Nicolle Eccarius

Der Buchengeist

Es gab zu irgendeiner Zeit an irgenteinem Ort auf diesem Erdenball einen Wald, in dem
sich Birken, Kastanien, Eiben, Kiefern, Fichten, Erlen, Buchen, Eichen und Tannen
gleich wohl fühlten. Es spielt keine Rolle, auf welchem Breiten- oder Höhengrad dieser
Wald sich befand oder wer ihn wann angepflanzt bzw. wer ihn wann zu welchem Zweck
abgeholzt hat. Es gab diesen Wald, und wenn er auch nur eine Fiktion für die Länge
einer Geschichte in eines Schriftstellers Kopf war; es gab ihn.
Neben den vielen Schonungen und Gruppierungen verschiedenster Laub- und Nadelbäume war
in jenem Wald auch ein stattlicher eichenhain gewachsen, der dunkel und geheimnisvoll
einen nicht geringen Teil dieses Waldes ausmachte. Er galt als verwunschen, der
Eichenhain, wobei nicht wirklich herausgefunden werden konnte, wer welchen Zauber oder
Fluch ausgesprochen hatte und warum dies eigentlich getan worden war.
Als einzig stichhaltigen Beweis dafür konnte man angeben, daß in diesem
braunstämmigen, schwarzgrünen Hain voller gerader und krummer, kleiner und großer,
dicker und dünner Eichen auf einer Lichtung, die seltsam sanft im Mond- und
Sonnenlicht erstrahlte, eine Buche stand. Niemand - kein Spaziergänger, Tier,
Wissenschaftler oder Künstler - vermochte zu sagen, wie sie oder wann sie ausgerechnet
hier hatte erfolgreich Wurzeln schlagen können. Zwar umarmte ein Mischwald den Hain
und seine Lichtung aber das erklärte nicht, warum im dichtesten Eichendunkel eine
buche schlank und stattlich zum himmel aufgeschossen war.
Sie bildete einen angenehmen Kontrast zum braunbunten Einerlei der Eichen, wenn sie im
Frühjahr vor allen anderen im Hain ihr erstes Grün zeigte. Im Herbst flammten ihre
Bläter herrlich tiefrot während sich der Wald um sie herum noch dunkelgrün zeigte, um
dann lediglich keckgelb und anschließemd depremierend braun zu werden.
Ihr samtgrüner Stamm schimmerte sanft durch das Gestrüpp der Jährlinge und die
femdartige Form ihrer Krone sowie der der ungewohnte Grünton ihrer Blätter lud Vögel
jeder Art zu Besuchen ein. Sämtliche Piepmätze, die im eichenhain zu Hause waren,
kamen und bestaunten gemeinsam mit Kaninchen und allerlei Rotwild den eigenartigen
Fremdling, dessen eckige Früchte im Spätsommer als Delikatesse neben den allzu
normalen wie reichhaltigen Eicheln gehandelt wurden.
Natürlich hatten all diese Tiere schon andere Buchen gesehen und wußten um die
Alltäglichkeit jener Baumart, aber miiten in einem Eichenhain ...
"So etwas darf beispiellos als kurios bezeichnet werden", antworteten sie stets, wenn
sie außerhalb des Hains einem Fremden von jenem Wunderding im Eichenhain erzählten und
dieser sie auf die große Vielzahl von anderer Buchen auf der Erde stieß.
Im Laufe der Zeit jedoch war die Buche, wie jeder andere Baum auch, von einem Geist
beseelt worden.
Dieser Geist war der Buche nicht unähnlich, denn obwohl eigentlich unmöglich, fühlte
sich dieser Eichengeist behaglich und sehr wohl dort, wo er jetzt war und eigentlich
nicht hingehörte. Ein Eichengeist wird mit dem springenden Keim einer Eiche geboren
und es ist ihm vorherbestimmt bis zum Tod des Baumes, der einmal aus dem Keimling
werden wird, sein Schutzengel, Kamerad und Pfleger zu sein. Der Baum seinerseits
gewährt dem Geist dafür Unterschlupf, bietet ihm Heimat und Freundschaft.
