Leon Rutan

aus: die eisfahne

Langsam knetete ich die Haut meines Gesichtes, indem ich an dieser Epidermismaske hin und her rüttelte und sie mir abzuziehen versuchte. Eine Geschichte wollte erzählt werden, aber still war es trotzdem in meinem Kopf. Zwischen den beiden Gehörgängen baute sich –naturgemäß im periodischen Wechsel- ein stabiles elektrostatisches Feld auf. Die Energie meiner Gedanken schien zu versiegen - etwas unentschlossen legte ich meinen hölzernen Bleistift in die Federmappe.

Ich arbeitete seit drei Tagen ununterbrochen an der Typographie der Südküste und verschwand tagsüber, vor den neugierigen Blicken, hinter einer monumentalen Faltung meiner Land- und Seekarten. Mit roter Tinte trug ich die neuen Namen unserer Stationen feinsäuberlich in die ausgebreiteten Papiere ein und notierte mir zu jedem Namen einen kleinen reimenden Vierzeiler. Ein Freund von mir war begeisterter Taucher bei den Kommunisten- so nannten wir die Abteilungen der Meeresbiologen, die sich ausschließlich mit Pinguinen beschäftigen- und tauschten bei den Gruppenbriefings diese kleinen Reimzettel aus. Ich sammelte diese Zettel in einem gebräuchlichen Papierkarton.

Mein Arbeitsraum war sehr unordentlich und vollgestellt mit Aktenschränken und anderem Mobiliar, das Tausenden Informationsträgern Platz bot. Meine Schlafstelle war ein winziges Metallbett. Die Farbe des Aluminiumrohrgestells war abgeblättert und legte Rost frei.

In meiner Freizeit las ich viel. In den ewig langen Nachtsymphonien des arktischen Wüstenwindes vertiefte ich mich in die Sprachlandschaften der klassischen italienischen Poesie: ich ließ mir die Kanzonen und Sonettsammlungen des Petrarca zuschicken und war in Erwartung, die Briefe, den sagenumwobenen Mont Vintoux Text einschliesslich, in Bälde zu bekommen. Ausserdem las ich unentwegt in den feurigen Konstruktionen der Dantischen Terzinen und versuchte, wenn ich Muße hatte, einige Passagen ins Deutsche zu übertragen. Diese schlottrigen Dantehefte legte ich sorgfältig zu den wissenschaftlichen Berichten über die Ergebnissee der Höhenmessung und den Notizen meines dichtenden Taucherfreundes.

Ich will aber auch erwähnen, dass wir Zugang zum Fernsehen hatten und die nächstbesten Sender ohne Probleme empfangen konnten, nur bin ich wohlgemerkt kein großer Freund dieser Unterhaltungsindustrie.

Außerhalb der Übersetzungen des alten Italieners entstanden kleine Gedichte, Textfragmentchen, die ich nie vorlas, oder sonst wie der Öffentlichkeit zugänglich machte. Überhaupt war diese Öffentlichkeit an unserer Station an den Glanzstücken europäischer Literatur wenig interessiert; im Gegenteil- ich war der einzige Mensch im Wohnblock, der für die physikalisch- geologischen Fragestellungen recht wenig übrig hatte.

Ein kartografischer Assistent wurde ich aus einem zufälligen Ereignis heraus: Meine Nichte, ein deutsches Vollweib, hatte mich nach Köln eingeladen, damit ich endlich etwas vernünftiges aus meinem -  bis dato eher als verschleudert zu bezeichnendem – Dasein basteln solle. Ich stieß auf eine Gruppe enthusiastischer Geologiestudenten und ließ mich über  die neusten Forschungsergebnisse aus der Antarktis unterrichten. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich meine Zeit mit einem Studium der Nautik und Physik ausgefüllt, bin mir aber seit langem sicher gewesen, nicht unter diesen faden Segeln in den Ozean des Lebens stechen zu wollen. Meine Bindung zur Wissenschaftlichkeit und den Lehrtugenden würde ich heute als lax bezeichnen.

Ja, wie andersartig ist es mit der Poesie... Studienzeit war für mich die Zeit des beflügelten Wortes: Mir schlug das Herz schneller beim Lesen eines Valery oder beim morgendlichen Rezitieren der Duineser Elegien. Ich lass ständig französische Autoren, vergötterte Appollinaire und die Surrealisten, spürte aber auch Kraftvolles und Bahnbrechendes aus den Versen der deutschen Expressionisten herausblicken zu können. Selbst die fremdartigen Stimmen unserer neuen Lyrik, einer Lyrik, die Auschwitz überstehen musste, begeisterten mich.

Ich war also ein technischer Student; ein Mann der Tat, eigentlich auch ein Gratwanderer zwischen Kneipenmusik und Katheder, las unerlaubt Ehrenstein und Gorki in illegalen Übersetzungen und kopierte klammheimlich die automatischen Gestaltungswege der französischen Surrealisten.

Meine Eltern, beide pensionierte Mathematiklehrer, starben noch kurz vor dem Krieg in Dänemark- ihnen blieben die Wirren des Krieges erspart. Ich hatte immer kein Geld und diese Studentengruppe nahm mich wohlwollend als Mitglied in ihre Reihen auf. Bemerkenswert und faszinierend schien mir die Tatsache, dass sich die Neuzugänge – darunter drei Männer und eine Frau – einer ritualisierten Selbstwaschung unterziehen sollten. Dieses, höchst eigenartige Erlebnis, sollte die inneren Kräfte des Menschen an die Oberfläche bringen und die Seele von innen heraus reinigen.

Wir vollzogen die ca. dreistündige Zeremonie im deutschen Teil des Erzgebirges. Der genau Ort ist mir leider entfallen.

Die Gruppe, die sich stolz „Bund der Winde“ nannte, war eine etwa 100 Jahre alte Vereinigung von Wissenschaftlern und Mönchen, die sich darum bemühten, die nachgelassenen Schriften des lettisch-jüdischen Geologieprofessors Trunstein zu erforschen. Trunstein lebte im siebzehnten Jahrhundert und soll angeblich ein geheimes Palimpsestpergament aus einer nicht näher bekannten Quelle erhalten haben, in der...

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Leon Rutan).
Der Beitrag wurde von Leon Rutan auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.01.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Leon Rutan als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Knuddelbuddelbuntes Kinderland: Festeinband für das Vor- und Erstlesealter von Edeltrud Wisser



Ein Kinderland ist erlebnisreich, bunt und verlockend.
Diese Vielfalt ist in Form von Reimgedichten beschrieben.
Festeinband für das Vor- und Erstlesealter, mit farb. Abb. und Ausmalbildern
Ein Teil des Erlöses aus dem Buchverkauf fließt der Stiftung Fly&Help zu.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Erinnerungen" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Leon Rutan

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der wehklagende Schrei des August Stramm von Leon Rutan (Trauriges / Verzweiflung)
Ein Amerikaner in Paris von Rainer Tiemann (Erinnerungen)
Vom Glück, eine Katze zu haben von Mylène Frischknecht (Gedanken)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen