Christian Servos

2120 - Anfang vom Ende...


Die Geschichte der
Menschheit zählt über 8000 Jahre. Kaum einer, der in der
Gegenwart lebt, kann sich diese gigantische Zeitmasse überhaupt
vorstellen; sie sind froh, wenn sie etwa ein hunderstel auf diesem
Planeten zu bringen können. Allerdings birgt das auch die Gefahr
des Desinteresses und vielleicht auch der Verfälschung. Ersterer
kann zumindest vorgebeugt werden durch Bildung. Letztere aber, die
kann - einmal begonnen - ztu irreparablen Schäden in der
Geschichtsschreibung führen und eine Gesellschaft auf
gefährliche Bahnen lenken. Dies soll die Geschichte von einem
Menschen sein, der in einer solchen Gesellschaft lebt und sich mit
der Zeit Gedanken darüber macht, ob das alles so richtig ist,
was der Staat und die Partei ihm lehren.

2012 nach Christus:
Aufgrund der nuklearen Bedrohung durch den Iran und Nordkorea,
beschliesst die UNO einen totalen Boykott dieser beiden Länder.
Als Antwort auf dieses Vorgehen, werden Dallas und Minsk von zwei
iranischen ICBMs vernichtet. Der dritte Weltkrieg bricht aus.
2020:
Nach wechselvollen Kämpfen zwischen dem Iran, der inzwischen den
gesamten mittleren Osten unter seine Kontrolle gebracht hat, und der
NATO, wird ein fragiler Frieden etabliert. Nordkorea wurde schon 2014
von mehreren russisch-chinesischen Offensiven zerschlagen.
2023:
Eine Untersuchung der UNO ergibt, dass der Krieg der globalen
Erderwärmung einen gigantischen Schub gegeben hat und dass die
Umweltverschmutzung einen kritischen Grad erreicht hat.
2030: Die
USA beginnen mit der Überkuppelung der wichtigsten Grossstädte,
weil die Luftverschmutzung zu extrem geworden ist.
2039: London
wird überkuppelt, ähnlich wie Berlin, Moskau, Paris,
Nanking, Tokio und Canberra. In der dritten Welt sind seit Ende des
Krieges über 200 Millionen Menschen an den Folgen der
Umweltverschmutzung gestorben. Die Zahl derer, die vom Hungertod
bedroht sind, sind weitaus höher. Als Folge beginnt ein neuer
Krieg um die verbliebenen nutzbaren Ackerflächen in diesen
Regionen, der auch auf die westlichen Staaten übergreift.
2040:
Der weltweite Frieden wurde aufgehoben - der permanente
Ausnahmezustand wird ausgerufen.
2055: Die grosse Revolution
bricht los. Die überkuppelten Städte erklären ihre
Unabhängigkeit von den Zentralregierungen. Das totale Chaos in
den Vereinigten Staaten und den Ländern Europas bricht aus. Die
Regierungen werden gestürzt.
2063: Der Kontakt zwischen den
neuen Kleinstaaten, die fast ausschliesslich auf den Gebieten der
überkuppelten Städten liegen, bricht ab. In London wird das
Ministerium gegründet, welches einen totalitären
Überwachungsstaat errichtet.
2120: Jetztzeit. Das Ministerium
von London herrscht über die 25 Millionen Einwohner der
Kuppelstadt mit eiserner Hand und brutalsten Mitteln. Eine Opposition
gibt es nicht, da die Überwachungsmethoden inzwischen
perfektioniert wurden.

