Nachdem ich in meiner ganz wilden Zeit einige Male den
halben, den ganzen oder auch mal mehr als einen Tag ohne Essen erlebt habe,
weiß ich, dass der Hunger sich mit der Zeit vom angenehm leichten Gefühl der
Reinheit zu einem die Gedanken beherrschenden Ziehen entwickeln kann, das Ziel gerichtetes
Denken nicht solange zulässt, wie man benötigt, um eine wichtige Sache, die ein
Mindestmaß an Konzentration erfordert, zufrieden stellend zu Ende zu bringen.
Vor dem Frühstück aus dem Haus zu gehen, um Zutaten zu
besorgen vermeide ich durch vorausschauende Lebensmittel-Logistik.
Es ist schließlich sogar schon vorgekommen, dass mir ein
fehlendes oder in Bezug auf Nahrhaftigkeit dürftiges Frühstück die Laune
verderben konnte.
Mit zunehmendem Alter sehe ich das allerdings nicht mehr so
eng, ich sehe es auf jeden Fall differenzierter. Mit den Jahren hat sich mein
Verhältnis zum Frühstück relativiert. Es ist schon noch meine wichtigste
Mahlzeit, aber mittlerweile gehe ich beispielsweise samstags gern vor dem
Frühstück auf den Wochenmarkt um die Ecke, um frisches Obst, Gemüse und
Backwaren zu erstehen.
Natürlich gibt es immer mal Umstände, die einen zwingen,
kurz vor dem Aufwachen überstürzt das Haus zu verlassen und irgendwann im Laufe
des Tages, wenn sich ein bisschen Zeit ergibt, nach etwas nahrhaftem, frischem
und möglichst auch noch gesundem Ausschau zu halten. Dabei wurden meinem
Ernährungsanspruch fast jedes Mal Zugeständnisse abgerungen. Das waren bei mir
dann meist Tage, an die ich mich später nicht so gern erinnerte. Das kann nicht
gesund sein. Und das ist für mich nun mal neben der Sättigung ein ganz wichtiger
Aspekt. Schon als kleiner Junge habe ich dieses Kriterium geachtet und laut
meiner Mutter jedes Mal, wenn etwas Neues auf den Tisch kam, gefragt: is das
desund?
Außerdem findet bei Über-Vierzigjährigen die Gesundheit und
ihre Vorsorge enorme Beachtung zum einen durch die Krankenkassen – wenn man
nur einen geringen Teil der für meine Altersgruppe empfohlenen
Arzt-Konsultationen in Anspruch nimmt, kann es schon sein, dass Arztbesuche
öfter als wöchentlich stattfinden und man monatlich für einige Tausender Umsatz
beim Onkel Doktor sorgt – und durch Ärzte, die in dieser Altersgruppe eine
besondere Kundenbindung anstreben, – was bei der derzeitigen Existenzgefährdung
der Berufsgruppe durchaus verständlich ist – die immerhin 30 – 40 Jahre dauern
kann, zum anderen hat man von durchstandenen Quälerereien im Kiefer-, Rücken
und/oder Kniebereich einen schmerzhaften Schuss vor den Bug bekommen. Und so
nimmt die Bedeutung des Gesundheitsaspektes mit den Lebensjahren zu. Jedenfalls
bei mir.
So war es in den letzten Jahren schon fast zur Routine
geworden, auf das Frühstück zu verzichten und mir die erste Zigarette zu
verkneifen, ja nicht einmal einen Bonbon lutschen zu dürfen, weil mir Blut
abgenommen werden sollte oder, wie heute zum dritten Mal, mir eine Narkose
bevorstand.
Das fand auch dieses Mal zum Glück am Morgen statt. So ein
bis zwei Stunden lässt sich das schon mal mit leerem Magen aushalten.
Eigentlich war auch immer so ein Sonnenschein wie heute und
der leere Magen fühlte sich angenehm an. Ich war ausgeschlafen und fühlte mich
gesund, rein und präsent.
Auch die Spritze tat nicht weh. Frauen machen das einfach
besser. Ich habe noch eine Weile mit der Anaesthesistin geplaudert und bin dann
sanft aber doch ziemlich schnell sehr müde geworden. –
Irgendwo von weither hörte ich: So wir müssen jetzt noch
einen Abdruck machen. Machen Sie den Mund noch mal weit auf. – So und jetzt
zubeißen. Irgendwie musste das wohl geklappt haben.
