pekingente nahm, doch als strikter Vegetarier hatte ich mich trotz ihres Drängens nicht dazu überreden lassen. Als mir das Ganze schon lästig zu werden begann, räumte ich boshafterweise ein, ich könnte mich ausnahmsweise doch auf ein Fleischgericht einlassen, aber dann käme für mich nur „Katze süß-sauer“ in Frage. Naturgemäß hatte sie darauf ihrerseits sehr sauer reagiert und für den Rest des Abends kein Wort mehr mit mir gesprochen, doch heute waren wir beide wieder versöhnlicher gestimmt und offenbar gewillt, den Rest des Tages möglichst harmonisch zu gestalten.

Nachdem wir unsere überdimensionalen Eisbecher vertilgt hatten, spazierten wir zur Verdauung noch durch den Park, der auf dem Weg zur Wohnung ihrer Schwester lag, wo wir zum Abendessen eingeladen waren. Nicht, daß mir ihre Schwester und ihr Schwager unsympathisch gewesen wären oder daß mir das Essen nicht schmecken würde, doch die zur Schau getragene Familienidylle mit dem ständig quängelnden Kleinkind, um das sich alles zu drehen schien und das eine zusammenhängende, niveauvolle Unterhaltung, wie sie unter gebildeten Leuten möglich sein sollte, immer wieder im Keim erstickte, führte mir nur zu deutlich die Zukunft vor Augen, die mich erwartete, falls wir einmal verheiratet sein sollten.

Mittlerweile war es schon Abend geworden; die Hitze des Tages hatte nachgelassen, und die unzähligen Tauben, die mit ihrem Kot die wenigen freien Parkbänke beschmutzten, ließen mich begreifen, wie Georg Kreisler, der geniale alte Chansonnier und Kabarettist, auf sein berühmtes Lied vom „Taubenvergiften im Park“ verfallen war. Plötzlich hörte ich – wie aus weiter Ferne – einen zarten Ton, der schwerelos in der lauen Abendluft zu schweben schien. Mitten auf der Wiese rechts neben dem Parkweg, unter einer großen alten Weide, stand ein alter Chinese, klein und zierlich und in einen weißen, weit geschnittenen Leinenanzug gekleidet, und spielte auf einer Bambusflöte eine schlichte, offenbar traditionelle Melodie. Ich war plötzlich wie verzaubert und vergaß alles andere rund um mich: Die lästigen Tauben, aber auch Hilde, ihre Schwester mit ihrer Familie und das Abendessen. Wie ein Echo aus einem früheren Leben drangen die ruhigen, sanft vibrierenden Klänge der Flöte an mein Ohr, wie Heimweh stach es mir ins Herz.

Bevor ich Hilde kannte, hatte ich mich regelmäßig mit einigen Freunden zu Tai-Chi-Übungen in einem anderen Park getroffen, da ich diese asiatische Art der Körperertüchtigung für äußerst gesund für Leib und Seele hielt und mich auch die geschmeidige Ästhetik dieser Bewegungen faszinierte, wie eigentlich fast alles, was an alter, überlieferter Kultur aus diesem Teil der Welt kommt. Daß ich ein Futon-Bett, einen Bonsai und ein Koto (eine japanische Zither, die Hilde zumeist nur spöttisch als „Kindersarg“ bezeichnete) besaß und mich nur vegetarisch ernährte, fand sie ziemlich verrückt. Obwohl sie mir oft versichert hatte, wie sehr sie meinen Humor, meine Intelligenz und nicht zuletzt meine leidenschaftliche Zärtlichkeit schätzte, fühlte ich doch nur zu deutlich, daß es Seiten an mir gab, die sie weder ernst nehmen noch akzeptieren konnte oder wollte. Ich hatte mich immer bemüht, sie zu verstehen und so zu akzeptieren wie sie war und sie nie kritisiert oder zu ändern versucht, schon froh, wenn niemand mich erziehen und bevormunden wollte.

Was für sie, die als tüchtige, effiziente Chefsekretärin einer großen Firma immer sehr rational dachte und für transzendentale oder gar religiöse Empfindungen unempfänglich war, nur eine weltfremde Spinnerei darstellte, spielte jedoch in meinem Leben eine nicht unwesentliche Rolle. Nicht, daß ich jemals besonders fromm und gläubig gewesen wäre, doch die auf die wesentlichen Dinge des Lebens konzentrierte Klarheit des Zen-Buddhismus, den ich zum Teil meiner Lebensphilosophie einverleibt habe, hat jedenfalls einen starken Reiz für mich. Es war auch für mich durchaus nicht undenkbar, daß ich wenigstens eine meiner früheren Inkarnationen in Asien gelebt habe, obwohl ich nicht fest und unbeirrbar an das Gesetz von Karma und Wiedergeburt glaubte. Ein guter Freund, der als Maler und Photograph künstlerisch tätig war, hatte mir nämlich vor mehreren Jahren eine Geschichte erzählt, die mir zu denken gab: Eine Bekannte, die ihn in seinem Atelier  besucht hatte, sah ein Photo von mir auf einem Tisch liegen und erklärte spontan, ohne mich jemals persönlich kennengelernt zu haben oder irgend etwas über mich erfahren zu haben, ich müsse in einem früheren Leben ein Japaner gewesen sein, sie fühle das ganz genau. Unabhängig davon hatte mir auch eine andere Frau, die mir mittlerweile eine gute Freundin geworden ist, nachträglich anvertraut, sie habe mich schon bei unserer ersten Begegnung in diesem Leben wiedererkannt, und zwar aus Japan, wo wir schon einmal, unter unerfreulichen Umständen, aufeinander getroffen seien.

Ich wäre wohl noch lange so dort gestanden und hätte verzückt dem Flötenspiel des alten Chinesen gelauscht, hätte mich ganz und gar in diesen Wirklichkeit gewordenen Traum versenkt und darüber  meditiert, hätte mich meine Begleiterin nicht energisch am Ärmel gezupft und weitergezogen.

„Komm endlich, oder willst du hier übernachten? Rita wird sicher schon mit dem Essen auf uns warten!“

Ich seufzte resigniert und sah sie traurig an. „Ja ja, ich komm´ ja schon“, sagte ich leise und warf noch einen letzten sehnsüchtigen Blick über die Schulter. Als wir weitergingen, wurden die Flötenklänge immer leiser, bis ich sie schließlich gar nicht mehr hörte. Ich hatte zwar keine Angst, aber auch keine Lust, mit ihr zu streiten, es hatte keinen Sinn, wie es auch letztendlich keinen Sinn hatte, daß wir noch lange ein Paar blieben, zusammenzogen oder gar heirateten und schließlich auch noch Kinder miteinander hatten. Wenn sie nicht die romantische Atmosphäre dieser Situation mit mir teilen konnte, würde sie wohl nie wirklich verstehen, wie ich im Innersten fühlte und dachte. Nach all der Zeit, die wir miteinander verbracht hatten, nach all den Küssen und Umarmungen war ich ihr offenbar fast so fremd geblieben wie dieser alte Chinese und würde wohl immer ein Fremder für sie bleiben, das war mir plötzlich klar geworden, ohne Zweifel.

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.01.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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