Es gab sicherlich irgendwo auch jene Eiche, die jenen Geist geboren hatte. In
regelmäßigen Abständen besuchte er sie und sah nach dem Rechten, so daß niemand ihm
vorwerfen konnte, er vernachläßige seine Pflichten. Doch der Geist hatte sich auf
einem seinen Streifzüge in die Idee verliebt ein Buchengeist zu sein.
Unweigerlich machte er sich damit ein bißchen zum Gespött seiner Art aber der
dunkelgrüne Stamm und die herrliche Krone, die Bogen und Gabelungen der Äste, das
herbstliche Rot der kleinen ovalen Blätter und lustige Form der Früchte hatten es dem
Geist angetan. In einer Vollmondnacht zog er in die Buche ein und kümmerte sich
seitdem liebevoll sowohl um den Baum selbst, als auch um seine Gäste und zeitweiligen
Bewohner.
Nach und nach hatten sich die Tiere und Mythen daran gewöhnt, daß die Buche im
Eichenhain einen Besitzer hatte. Selbst die Eichengeister waren zu dem Entschluß
gekommen, den jungen Querkopf in Ruhe zu lassen, sei die einzig wirksame Methode, ihn
von seinem Spleen ab- und nach einiger Zeit, wenn die Buche ihm lästig und langweilig
geworden war, in seine Eiche zurückzubringen.
Doch die Rechnung ging nicht auf, denn die Buche stand allein auf einer golden oder
auch silbern schimmernden Lichtung mitten in einem Eichenhain, weshalb sie rege
umstaunt und besucht wurde. Dies hatte zur Folge, daß der Buchengeist, der eigentlich
an einen Eiche gebunden war, Langeweile nicht kannte. Doch da er seine Pflichten der
besagten Eiche gegenüber nicht vergaß, konnten weder ein Neider mit Gewalt noch ein
besorgter Freund mit gutgemeinten Ratschlägen, ihn zu seiner Anvertrauten
zurückbewegen.
Zu den liebsten Besuchern des Buchengeites gehörte ein kleiner Waldgeist, der sich
nicht richtig entscheiden konnte, ob er nun Elfe oder Nymphe sein wollte. In beiden
Fällen war das wirkliche Problem, daß sowohl das Elfe- als auch das Nymphesein nicht
nur mit Freiheiten und herrlichen Rechten und vielerlei phantastischen Zauberkräften
in Verbindung gebracht wird, sondern auch mit Pflichten gegenüber der Natur und
einigen Gottheiten, die es zu erfüllen gilt, was jenes Geschöpf um alles in der Welt
zu vermeiden suchte.
Es gab für jene Elfennymphe nichts Schöneres als Streifzüge zum Horizont, das
Begleiten und Irreführen von Forschern und Abenteurern und das Verträumen ganzer Tage
und Nächte, während sie sanft in den Wipfeln eines Baumes schauckelte. Lästige
Aufträge irgendwelcher Herrschaften störten das Geschöpf aus Kiefernduft, Sonnenschein
und Mondlicht nur, wenn sie still vor sich hin kichernd mit dem Wind durch den Wald
fegte oder sie es sich in den Kopf gesetzt hatte, die Nacht mit Sterne gucken und Tanz
zu vergeuden.
Die kleine Elfe kam oft und gern zum Buchengeist.
Mal schüttete sie ihm ihr Herz aus, weil Oberon oder Neptun oder auch Freya ihr mit
einer Gardinenpredigt über den Ernst des Daseins in den Ohren gelegen hatten. Dann
wieder schwärmte ihre überschwenglich romantische Seele der Dryade von einem
wunderschönen Sterblichen vor, der mittags schlafend am Weiher gelegen hatte. Am
nächsten Tag rollte sich die flatterhafte Nymphe meist unglücklich in einem Astloch
der Buche zusammen und beweinte die entweder die Schlechtigkeit der Welt, die
Gemeinheiten anderer Geschichten, die Ungerechtigkeiten der Götter oder auch ihr
gebrochenes Herz. Schluchzend erzählte sie dem Waldgeist dann, daß der Jüngling
fortgezogen sei, anstatt bei ihr im Wald zu bleiben.