Auf mein Nachfragen, was sie mir denn gegeben hätte, sagte
die Narkoseärztin irgendwann: Valium. Auch schön, angenehm.
Ich kann mich dunkel erinnern, dass man mir aus dem
Zahnarztstuhl hoch half und mich in ein anderes Behandlungszimmer geleitete.
Egal ob ich stand, saß oder lag, ich war von Wattebäuschen umgeben. Meine
Gedanken konnte ich nicht recht festhalten, aber dazu bestand auch keine
Veranlassung. Ich ließ mich einfach gehen von Hier nach Jetzt und wieder zurück.
Und dort traf ich dann Jörg, mit dem ich verabredet hatte,
dass er mich abholt. Ich hatte wohl nicht lange dort gesessen, jedenfalls hatte
ich es so empfunden, als er hereinkam.
Jetzt weiß ich, dass ich, vorsichtig ausgedrückt, ein
verändertes Bewusstsein hatte, als ich anregte, frühstücken zu gehen. Das war
eine rein körperliche oder besser verkörperte Gedankenäußerung aufgrund meiner
obigen Schilderung, denn an ein Hungergefühl zu jenem Zeitpunkt kann ich mich
nicht im Geringsten erinnern. Aber es musste wohl so sein.
Als wir mit Jörgs rotem Strichachter losfuhren, fragte er
mich, wo es hingehen sollte. Ganz automatisch kam mir das Lokal in der
Calenberger Neustadt in den Sinn, da müsste es doch auch Frühstück geben.
Wir waren auf der Terrasse die einzigen Gäste und setzten
uns an einen Sonnenstrahl. Ich habe im Laufe etwa einer Stunde doch relativ
mühsam drei kleine Pfannkuchen mit Ahornsirup verzehrt und einen großen
Milchkaffee getrunken.
Jörg hatte noch eine Verabredung. Deshalb schlug ich ihm
vor, dass er losführe und ich zu Fuß nach Hause ginge. Es war nicht sehr weit.
Vielleicht 1 km. Jörg war um mich besorgt und fragte dreimal, ob ich denn gehen
könnte. Ich ging versuchsweise ein paar Schritte auf und ab und war mit dem
Ergebnis zufrieden. Bin ja schließlich kräftig und sportlich, na hör mal.
Nachdem ich Jörg mehrfach versicherte, dass ich das schon schaffen würde, fuhr
er schließlich los.
Ich ging am Hastra-Gebäude vorbei, über die Ihmebrücke und
entschloss mich kurzerhand, durch das Ihme-Zentrum zu gehen, um mir bei
Sado-Hansa eine CD zu kaufen. Ich hatte einen bestimmten Song im Ohr.
Ganz kurz überlegte ich, ob ich ein Risiko eingehen würde,
wenn ich jetzt von meinem Weg abwich. Nun, ich war nicht mehr so ganz sicher
auf den Beinen wie bei den ersten Schritten und es hatte sich ein latentes
Gefühl leichter Übelkeit eingestellt. Aber wenn ich mich gemächlich bewegte,
würde das schon gehen. Die Hälfte des Weges hatte ich ja schon fast geschafft.
Es war auch kein allzu großer Umweg.
Das Ihme-Zentrum ist allerdings ganz schön lang. Und es gibt
eine Menge Geschäfte und viel zu schauen auf dem Weg zum Elektronikmarkt, der nun mal gerade
am anderen Ende liegt. Zuerst ein Klamottenladen. Im Schaufenster sah ich sehr
preisgünstige Sweatshirts. Also rein. 2 schwarze waren es dann, die ich
mitnahm. Hatte ich schon länger gesucht. Vor allem suche ich immer solche Kleidungsstücke
ohne plakativen Aufdruck. Sie sind nicht mehr oft zu finden.
Es ist doch irgendwie seltsam. Ich erinnere mich noch gut,
dass man früher dafür bezahlt wurde, wenn man für eine große Marke Werbung
lief, weil man dem Unternehmen schließlich nützte. Heute kostet ein Shirt, auf
dem groß der Hersteller prangt, gleich mindestens das Doppelte und die Kids
reißen sich drum. Und sie zahlen diese Fantasiepreise, ohne mit der Wimper zu
zucken. Kann mir das einer erklären?
