Das Haus auf dessen Dach sich Rene befand, stand in einer
alten Gründerzeitstrasse. So waren die Häuser nicht besonders hoch, standen eng
nebeneinander und auch die Häuserreihe gegenüber befand sich immer noch nahe
genug, um deutlich in die Wohnungen bzw. auf die Balkone der einzelnen Mieter
sehen zu können. Ein Frau war auf die Terrasse ihrer Dachgeschosswohnung
getreten und das Öffnen der Balkonglastür hatte die Sonne reflektiert. Sie trug
einen seidenen Morgenrock und ihre Haare fielen lang und zerzaust über ihren
Rücken. An der Balustrade der Terrasse hingen große Pflanzentöpfe, die mit
üppigen Grünpflanzen bestück waren. Sie streifte mit ihren Händen über die
Blumen und Sträucher und vermittelte den Eindruck, sie würde jede einzelne
damit willkommen heißen. Plötzlich lächelte sie und blickte genau in Renes
Richtung. Das kam für ihn so überraschend, dass er sich vor Schreck erst mal
auf den Hintern setzte. Immer noch lächelnd, drehte sich die Frau um und ging
wieder in ihre Wohnung. Rene hatte Herzrasen und konnte sich nicht einmal
erklären, was gerade eben mit ihm passiert war. Nach wie vor starrte er auf die
Terrasse gegenüber und konnte seinen Blick erst abwenden, als ein langer
Schatten auf ihn fiel. Der Vorarbeiter stand vor ihm und machte mit der Hand
eine Geste, die wohl die Frage ausdrücken sollte was denn los sei. Rene stand
auf, winkte ab und arbeitete weiter, nicht ohne sich immer mal wieder
umzudrehen und darauf zu hoffen, dass die Tür erneut offen und die Frau auf der
Terrasse stehen würde. Aber der Tag und auch die beiden nachfolgenden Tage
vergingen, ohne dass Rene die Frau wiedersah. Den Kollegen blieb die Unruhe,
mit der Rene die Tage auf dem Dach zubrachte, nicht verborgen und so wurden die
Frühstück- und Mittagspausen dazu genutzt, um Rene Tipps in Sachen
Fraueneroberung zukommen zu lassen.
Die Männer schrieben ihre Einfälle auf das Papier, in das
ihre Frauen ihre Brote einwickelten. Bestimmt wäre die eine oder andere
Ehefrau, ob der Ideen ihres sonst doch eher einfallslosen Mannes, hoch erfreut
gewesen. Aber Rene fand zu den Vorschlägen keinen richtigen Zugang. Jeder
einzelne Plan, hätte von ihm erfordert, dass er sich der Frau zu erkennen geben
und sie zu einer gemeinsamen Aktivität einladen musste. Noch nie war Rene von
sich aus, auf einen Menschen zu gegangen und allein der Gedanke daran, war für
ihn so abwegig, dass er die Ratschläge seiner Kollegen zwar dankend entgegen
nahm, aber nicht im Traum daran dachte, auch nur einen davon in die Tat um zu
setzen. Das Schicksal würde es schon fügen, wenn es denn so
sein sollte, rechtfertigte Rene seine
Passivität vor sich selbst. In den folgenden Tagen rechnete Rene nicht
mehr damit die Frau wiederzusehen. So kam er unvorbereitet von der Mittagspause
zurück, sah mehr aus Gewohnheit als aus Zuversicht in Richtung der Terrasse und
fand die Frau dort schlafend auf einem Liegestuhl vor. Ein Schulterklopfen
löste ihn aus der Starrheit, die ihn beim Anblick der Frau befallen hatte.
Seine Kollegen standen hinter ihm und grinsten breit über ihre Gesichter. „Na
los, mach was!“ drängten sie ihn. „Sollen wir für dich rufen?“ schrieben sie
ihm auf einen Zettel. „Nein! Bloß nicht“ kritzelte Rene .