Das Buchengeschöpf war mit diesem kleinen Wankelmut geduldig und hörte sich seine
verschlungenen Alltäglichkeiten ein ums andere Mal an. Er trocknete die bitteren und
auch die verzweifelten sowie die wütenden Tränen, dämpfte die Übermütigkeiten und
lauschte den geflüsterten Verwünschungen.
Anfangs war es nicht immer leicht der Freund dieses Luftwesens zu sein; doch Tag um
Tag wurde sie dem Buchengeist vertrauter. Bald waren ihm die Geschichten derartig
vertraut, daß er die Katastrophen schon kommen sah, wenn die kleine Elfe noch vor
Freude und Glück hüpfend auf der Lichtung erschien und von Wundern, Sterblichen und
der großen Liebe sprach. er begann die Probleme und die Einsamkeit zu verstehen, die
in der Nyhmenseele wurzelten und erfand hier und da einen Medizin, die den Schmerz
stillten und Bedrückungen linderten.
Die kleine Elfe jedoch empand neben Dankbarkeit, Liebe und tiefer Bewunderung auch ein
wenig Skepsis, wann immer sie an die seltsame Buche und den Eichengeist, der sie
bewohnte, dacht. Sie wußte um all ihr Elend, und daß es daraus resultierte, daß sie
mit voller Absicht micht dem entsprach, was von Elfen und Nymphen erwartet wurde. Sie
kannte all die Situationen, in denen man auf Grund dessen allein gegen seine eigene
Welt stand und sie erfuhr so oft, wie weh die falschen Worte zum richten Zeitpunkt
tun konnten. Genau deshalb verstand sie nicht, wie der Eichenbuchengeist einfach so
gegen alle Erwartungen leben und dennoch unbescholten und glücklich war.
Sie fragte sich manchmal, wenn sie nachts in einer Tanne träumte, wo ihr Buchengeist
seine Ängst, seinen Haß und seinen Schmerz verschloß. Ab und an versprach sich
nämlich, der gute Buchengeist und die Fassade aus Stärke und Unnahbarkeit geriet ins
Wanken. Nur riegelte er sofort ab, fragte die kleine Elfe dann nach einem Wie, Wer
oder Warum.
In solche Gedanken vertieft, seufzte sie dann auf ihrem Tannenzweig, die Elfe und
hoffte still, daß ihr geliebter Geist nicht in diesem Moment totunglücklich war und
nicht bei ihm saß, um ihmn schweigend in seinen Seelenfrieden zurückzuwiegen. Auch
ließ sie in solchen Momenten vergangene Gespräche Revue passieren und prüfte sie auf
eigene Nachlässigkeiten, die verhindert hatten, daß sie dem Buchgeist ein Freund war.
Meist gab sie nach einigen Stunden in der festen Überzeugung auf, daß der Buchengeist
ihr nicht annähernd so sehr vertraute wie sie ihm, was sie mit einer seltsam erdnahen
Traurigkeit erfüllte, die sie auf dem schnellsten Weg zur Buche in den Eichenhain
führte, wo sie sich davon überzeugte, daß alles in bester Ordnung und an seinem festen
Platz war.
An einem friedlichen, sonnendurchschienen Nachmittag im Juni war die Elfe wie so oft
auf die Lichtung gekommen, doch hatte sie diesmal nicht wirklich etwas zu erzählen.
Ihr gingen weder Herz noch Seele über. Sie war nur so vorbei gekommen. Die Elfennymphe
hatte den Bucheneichengeist solange an der Nase gezogen, bis dieser sich auf ein
ausgiebiges Hasche-Versteck-Spiel eingelassen hatte. Nachdem beide außer Kraft und
atem waren, fielen sie lachend ins Gras und besahen sich die Wolken, die schäfchenweiß
über den sommerblauen Himmel zogen. Als die Sonne sich langsam aber unabwendlich dem
westlichen Horizont entgegenneigte, verabschiedete sich die kleinen Elfe. Doch bevor
sie den Rand der Lichtung überschreiten und im Durcheinander der Eichenstämme
verschwinden konnte, hielt sie eine verwirrende Wolke aus einem Aufschrei, allerlei
gehässigem Gelächter und bösartigen Stichelein zurück.