Gleich nebenan war ein Schuhladen. Nicht dass ich unbedingt
Schuhe brauchte, aber ich habe bei manchen Dingen einen seltenen Geschmack und
schaue deshalb hier und da mal rum, ob mich etwas anguckt. Bei Turnschuhen war
nichts interessantes, die werden nur immer bunter, und bei den sportlichen
Straßenschuhen ebenso nicht. Auch ganz gut, so brauchte ich nicht zu viel zu
schleppen.
Ich stöbere ja ganz gerne und dabei fand ich mich wieder in
einem dieser Billigmärkte, wo man unglaubliche Sachen, ich meine Dinge, von
denen man nie wusste, das man sie gebrauchen könnte, findet. Aber man findet
auch schon mal was Praktisches. Ich habe mir einen neuen Holzkochlöffel und
Pfeffer- und Salzstreuer gekauft.
Als ich wenig später anfing, mich mit der Auslage des
Elektronikbauteilegeschäftes anzufreunden, hatte ich plötzlich einen lichten
Moment und sagte mir, du wolltest zu Saturn, also geh auch und verfussel dich
hier nicht.
Ob ich den Blumenladen, den Modellbau-Shop, den
Philatelie-Laden und einen weiteren Klamottenmarkt heimgesucht hatte, kann ich
heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Wahrscheinlich eher nicht. Ich muss
wohl schon das eine oder andere Geschäft übersprungen haben. Zumindest und zum
Glück habe ich dort nichts erstanden.
Schließlich Sado Hansa. Ich genoss kurz den stehenden Moment
auf der Rolltreppe und steuerte dann in die Tonträgerabteilung, ließ meinen
routinierten Blick über die Regale schweifen, blieb nirgendwo hängen und ging
deshalb zum Verkäufertresen.
Wie schon einige Male vorher wusste ich nicht sicher, wie
der von mir gesuchte Titel hieß, geschweige denn, dass ich die Interpretin
kannte. Ich musste also einen musikalischen Verkäufer finden, dem es reichte,
wenn ich den Refrain sänge.
Manchmal merkt man erst, nachdem man gesungen hat, das das
Gegenüber, obwohl es im weitesten Sinne für die Musikbranche arbeitet, keine
Empfänglichkeit für die Welt der Töne besitzt, und das heißt dann, dass man
mindestens noch einmal singen muss.
Auf jeden Fall habe ich schließlich immer den Song gefunden,
den ich gesucht habe – und so auch heute. Der Song war sogar auf 2 CDs der
Sängerin enthalten. Ich hörte mir beide an und entschied mich für die ältere,
weil mir auf ihr mehr Stücke gefielen. Das ist übrigens auch ein immer
häufiger anzutreffendes Phänomen. Das und dass bereits bekannte Songs auf neuen
Alben in immer wieder neuen Variationen aufgenommen werden, kann ich mir aber
erklären. Dahinter stecken die Knebelverträge und der Existenzdruck der
Tonträgerindustrie. Die Arme, Darbende.
Ich hatte die 2 CDs in der Hand und war nur einen kurzen
Augenblick unkonzentriert. Dummerweise genau in dem Moment, als ich die eine CD
wegstellte und mit der anderen zur Kasse ging.
Von der Entscheidung für den Kauf der einen CD bis zum
Wegstellen derselben vergingen vielleicht 3 oder 4 Sekunden, die ausreichten,
um meinen Gedankenfluss einen Schlenker machen zu lassen, von dem er nicht
wieder in das alte Flussbett zurückkehrte. Die Abweichung kann daher gekommen
sein, dass mir das Stehen beim Anhören der CDs schwer fiel, mich über Gebühr
anstrengte und ich mich tatsächlich am Tresen festhalten musste. Also,
eingeschränkte Leistungsfähigkeit hat wohl bei den darauf folgenden Handlungen
eine dominierende Rolle gespielt.
So jetzt aber nach Hause, mein Sofa ruft. Ich ging doch
etwas eierig. Mein für gewöhnlich recht forscher Schritt war mir seit der
Begegnung mit Valium abhanden gekommen und ich empfand reichlich Watte um mich
herum. Nur langsam, regelmäßig atmen, nicht zu schnell den Kopf bewegen und
hier und da mal kurz festhalten.