13. Oktober 2120

Jefferson
lag alle viere von sich gestreckt in seinem Bett. Der Raum um ihn war
schmucklos. Nicht einmal eine Tapete hing an den Wänden. Das
Bett, auf dem Jefferson schlief, bestand nur aus den Beinen und dem
Lattenrost, sowie der Matratze. Er drehte sich noch einmal um. Auf
dem Stuhl zeigte ein Wecker 05:59 an. 06:00. Ein notorisches Piepsen
hallte durch das kleine Zimmerchen. Jefferson wurde davon jäh
aus seinem traumlosen Schlaf gerissen. Übermüdet stellte er
die nervige Geräuschquelle ab und schlurfte hinüber zu
seinem Kleiderschrank und nahm sich eine schwarze Hose, ein Unterhemd
und ein normales, weisses Hemd hinaus. Während er sich anzog,
machte er seinen Empfänger (Radio) an. Musik kam keine mehr, die
war vom Ministerium als staatsfeindlich vor langer, langer Zeit
verboten worden. Aber es kamen immer noch die Nachrichten der Partei.
Und es war eine Bürgerpflicht, diese Nachrichten zu hören.
Während der Empfänger also die Nachrichten runterrasselte,
schnappte Jefferson die Tür des Kühlschrankes auf und nahm
eine stahlfarbene Flasche heraus, nahm ein Glas aus einem Schrank und
goß sich eine schwarze, dickflüssige Brühe ein
(aufgrund der begrenzten Ressourcen innerhalb der Kuppel, verzichtete
man auf grorssflächigen Anbau von Lebensmitteln, und produzierte
daher in grossen Mengen diese Flüssigkeit, die alle Nährmittel
enthielt). Jefferson verzog das Gesicht, weil diese Pampe wirklich
widerlich schmeckte, aber es gab nichts anderes mehr. Und mit nichts
ist hier auch wirklich nichts gemeint. Als Jefferson fertig gespeist
hatte, und der Empfänger nichts neues mehr zu berichten hatte
und sich selbst ausschaltete, nahm er sich seinen langen Mantel, ging
hinaus und schloss die Türe hinter sich. Gemächlichen
Schrittes ging er zum Aufzug, der ebenfalls in einem grauton gehalten
war, wie der Rest dieses überaus schäbigen Gebäudes.
Von der Decke hingen als Beleuchtung nur Funzeln in Fassung an
langen, grauen Kabeln. Eine richtige Lampe hatten die Erbauer dieses
Hauses wohl noch nicht gesehen-. Ähnlich verhielt es sich mit
dem Aufzug. Der glich eher einem Lift aus einer Kohlengrube, als
einem Aufzug für ein gut 250 Meter hohes Gebäude...
Jeder
normale Mensch hätte sich über sowas Gedanken gemacht, aber
Jefferson nicht. Als er schliesslich unten angekommen war, erwartete
ihn noch mehr grau, grau und schäbige Gegenstände, wohin
man auch blickte. Jefferson stieg aus dem Aufzug und marschierte die
dreckige Eingangshalle ab, zog die Tür auf und schritt auf eine
nicht weniger schmutzige Strasse. Jefferson bog links ein und ging
langsam die Strasse entlang. Die vielen Menschen, die alle ähnlich
gekleidet waren, wie er selbst, beachteten ihn nicht im mindesten.
Jeder war nur auf seine eigenen Schritte bedacht, die er möglichst
schnell hinter sich bringen wollte. Niemand sagte etwas, niemand
redete mit seinem nächsten. So wanderte er die graue
Eintönigkeit ab, bis er an ein viele hundert Meter hohes Gebäude
kam. Jeffersons Augen wanderten langsam die Fassade dieses Baus hoch
und blieben an der Spitze hängen. Er musste schon fast steil
nach oben schauen, um überhaupt ein Ende ausmachen zu können.
Die Spitze des Gebäudes und die Glaskuppel schienen sich beinahe
zu berühren. Jefferson seufzte leicht in sich hinein. Er ging
auf den Vorplatz dieses Baus, der etwa gut 250 mal 250 meter maß
und von Ausläufern des Gebäudes eingerahmt war, sodass es
nur den frontalen Zugang gab, der auf der Strasse mündete, von
der Jefferson kam. Er stiess zwischen durch immer wieder mit den
Menschen zusammen, die geschäftig schienen und sich nicht um ihn
kümmerten. Obwohl er das schon etwa 18 Jahre jeden Tag
mitmachte, fühlte er sich jeden Tag etwas fremder in dieser
tristen Welt, in der jeder Gedanke das Ende bedeuten könnte.
Jefferson war an einer der vielen Türen angelangt und zog sie
auf. Sofort ergoss sich ein Schwall warmer, trockener Luft nach
draussen. Er ging durch die Türe und reihte sich in die kurze
Reihe vor den Sicherheitsbarrieren ein, die jeden Mitarbeiter und
Besucher untersuchten und die Identifikationsnummer abfragten, die
gleich der Identität jedes Menschen in London war. Jefferson
musste nicht lange warten, bis er an der Reihe war. Er hielt sein
Rechtes Auge vor die Kamera des Sicherheitscomputers. Dieser glich
die Daten, die er aus der Iris entnahm mit denen seines Speichers ab.
"Jefferson 3214.5.... Korrekt."
Jefferson trat durch die
Barriere und in die Eingangshalle seines Arbeitsplatzes. Jefferson
arbeitete in der "Informationskorrekturabteilung" des
Ministeriums, also jener Abteilung, die dafür sorgte, dass nur
Informationen, die von der Partei abgesegnet waren, als Wahr gelten
konnten. Jefferson ging weiter durch die Halle, die wahrlich riesige
Ausmaße hatte. Er überhört die Sprüche, die aus
den Lautsprechern hallte, wie "Du bist nichts, die Partei ist
alles." oder "Es gibt keinen freien Willen, sondern nur den
Willen des Sekretärs.". Niemand wusste, wer der Sekretär
war, man wusste nur, dass er alle Macht in London in den Händen
hielt. Niemand hat ihn bis jetzt gesehen. Aber es war verboten, in
dieser Form über den Sekretär zu sprechen. Denn er wusste
alles und manche vermuteten, dass er in der Lage war, die Gedanken
eines Menschen zu lesen. Wie dem auch sei, Jefferson überhörte
die Lautsprecher und reihte sich in eine kurze Schlange vor einem der
vielen Aufzüge ein, die ihn in den 96. Stock bringen würden,
in dem sein Schreibtisch schon auf ihn warten würde.