Inzwischen saß die Frau aufrecht auf ihre Liege und sah die
Männer direkt an. Rene war die ganze Situation peinlich und versuchte, die Männer wieder zur Arbeit zu
bewegen. Widerwillig ließen Sie ihn stehen und verstreuten sich auf dem Dach.
Zurück blieb Rene und die Frau. Zaghaft hob er seinen Arm und winkte.
Die Frau zeigt keine Regung, stand auf und verschwand im
Haus. Winken, was für eine blöde Idee. Rene ärgerte sich darüber, dass er sich
durch die Männer bedrängt gefühlt hatte, überhaupt etwas zu tun. Die erhaltene
Reaktion war unmissverständlich.
An diesem Abend fühlte sich Rene zum ersten Mal in seinem
Leben, nicht wohl in seiner Haut. Die Arbeiten an dem Haus waren fast
abgeschlossen und die Chancen die Frau jemals wirklich zu treffen, lagen bei
Null. Alle Ereignisse in seinem Leben, schienen ihm immer wie von selbst
geschehen zu sein. Die Schule, die Ausbildung alles war ihm nur passiert. Keine
bewusste Entscheidung hatte Rene hierher geführt. Selbst seine Freund-schaften,
auch die mit Frauen, hatten sich nie durch Zutun von Rene ergeben. Er war ein
Abwarter, ein Brotkrümelaufheber. Doch jetzt war Schluss, in dieser Rolle gefiel
er sich nicht mehr. Diese Frau sprach sein Herz an und er wollte, wenn auch
nicht mit seiner Stimme, laut und deutlich antworten.
Der Tag versprach wunderbar sonnig zu werden, als Rene seine
Vorbereitungen auf dem Dach abschloss. Nun musste sie nur noch auf die Terrasse
kommen . Der Vorhang wurde beiseite geschoben, die Balkontür geöffnet und die
Frau trat heraus. Rene stand auf, zog an einer Schnur, die sich zu seinen Füßen
befand und ein Transparent mit der Aufschrift: Ich will dich kennen lernen! Gib
mir ein Zeichen! spannte sich über das Hausdach. Hätte Rene hören können, wäre
ihm die Stille aufgefallen. Keiner seiner Kollegen arbeitet, oder sprach ein
Wort. Die Frau ging weiter zum Ende der Terrasse, strich über ihre Blumen, sah
zum Dach, lächelte und verließ ohne ein Zeichen den Balkon. Rene ließ die
Schnur los und das Transparent klappte wieder nach hinten.
Die Männer kamen mit Pfiffen über das Dach gelaufen und
nahmen Rene tröstend in ihre Mitte. Sie erklärten ihm, dass es so eine
arrogante Zicke gar nicht wert wäre, dass sich
ein feiner Kerl wie er jetzt schlecht fühlte. Jeden Tag gäbe es eine
neue Chance und er hätte heute erst damit begonnen diese auch zu nutzen.
Natürlich hörte Rene nichts von all dem, aber das beständige Schulterklopfen
und die grimmigen Gesichter der Männer ließen ihn trotzdem verstehen.
Sara war froh, dass die Tage nun endlich wieder wärmer
wurden. Den Winter eingesperrt in der Wohnung zu verbringen, fiel ihr von Jahr
zu Jahr schwerer. Die ganzen Monate über sehnte sie sich nach ihrer Terrasse
und ihren Pflanzen. Es war gut, dass ihre Mutter heute vorbeigekommen war. Sie
fühlte, dass das Unkraut in den Pflanzentöpfen schon wild wucherte, trotzdem
war sie sich nie ganz sicher, ob sie nicht doch aus Versehen, das falsche
Gewächs ausrupfte. Gemeinsam saßen sie nun auf der Terrasse, tranken Tee und
die Mutter schilderte ihrer Tochter die neuen Farben des renovierten Hauses von
gegenüber.