Ganz langsam wandte sich die Nymphe diesem Geräuschen zu und starrte ungläubig auf
mehrere sich im Hain verteilende Eichengeister und auf eine in ihre Buche flüchtende
Dryade.
Das Mädchengeschöpf satnd wie vom Blitz getroffen, festangewurzelt, zu keiner Bewegung
fähig auf seinem Fleck und versuchte zu begreifen, was sich da gerade abgespielt
hatte. So etwas passierte ab und an mal in einer Kiefernschonung, wenn sie selbst auf
die Gefolgschaften Aphrodites oder Cupidos traf; aber hier auf der Buchenlichtung im
Eichenhain war dergleichen völlig undenkbar!
Die starre löste sich so schnell wie der Schock gekommen war und wenn auch noch völlig
verwirrt, flitzte die kleine Elfe ihrem Geisterfreund, der sie unerwartet und
unwissentlich ins Vertrauen gezogen hatten, hinterher.
Sie fand ihn zusammengekauert und in Tränen aufgelöst zwischen aus der Erde ragenden
Wurzeln. Ohne ein Wort zu sagen, setzte sich die wankelmütige Nymphe im Schneidersitz
dem Buchengeist gegenüber und nahm ihn in den Arm. Und ohne das sie gefragt hätte,
erzählte ihr der Geist, daß seine Vorliebe für die Buche, welche mitten im Eichenhain
stand, ihm ähnliche Probleme schuf wie der Nymphenelfe ihre ewige Unentschlossenheit.
Es tat ihm ebenso wie ihr weh, wenn seine Artgenossen ihn nur deshalb schnitten und
dumm von allen Seiten anquatschten. Doch er hatte sich im Gegensatz zu ihr daran
gewöhnt und schenkte den alltäglichen Beleidigungen und dem Schmerz kaum noch
wirkliche Beachtung. Nur ab und zu, ganz manchmal wird auch ihm das Herz schwer und
seine Seele schreit dann laut und schrill um Hilfe.
Die Elfe wiegte den Geist sanft und zärtlich bis sein Redefluß den Tränenquell
versiegen ließ. Als er sich aufsetzte und die letzten Tropfen von seinen Wangen
wischte, wirkte er weicher und fast zerbrechlich und die Elfe begriff, daß sie jetzt
sein Schutzwall gegen die feindliche Welt un sie herum war. So fühlte sich das also
an, der starke, furchtlose, beschützende Tröster zu sein. die Elfe wollte genau wie
der Geist sonst etwas hilfreiches und kluges sagen, doch ihr fielen nur leere,
nichtssagende Floskeln ein.
"Weißt Du, daß es sonst immer andersherum ist? Ich meine, sonst weine ich wegen all
dieser megacoolen Pseudomythologien und Du hällst mich im Arm, bis die Welt sich
wieder auklärt."
Das war das Erste, was der Nymphe durch den Kopf geschossen war, als sie den Mund
öffnete, um etwas hilfreiches und kluges zu sagen und obwohl es in ihrem Ohren
kleinlaut und unbeholfen klang, grinste der Buchengeist zustimmend und kurz darauf
schalten Elfengelächter und Geisterkichern über die Lichtung, auf der eine Buche stand
und durch den Eichenhain, der den Buchenfindling beherbergte. Das glücklich fröhliche
Stimmenduett durchdrang die Birkengruppen und fichtenansammlungen, schlug sich durch
Kiefernschonungen und umspielte vereinzelt stehende Kastanien bis es in Bächen, im
Weiher und am Waldrand ankam und als Echo von den Bergen zurüchgeworfen wurde.

Dieser Vorfall wiederholte sich nie.
Nur noch manchmal, wenn die kleine Elfe wider einmal weinend in einem Buchenastloch
liegt oder wutentbrannt über die eichenumstellte Lichtung tobt, hält sie kurz inne und
wirft einen heimlichen Blick auf den Buchengeist, um dann weiter zu fluchen oder zu
schluchzen und sich zu fragen, wo ihr geliebter Buchengeist, der eigentlich an eine
Eiche gebunden ist, seine Ängste, seinen Haß und seinen Schmerz verschließt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.08.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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