Jefferson wurde von der hinter ihm
wartenden Masse in den Aufzug geschoben. Die Türen schlossen
sich; das kurze Aufflackern des Lichtes, welches von der kahlen Decke
kam, an der eine schmuddelig aussehende Neonleuchtröhre hing,
zeigte das Anfahren des Aufzuges an. Jefferson fühlte sich für
den Bruchteil einer Sekunde leicht wie eine Feder. Vorne an der Tür
wanderte ein kleiner roter Lichtpunkt die Stockwerk anzeige nach
oben, welche sich über die restliche Seite links der Aufzugtür
erstreckte. Lange Zeit passierte nichts. Keiner stieg aus, oder
hinzu. Stock 56... Jemand schaute auf seine Uhr. In Stock 60 verliess
rund die hälfte der Menschen den Aufzug. Dort war die Abteilung
der Strafverfolgung und die Abteilung der Empfängerüberwachung
untergebracht. Beide Abteilungen dienten lediglich dem einen Zweck,
die Herrschaft über die dumpfen Massen aufrecht zu erhalten.
Danach kam nach kurzer Fahrt und der Überspringung von Stock 61
und 62, welche wohl den Geheimdienst beherbergten, die Abteilung für
die Verdrängung der Bildung. In Stock 66 war die Abteilung der
Mentoren, die dafür sorgten, dass alle Mitarbeiter des
Ministeriums auch wirklich nur der Partei dienten. Dann kam eine
lange zeit lang nichts, dann in Stock 88 befand sich die Abteilung
der Kuppel, welche nur den Zweck hatte, zu verhindern, dass Menschen
London verlassen. Auch hier verliess ein guter Teil der
Aufzuginsassen den Aufzug. Dann in Stock 96 verliess Jefferson selbst
den Aufzug. Er blickte noch einmal kurz zurück in die fahlen,
abgeschlafften Gesichter der Menschen. Die Augen aller waren seltsam
leer und ausdruckslos, ähnlich von denen, die unter
Betäubungsmittel standen oder einer Gehirnwäsche unterzogen
wurden. Bevor Jefferson jedoch seine Vermutung zu ende führen
konnte, wurde er von einer kalten Stimme aus seinen Gedanken
gerissen. "Nummer 3214.5, Sie sind zu spät." sagte die
Stimme, die Jeffersons Abteilungsleiter gehörte, einem Mann in
einem leidlichen gepflegten Anzug - schwarz - und polierten schwarzen
Schuhen. Er trug einen Oberlippenbart und die Autorität stand
ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Mit einem kalten Ausdruck
der Verachtung schaut er aus Jefferson herab, die Augenbrauen
gefährlich zusammengezogen. "Entschuldigen Sie, Sir. Ich-"
- "Ihre Entschuldigung zählt nicht. Entschuldigungen stehen
für Lüge. Und Lüge gehört nicht zu dem, was der
Sekretär Ihnen lehrt.", schnauzte der Mann. Betreten
schaute Jefferson zu Boden. "Jawohl, Sir." - "Und nun,
Ihre Arbeit wartet auf Sie. Ich hoffe, Sie werden das Pensum, was Sie
eigentlich erbringen sollten, in der verkürzten Zeit schaffen.
Wenn nicht..." Ein süffisantes Lächeln kräuselte
sich um die Lippen des Abteilungsleiters. "...werden Sie wohl
ein Fall für die Mentoren, und das wollen wir wohl nicht, oder,
3214.5?" Mit diesen Worten liess der Abteilungsleite Jefferson
stehen und verschwand in einer der vielen braunen Türen auf dem
endlosen, grauen Gang. Jefferson wandte seinen Blick von der Tür
ab und ging den Gang entlang. Seine Schritte hallten einsam wider.
Nur ab und zu hörte er ein Husten der anderen Mitarbeiter oder
Rücken von Stühlen oder den Monolog eines Empfängers.
Nach unendlich langer Zeit - so kam es ihm vor - erreichte er sein
eigenes jämmerlich kleines Büro. Dort wartete schon auf
seinem kleinen Schreibtisch ein Berg von Akten, von Papieren und
anderen Dingen. Die Arbeit eines Mitarbeiters der
Informationskorrekturabteilung war eigentlich recht einfach. Man
bekam eine Liste von Vorgaben der Partei und die Dinge, die anhand
der Liste abgeändert werden sollte. Diese Dinge konnten alles
mögliche sein. Meistens waren es Zeitungsartikel aus der Zeit
kurz vor der Revolution. Jeffersons Auftrag war es, diese so
abzuändern, dass die Revolution als einzige mögliche
Alternative neben dem Untegang der Zivilisation erschien. Jefferson
wusste nichts über die Revolution und der Welt vorher. Er wusste
nur, dass es einen scheusslichen Krieg gab und dass die Bevölkerung
die alte Regierung gestürzt hatten. Von England oder dem Rest
der Welt wusste Jefferson fast gar nichts. So vergingen die Stunden.
Jefferson arbeitete gerade an einem Artikel, der die Bewegung der
Revolution als verbrecherisch und abartig darstellte. Diesen Bericht
musste er "korriegieren" oder, wenn es nicht mehr möglich
war, diesen Bericht vernichten. Das hiess, dass er ein Memo an die
Abteilung für Terminierung verfassen musste, die dann umgehend
aktiv werden würde, um alles, was mit dem Bericht zusammenhing,
vernichten würde. Inzwischen hatte das Ministerium diese
Aktionen zu einer erschreckenden Perfektion gebracht, sodass nicht
nur die Artikel verschwanden, sondern auch die Gedanken an sie.
Menschen, vond enen man wusste, dass sie von diesen Dingen wussten,
wurden einer Erinnerungs-korrektion unterworfen, welche dazu diente,
betreffende Gedanken zu eliminieren. Danach wurde auch die Erinnerung
an die Erinnerungsmanipulierung gelöscht. Es blieb nichts, nicht
einmal eine Erinnerung an einen Black Out. Das Leben vorher und
nachher fügten sich nahtlos ineinander. Lediglich die
vermeintlich oppositionellen Gedankengänge waren verschwunden.
Jefferson wusste davon natürlich auch nichts. Ihm ging es nur
darum, die Zeit vor der Revolution in einem denkbar schlechten Licht
erscheinen zu lassen. Die Musik war z.b. schon verboten worden, da
sie politisch sein konnte. Bücher hatten man noch nicht ganz
verbannen können, da man sie immer noch brauchte, um das Wissen
speichern zu können. Das Internet war auch nicht verschwunden,
da es dem Ministerium nütlzlich sein konnte, die Menschen über
die elektronischen Mittel zu überwachen. Jedoch war es nicht
möglich, auf das echte Internet zuzugreifen, welches immer noch
funktionstüchtig war. Die Partei hat ein Parallelnetz
erschaffen, welches aber in London unter dem gleichen Namen
"Internet" lief. Fernsehen gab es keines mehr, da das
Satelittensystem der Erde immer noch aktiv war, und es somit möglich
wäre, andere Programme als das Londoner zu empfangen. Die Gefahr
gab es natürlich auch beim Empfänger, doch man hatte diesen
so weit entwickelt, dass alle anderen Wellenlängen überlagert
wurden. Von all diesen Dingen wusste kaum jemand, ausser denen, die
sie iniziert hatten...