Ich musste es wohl irgendwie bis in meine Höhle geschafft
haben. Nur kann ich mich eines großen Teils des Weges nicht mehr entsinnen. Der
ganze immerhin erhebliche Rest des Tages kommt mir im Nachhinein sehr kurz vor.
Da muss doch noch dies und das gewesen sein. Dunkel erinnere ich mich noch,
dass ich beim Kaffeemachen mit der Tücke einiger Objekte kämpfte und das Ganze
eine eher umständliche und zeitraubende Angelegenheit war. Aber war das Alles?
Hatte ich damit den Rest des Tages verbracht?
Wie auch immer, es ist wohl müßig, darüber noch weiter
nachzugrübeln. Der Tag ging vorbei, wie er es eben so tut, und ich musste wohl
auch noch den Weg in mein Bett geschafft haben, denn ich wurde am nächsten
Morgen im Sonnenschein wach, fühlte mich gut ausgeschlafen und richtig fit.
Bei den morgendlichen Verrichtungen versammelten sich meine
Gedanken so langsam wieder, guckten sich teilweise verständnis- und ratlos an
und warfen die eine und andere Frage zum gestrigen Tag auf. Offenbar klafften
in meinem Bewusstsein zahlreiche kleinere und größere Lücken.
Mein Blick fiel auf eine mir unbekannte Plastiktüte. Ich
entnahm ihr 2 schwarze Sweatshirts und es dämmerte etwas. Ich sah sie mir
genauer an. Zumindest das Eine kam mir ziemlich groß vor. Ich probierte es an
und, als ich das Ergebnis sah, fragte
ich mich, wie ich so etwas hatte kaufen können. Mindestens 3 Nummern zu groß.
Na ja, das andere ging so gerade, wenn es auch keine gute Form hatte und einen
V-Ausschnitt. Na so was, bei einem Sweatshirt? Das zu große musste ich auf
jeden Fall umtauschen.
Nun, es war nicht so schlimm, dass ich schließlich doch die
jüngere CD nach Hause trug, ich konnte mich in der Zwischenzeit auch mit dieser
anfreunden. Nur wollte ich eigentlich die andere CD verschenken. Na ja, dann
kann ich die ja auch noch kaufen.
Den Kochlöffel und die Gewürzstreuer entdeckte ich erst Tage
später und es kam erstaunlicherweise keine Reue auf. Doch doch, nützliche
Dinge.
Etwas mulmig wurde mir, als ich mich an mein Herumgetapere
kreuz und quer durch Linden erinnerte, oder besser gesagt, Erinnerungsfetzen
von ein paar kritischen Momenten dabei vor meinem geistigen Auge erschienen.
Habe mich da wohl doch wieder überschätzt, wollte wie so oft möglichst viele
Dinge miteinander verbinden, bin unter den gestrigen Umständen leichtsinnig
gewesen. Aber wie meistens, habe ich Glück gehabt.
Als ich mich dann mit meiner Müslischale am Tisch niederließ
und zu essen begann, blieb mein Blick an einem grünen A4 Blatt hängen.
'Hinweise für Operationspatienten'. Aha. Das hatte ich schon mal gesehen, mich
in der Eile aber nicht mit beschäftigt. Ich begann zu lesen.
Die üblichen vorbeugenden Vorsichtsmaßnahmen waren zu
treffen, nicht essen, nicht rauchen usw. Hm ja, kennen wir ja.
WICHTIGE HINWEISE!:
Nach der ambulanten OP lassen Sie sich von einer nahe stehenden
Person abholen und nach Hause bringen. OK, OK.
Sie sind nicht in der Lage ein KFZ zu führen. OK.
Sie sind nicht zur Teilnahme am Straßenverkehr in der Lage.
Hm.
Vermeiden Sie körperliche Anstrengungen. Na ja.
Organisieren Sie, dass jemand den Rest des Tages mit Ihnen
verbringt und Ihnen Hilfestellungen leistet. So so.
Sie sind nach der Narkose nicht geschäftsfähig, vermeiden
Sie unbedingt den Kauf von Waren. Aaaha.
Ich bin doch wirklich vom Glück gesegnet. Wenn ich mir
vorstelle, ich wäre noch bei einem Autohändler, bei einem Juwelier oder gar
einem Immobilienmakler vorbeigekommen...
Werde gleich erstmal zum Ihme-Zentrum gehen.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Alexander Petrovic).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.01.2007.
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Dich: Gedichte
von Walter L. Buder
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