Wolfgang Scholmanns

Nach der zwölften Stunde

Eine kleine, etwas rundliche Frau betrat seine Praxis. Ihre traurigen Augen zeigten scheue Blicke, die durch sein Büro schweiften und sich schließlich hilfesuchend an seine Lippen klammerten. „So sagen sie doch etwas. Warum sehen sie mich so an?“ „Guten Tag, bitte nehmen sie Platz. Ich bin Dr. S., was kann ich für sie tun?“ „Ich bin mir gar nicht so ganz sicher“, sagte sie. Ich glaube ich möchte eine Psychoanalyse beginnen. Ich habe zwei kleine Kinder, bin alleinerziehend und wünsche mir nichts mehr, als eine richtige Familie, mit Mann und …… bitte helfen sie mir, ich …….. .“
Ausgemergelt, durch die Hoffnungslosigkeit ihre Krankheit doch irgendwann zu überwinden, saß sie vor ihm. Er erkannte schnell, dass sie unter schweren Depressionen litt. Die Behandlung verlangte äußerst viel Geduld und Zeit. Innere Kämpfe, die wohl unbewusst in ihr abliefen, mussten ihr durch die psychoanalytisch orientierte Psychotherapie bewusst gemacht werden.
Nach den ersten Vorgesprächen vereinbarten sie zunächst eine Psychoanalyse mit vier Stunden pro Woche. Die ersten vierhundert Stunden finanzierte die Krankenkasse und dann müssten sie sehen, wie weit sie wären und ob eventuell benötigte weitere Stunden beantragt werden müssten.
Im Verlauf der ersten Therapiestunden gab sie zu erkennen, dass bei ihr, seit einiger Zeit, die Nähe anderer Menschen, besonders die von Autoritäts- personen oder Männern, Angst auslöse und sie auch das Gefühl habe, dass es immer schlimmer würde. Auch würden sie Schuldgefühle quälen, die sie nicht zuordnen kann. Sie käme sich dann immer so klein vor und würde sich am liebsten in eine dunkle Ecke verkriechen. Manchmal würde sie gerne den ganzen Tag im Bett bleiben aber, da würde sie in letzter Zeit auch von Angstgefühlen geplagt. Am Besten wäre es wohl, wenn sie ihr Leben beenden würde. Dann hätte ihr Leiden ein Ende.
Von suizidalem Verhalten, war anfänglich keine Spur zu erkennen und Dr. S. war ein wenig überrascht als er diese Äußerung vernahm. Suizidales Verhalten ist bei jeder therapeutischen Methode von höchster Priorität. Hier muss man abwägen ob es nicht vielleicht besser wäre, den Klienten in eine Klinik einzuweisen wo er medikamentös und therapeutisch behandelt wird. Er hatte aber nicht den Eindruck, dass die Belastung bei seiner Klientin so groß war, dass eine akute suizidale Gefährdung zu befürchten sei, denn er glaubte zu spüren, wie sie sich im Laufe der erst zwölften Therapiestunde, immer mehr öffnete und auch viel selbstbewusster erschien. Auch, dass sie am Ende dieser Stunde sagte, dass es ihr schon besser ginge und sie sich bei ihm bedankte, bekräftigte ihn in seinem Verhalten.
Zwei Tage später, es war Samstag und er saß mit seiner Frau beim Frühstück, las er in der Tageszeitung, dass am Rheinufer die Leiche einer ca. 40jährigen, kleinen, etwas rundlichen Frau von Spaziergängern entdeckt worden war. Auf dem danebenstehenden Foto, erkannte er seine Klientin.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.02.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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