Jefferson hatte grade seinen Bericht
korrigiert und umgeschrieben, als über den Lautsprecher das
Signal zur Mittagspause erklang. Neben dem normalen Geräusch
wurde auch immer eine Parteiphrase durch den Lautsprecher gejagt.
Jefferson störte sich nicht weiter dran, schob seinen Stuhl nach
hinten und stand auf. Er ging um seinen Schreibtisch herum und nahm
seinen Mantel vom Haken. Als er auf den Gang kam, sah er schon die
anderen, wie sie sorgfältig ihren Mantel oder ihre Jacke
zuknöpften. Jefferson wurde nicht von ihnen behelligt und sie
von ihm auch nicht, denn während der Arbeitszeit war es
verboten, miteinander zu sprechen. Lediglich in der halben Stunde,
die die Partei als "Pausenzeit für die Partei und das
Ministerium" bezeichnete, war es erlaubt, mit seinen Mitmenschen
zu reden. Allerdings musste man vorsichtig sein – die Mentoren
waren allgegenwärtig und die Empfänger schnitten alles mit,
was man sagte und sammelten auf ihre elektronische Art und Weise die
Daten und Gesprächsfetzen. Jefferson und die anderen machten
sich also auf, um in den 100. Stock zu fahren. Wieder stand er in
einer mehr oder weniger langen Schlange, bis sich die beiden
schäbigen Türhälften des Aufzuges teilten und die
Menschen verschlangen, wie eine Schrottpresse das Auto. Jefferson
achtete auf den roten Punkt, der von 96 auf 97 und dann auf 98, 99
und 100 sprang. Dann öffnete sich die Doppeltüre des Lifts
und gab einen künstlich ausgeleuchteten Raum frei, der sich
selbst in der Ferne zu verlieren drohte. Der Raum bestand aus
peinlich gewienerten weissen Fliessen an Boden und Wänden und
einer ebenso peinlich sauberen weissen Decke. Überall standen
stahlfarbene Tische und Stühle herum, deren Spiegelbilder
gräulich auf dem Boden schimmerten. Das Schwarz der Kleidung hob
sich kontrastartig von allem anderen ab. Offiziell war die
Arbeitszeit mit dem Erreichen der Kantine beendet, jedoch nutzte das
kaum jemand zum sprechen. Jefferson aber war jemand, der gerne
redete, wenn er durfte. Gott sei dank hatte er auch immerjemanden,
mit dem er sprechen konnte. Jefferson setzte sich in die Nähe
eines der Aufzüge, nachdem er seine Ration des schwarzen
Substitutionsnährmittels von der Ausgabe geholt hatte. Und dann
wartete er. Etwa fünf Minuten saß er da. Und dann sah er
ihn. Auf Jeffersons Gesicht bahnte sich ein leises Lächeln an.
Adrew war ein guter Freund von Jefferson, wenn es sowas wie
Freundschaft in solchen Zeiten und unter solchen Umständen
überhaupt noch geben konnte. "Hey, Andrew, alles klar bei
dir?"- "Hmm, geht. Ich hab gehört, der
Abteilungsleiter hat dich heut morgen was zusammengestaucht. Ich
hoffe, du machst keine Schereien, du weisst, wo das Enden kann."
- "Natürlich, aber ich habe meine Arbeit soweit beendet.
Der Abteilungsleiter war lediglich nicht sehr erbaut darüber,
dass ich einige Minuten zu spät gekommen bin. Dabei bin ich
pünktlich aufgestanden und war auch recht früh unten im
Ministerium." - "Dennoch... der gehört zu den oberen
10.000 der Partei. Mit dem ist nicht zu spaßen." Andrew
war mit jedem Satz näher an Jefferson herangerückt. Seine
dunklen Augen starrten ihn ernst an, während Jefferson eine
nicht näher zu indentifizierende Miene aufsetzte, die wohl
Unschuld darstellen sollte. Andrew hatte recht. Mit einem aus den
10.000 legt man sich lieber nicht an, daher ist die Drohung mit den
Mentoren lieber ernst zu nehmen. Jefferson dachte darüber nach,
dass er lieber gut daran täte, so zu funktionieren, wie es die
Partei und das Ministerium von ihm erwartete. "Hast recht."
sagte er leise. Aber tief in seinem Inneren wusste Jefferson, dass er
nicht recht hatte. Er konnte nichts dafür, dass er knappe 2
Minuten zu spät gekommen ist. Aber die Arbeit im Ministerium
erwartete eine unglaubliche Korrektheit und Präzision. Dessen
war Jefferson sich auch bewusst. Und das war es, was Andrew ihm in
Erinnerung rufen wollte. Präzision. Korrektheit.
Gleichgültigkeit vor sich selbst. So saßen sie noch gut
eine viertel Stunde, bis ein lauter Pfiff ertönte und sich
Jefferson und Andrew von ihren Plätzen erhoben, so wie die
vielen Hundert anderen in der Kantine. Andrew und Jefferson gaben
sich die Hand zum Abschied. Sprechen war jetzt wieder verboten, bis
um 17:30 die Arbeit verlassen werden durfte. Bis dahin waren es noch
gut fünf Stunden. Stunden der Einsamkeit, der monotonen Stille,
welche sich doch schmerzhaft laut anfühlte und anhörte...
Jeffersons Beine trugen ihn zurück zum dem Aufzug, mit dem er
die vier Stockwerke hinunterfuhr. Wieder stand er mit einer grauen
Masse von schweigenden Menschen für circa zwei Minuten in einem
kleinen Raum. Er wüsste zugerne, was sie wohl dachten. Dachten
sie überhaupt etwas? War es möglich, an nichts zu denken?
Jefferson mochte diese Fragen nicht. Sie tangierten das, was die
Partei als gedankenloses Denken bezeichnete. Und denken ohne dabei
einen konkreten Gedanken als Ziel zu haben, der der Partei und dem
Ministerium dienlich ist, war ein gefährlicheres Verbrechen, als
das Zuspätkommen. Es untergrub die Autorität der Arbeit des
Ministeriums. Und damit die gesamte bekannte Gesellschaft.Wer die
gesellschaft bedrohte, war damit ein Staatsfeind. Das alles ging
Jefferson bei diesen Fragen durch den Kopf. War er schon Staatsfeind?
Oder war noch namhafter Mitarbeiter des Ministeriums?

All
diese Gedanken liessen Jefferson vergessen, wo er war, denn er
war immer noch im Ministerium, und da war es entsprechend riskant,
sich solchen Gedanken hinzugeben. Im selben Moment besann er sich,
und als der Fahrstuhl auf seinem Stock hielt, machte er einen Schritt
nach vorne und wartete, bis die Stahltüren das sterile Licht des
Ganges freigaben, auf dem auch sein Büro lag. Diesmal blickte er
nicht zurück in die fahlen Gesichter der anderen, die mit jedem
Mal ein wenig abgeschlaffter wirkten, als würde ihnen jeder
weitere Tag an diesem Ort ihnen einen Teil ihrer Kräfte rauben;
als wären sie im Krieg mit sich selbst...
Jefferson wanderte
langsam den breiten Flur zu seinem Büro ab, das fast auf der
anderen Seite des Gebäudes lag. Kein Fenster gab einen Blick auf
die triste Skyline des verkommenen Londons frei. Nicht einen Blick
konnte man auf die Glaskuppel werfen, über der sich an
schlechten Tagen die Wolken kräuselten und an besseren die Sonne
spiegelte. Aber es schien niemanden zu stören. Jefferson schob
auch diesen Gedanken beiseite, öffnete die Türe zu seinem
Arbeitsplatz und zwang sich regelrecht, seinen Mantel auszuziehen. Er
warf ihn sachte über den Haken und sein Blick blieb an dem
schwarzen Knopf hängen, der ganz zuoberst an dem langen
Kleidungsstück angordnet war. Dann schritt er um seinen
Schreibtisch herum und fixierte den nur unwesentlich kleiner
gewordenen Stapel Papier mit leichtem Unbehagen. Dann, mit einem
leichten Knarzen von Holz auf Fliesen, setzte er sich auf seinen
Stuhl und zog sich den nächsten Bericht heran, den er verändern
bzw. korrigieren sollte.

Diesmal war es ein Bericht von
Reuters über den Abbruch der diplomatischen und wirtschaftlichen
Beziehungen der über 600 Kleinstaaten Europas, sowie eine kurze
Abhandlung über die revolutionären Bewegungen in den
europäischen Ländern in der Zeit zuvor. Aus "Greueltaten
der Revolutionäre" wurde "Verbrechen der Reaktion";
aus "provozierten Attacken der Polizei" wurde
"Niederknüppeln des Volkswillens" und so weiter...
Jefferson war trotz seiner Angespanntheit in seinem Element.
Plötzlich stiess er bei seiner Arbeit auf etwas, was ihm ein
mulmiges Gefühl in der Magengegend bereitete...



Zitat:

21.03.2063
...Wie unabhängige Reporter
berichteten, wurden der König des Vereinigten Königreiches
von Großbritannien und seine Familie von Soldaten der
neueingesetzen Regierung von London - im weiteren Ministerium
genannt - aufgrund eines Urteils vom 14.03 hingerichtet. Die
Gründe, die der Sekretär (ähnlich dem
Premierminister) nannte, seien "Landesverrat",
"Verbrechen gegen den englischen Staat und das englische
Volk"...


Jefferson stutzte. Was war England oder Großbritannien?
Warum sollte der Sekretär diesen besagten König hinrichten
lassen? Und warum wurde das alles im Zusammenhang mit dem Ministerium
genannt? Jeffersons Neugier war geweckt. War das Ministerium wirklich
in einen Komplott verwickelt gewesen nach der Revolution und war der
König diesem auf die Spur gekommen?

Inzwischen war die
Zeit schon weit vorangeschritten. Bald war Dienstschluss. Jefferson
bemerkte, wie irgendwann die Neonleuchten in seinem Büro
angingen. Und dann, ganz plötzlich ertönte das
langerwartete Signal und eine übliche Phrase der Partei.
Jefferson legte seine fertigen Berichte sorgsam in eine rote Box, die
er vorsichtig verschloss. Dann gin er wieder den gewohnten Gang um
den Schreibtisch herum, nahm seinen Mantel von dem Haken und griff
nach der Box, welche mitnehmen musste. Er war sich nicht sicher, ob
er sein Pensum geschafft hatte, zumindest hoffte er das. Mit den
Mentoren war sicherlich nicht zu Spaßen. Er zog an dem
Bronzegriff der Tür und wandte sich zum Gehen, wie die anderen
Mitarbeiter auch. Eine schwarz-graue Masse schob sich den endlosen
Gang entlang. Männer, Frauen, junge, mittelalte und wahrlich
schon angegraute Menschen schoben und drängten sich gegenseitig
zum Ausgang. Ihre Boxen - jeder trug eine bei sich - gaben sie vor
den Aufzügen ab. Dann, eine kurze Zeit, aber Jefferson kam es
wie eine Ewigkeit vor, des Wartens und der Aufzug surrte heran und
die Türen öffneten sich einem dumpfen Geräusch. Die
Menge drängte hinein. Wieder fuhr der schäbige Aufzug an.
Jefferson strengte sich an, dem roten Punkt zu folgen, der nun,
ähnlich einem Countdown die Stockwerke rückwärts
herunterzählte. Ab und zu hielt der Aufzug eine kurze Zeit an,
um weitere Menschen hinein zu lassen.
Etwas später surrten
die Türen auf, Jefferson wurde aus seinen Gedanken gerissen, und
aus dem Aufzug geschoben. Die Menge zerstäubte sich in der
schier endlosen Eingangshalle, welche in einem noch sterilerem Weiss
gehalten war, als die Kantine. Jefferson steckte seine Hände in
seine Manteltaschen und ging behäbig in Richtung des Ausgangs.
Von weitem konnte er durch die Glasscheiben der gigantischen
Eingangsportale das geschäftige Treiben der stets tristen Stadt
beobachten. Langsam wurde es dunkel dort draussen. Jefferson bekam
von den Untersuchungsvorgängen fast nichts mehr mit. Seine
Gedanken waren immer noch bei seinen Fragen... Was war England? Oder
wo war es? Warum verlor der König sein Leben? War das
Ministerium mit mehr Blut und Verbrechen befleckt, als er sehen
wollte oder konnte? Er schritt durch die Türe nach draussen.
Beim Anblick der riesigen Menschenmassen, die auf dem Vorplatz des
noch grösseren Ministeriumsbau umherwuselten, wusste er, dass er
völlig allein war mit seinen Fragen, mit seinen Gedanken, mit
dem Bewusstsein, dem Ministerium hilflos ausgeliefert zu sein,
wenn seine Gedanken ans Tageslicht kämen. Und das konnte ganz
leicht passieren, wenn man befand, dass sein Arbeitspensum als nicht
ausreichend befunden wurde...
Jefferson marschierte schnellen Schrittes über den Platz. Er
war immer noch in seine Gedanken versunken, er merkte nicht einmal,
dass ihm jemand folgte. Er überquerte die Menschenüberfüllte
Strasse und verschwendete keinen Gedanken daran, gross darauf zu
achten, ob er wen anrempelte oder nicht. Alles um ihn herum war
trist, nein, noch mehr: trostlos. Die Menschen trugen allesamt
schwarz oder grau. In ihren Gesichtern hatte sich die
Hoffnungslosigkeit bis in die letzte Furche eingegraben. Jefferson
achtete nicht auf sie, die seiner Ansicht nach alle seelenlos waren,
sondern ging seines Weges. Die Person, die ihn schon seit dem Platz
folgte, marschierte im gebührendem Abstand hinter ihm her.
Jefferson merkte es nicht. Er ging langsamer, die Person holte auf.
In der Masse, in der grauen, fiel ihm nichts weiter auf. Kein Grund
zur Beunruhigung, als er doch merkte, dass etwas nicht stimmen kann.
Die Person war nur noch wenige Meter hinter ihm. War sie ein Mentor?
Jemand von der Strafverfolgung? Nein, denn dann würden sie ihm
erst zu hause auflauern und bis dahin war es noch ein ganzes Stück
Weg...

Jefferson bog eine Strasse rechts ab, dann eine links -
der unbekannte Verfolger war immer noch hinter ihm. Dann, an einer
belebten Kreuzung, als Jefferson warten musste, wurde er angerempelt.
Er meinte, eine Hand in der Tasche seines Mantels zu spüren. Zur
Kontrolle griff Jefferson in die Tasche und fühlte einen kleinen
Zettel. Die Menge schob ihn über die Kreuzung, doch der Fremde
war verschwunden. Vermutlich hat er ihn, Jefferson angerempelt
und ihm den Zettel untergejubelt. Aber er konnte der Neugier
widerstehen, den Zettel zu lesen. Das wollte er erst, wenn er allein
war, wenn er zu hause war. Und so ging Jefferson die letzten paar
hundert Meter die triste Strasse entlang, vorbei an den zugenagelten
Häuserfassaden, an den verbretterten Geschäften, die
sicherlich vor sehr sehr langer Zeit einmal geöffnet hatten und
vom Ministerium geschlossen wurden, hindurch durch die
Menschenmassen, die auf dem Weg zu ihren Terminen waren, zu ihren
minutiös geplanten Terminen... Das Ministerium war der grösste
Hetzer, dachte Jefferson. Aber waren es nicht Menschen, die sich hier
abhetzten? Das Ministerium bestand auch aus Menschen. Oder etwa
nicht? Jefferon war sich nicht sicher, aus was seine Umgebung
bestand. Vermutlich mehr aus Zombies, denn aus Menschen.

Inzwischen
war er zu Hause angelangt. Er griff nach dem angelaufenen Bronzegriff
an der schmuddeligen Türe des Hochhaues, in dem Jeffersons
Appartment war. Er ging durch die Eingangshalle, nickte dem
glatzköpfigem Menschen an der Rezeption zu, während dieser
Jefferson mit seinen Augen verfolgte, durch eine Brille um ein
vielfaches vergrössert. Dann drückte Jefferson den
schmutzigen und abgegriffenen Knopf, um den Aufzug in Betrieb zu
setzen. Ein stummes Summen des Motors setzte ein. Die Doppeltüre
öffnete sich und Jefferson schritt inspizierend in den Aufzug.
Die graue Decke hielt Jeffersons kritischem Blick nicht stand, obwohl
er bestimmt schon seit 5 oder 6 Jahren fast jeden Tag mit dieser
Klitsche die 25 Stock rauf und wieder runter fuhr...

Jefferson
führte im stillen einen Kampf mit sich selbst. Soll er den
Zettel nun lesen oder lieber warten, bis er drinnen und damit
vermeintlich sicher war? Er entschied sich für das letztere.
Also wartete er, bis der Aufzug nach einer guten halben Minuten bei
der Nummer 25 hielt. Die Doppeltüre öffnete sich, wie um
den Liftinhalt auszuspeien. Der Korridor war leer wie immer, die
Funzeln so geschmacklos, wie eh und je. Trotz dieser tristen Umgebung
schien Jefferson glücklich, endlich wieder dort zu sein. Er zog
den Schlüssel zu seinem Appartment und liess ihn in das Loch
gleiten, drehte ihn herum und liess das vertraute Klicken des
Schlosses ertönen. Er öffnete die Tür - natürlich
mit einem Knarzen, wie das für falsch aufgehangene Türen
nunmal üblich ist. Dann ging er hinein, tastete nach dem
Lichtschalter. Er zog seinen Mantel aus, schloss die Tür mit dem
Fuss und war nun entgültig in seiner Dreizimmerwohnung. Nun
konnte er sich endlich des Zettels annehmen.. Er zog ihn aus der
Manteltasche. Der Zettel war zweimal gefaltet. Er zog am unteren Ende
des schon etwas vergilbten Papiers und zog ihn auf, faltete ihn
einmal, zweimal auf. Eine enge, symetrische Handschrift bot sich ihm
auf dem Papier dar, welche ihm folgendes verkündete:



Zitat:
Kommen Sie morgen zum ehemaligen Hafen.
New-State-Street. Ich werde Sie erwarten.
Bis dann,

R.D.


Nachdem er die kurze und sehr seltsame Nachricht gelesen
hatte, wurde ihm mulmig. Was sollte er ihm ehemaligen Hafenbereich
der Stadt? Und wer war R.D.? Alles fragen, die nach einer Antwort
geradezu schrien...
Jefferson wand sich im Schlaf, immer wieder träumte er von
einer leeren Lagerhalle, von Andrew, von R.D. . Unruhig wälzte
er sich auf seinem Bett hin und her. Schliesslich klingelte der
Wecker, als dieser 6 Uhr morgens anzeigte. Gleichzeitig ging sein
Empfänger an… „Es ist 6 Uhr morgens, am 14. Oktober 2120…“
Jefferson wachte nun endgültig auf, schüttelte seinen Kopf
und rieb sich seine Augen. Was für ein Scheiss, dachte er sich.
Ohne jeden Sinn, ohne jede Logik. Und dann strömten die Gedanken
wieder in ihn zurück, die Gedanken an die Tatsache, dass er
heute Abend um 20 Uhr diesen besagten R.D. treffen würde. New
State Street, Hafen, ehemaliger… Immer wieder rief er sich die
kurze Nachricht ins Gedächtnis. Jede Silbe und jedes Wort kannte
er auswendig von diesem Zettelchen mit der engen Schrift. Er
versuchte sich, R.D. vorzustellen. Aber er blieb immer noch die
Gesichtlose Variable, die alles in Jeffersons Leben zerstören
konnte. War genau das nicht der Reiz daran? An die Grenze zu gehen,
an die Grenze zum verbotenen? Wie sehr wünschte sich Jefferson
jetzt in diesem Moment wahrhaftig frei zu sein, seinen Job
hinzuschmeissen, die Kuppelstadt zu verlassen und die vergessenen
Pfade zu betreten, auf denen schon viele Jahre niemand mehr gewandelt
ist.

Nun raffte er sich endgültig auf, nachdem er auch
wirklich den letzten Gedanken an R.D. geklärt hatte. Er wollte
und musste heute pünktlich im Ministerium sein. Jefferson
ärgerte sich nun über sich selbst, denn es waren schon 6
Uhr 15, als er schliesslich aufstand, sich duschen ging, seine Sachen
anzog, etwas von der Brühe trank und mit einem etwas gebeugten,
schlurfenden Gang, der der triste des Gebäudes entsprach, seine
Wohnung in Stock Nummer 25 verliess. Er wanderte wie jeden morgen in
Richtung des Aufzuges. Eine der Lampen auf dem Gang war inzwischen
völlig ausgefallen. Aber das machte kaum einen Unterschied, das
fahle Licht erhellte kaum mehr den runtergekommenen Gangway zu
Jeffersons Appartment. Und dafür zahlt man dann Miete… Egal,
es gibt wichtigeres. Jefferson straffte sich, als der Aufzug anfuhr
und zog noch einmal an der Krawatte von seinem Anzug, bis sie
wirklich einwandfrei und fest saß. Jefferson drückte auf
den Knopf mit einem abgeblätterten E darauf und wartete, bis
sich die Türen schlossen und ein Summen andeutete, dass es
hinunter ging. Langsam zählte sich der Countdown der Etagen bis
E herunter. Dann öffneten die Türen mit einem leisen Pling
und Jefferson ging hinaus. Die Eingangshalle war verlassen wie immer,
nur der Portier – Jefferson wusste nicht, welche Aufgabe er hatte,
daher ist zu vermuten, dass er vom Ministerium angestellt war –
beäugte Jefferson mit den üblichen misstrauischen
brillenvergrösserten Insektenaugen. Nun denn, hinaus in die
Tristesse des Seins…
Jefferson schob sich durch die Tür und
auf die Strasse. Die graue Monotonie erstickte ihn geradezu. Es war
beissend, stechend, widerlich. Jefferson kam sich nun zum allerersten
Mal wirklich fremd vor. Vermutlich auch in der Erwartung an den
Abend, wie es ihm schien. Denn er wusste, wer immer R.D. war, er war
anders, als die anderen Menschen und würde ihm sicherlich seine
Fragen beantworten können. Aber erst einmal musste er sich durch
den alltäglichen Frust stellen, dem alltäglichen Wahnsinn,
den das Ministerium tagtäglich ausheckte, um an der Macht zu
bleiben, den alltäglichen Verbrechen, die das Ministerium
beging, um die Leute zu terrorisieren.

Nach endlosen Stunden
der Arbeit, des Stresses und -paradoxerweise- der Monotonie, machte
sich Jefferson um 17 Uhr 30 auf den Weg nach Hause. Dann, nach
einiger Zeit des sprichtwörtlichen „rumgammelns“, macht
Jefferson sich um halb 8 auf dem Weg zum Hafen. Obwohl die Themse
beim Bau der Kuppel umgeleitet werden musste, sprach man in London
immer noch von den Docks und den Hafenanlagen. Das Ministerium konnte
diese Wortwahl noch nicht aus dem Sprachgebrauch verbannen. Das
stellte immer noch eine potientielle Gefahr für die Autorität
der Partei dar. Jefferson ging durch die Neonleuchten erhellten
Strassen der Stadt. Es waren immer noch viele Menschen unterwegs.
Alle waren sehr gehetzt, so wie immer eigentlich… Zeit schien
niemand mehr zu besitzen. Jeder schob vor, etwas zu tun zu haben um
ja keinen Verdacht auf sich zu ziehen. Nach einigem Fussmarsch
erreichte er schliesslich die New State Street, die lediglich aus
einer gut 150 Meter langen Strasse mit Wendehammer bestand und von
zwei grossen Lagerhallen gesäumt war. Jefferson bog in die
Strasse ein und ging in der Mitte der Strasse, um alles in seinem
Blickfeld haben zu können. Seine Tritte hallten leise wider. Im
milchigen Schein einiger Laternen konnte er eine mittelgrosse Gestalt
ausmachen, die vollständig in einen Kapuzenumhang gehüllt
war und auf der linken Seite der Strasse vor einer der beiden
Lagerhallen wartete. Als Jefferson sich näherte, machte sie
einige Schritte nach Vorn.
„Jefferson? Ich habe Sie bereits
erwartet. Ich bin derjenige, der Ihnen die Einladung über einen
Mittelsmann hat überbringen lassen.“, flüsterte die
Person leise. „Dann müssen Sie wohl R.D. sein, nicht wahr?“,
erwiderte Jefferson. „Gut erkannt, der bin ich. R.D. steht für
Rudolphus Drake. Sie können mich aber nur bei meinem Nachnamen
nennen – das stört mich nicht.“, fügte Drake feixend
hinzu. „Nun gut, dann lassen Sie uns mal rein gehen.“, sagte
Drake und wies auf die Tür der Lagerhalle. „Hier draussen
spricht es sich schlecht über die Vergangenheit und die Zukunft,
verstehen Sie?“, sagte Drake und betätigte einen Schalter an
der Wand der Lagerhalle. Wenige Sekunden später öffnete
sich das Tor und Jefferson und Drake traten ein. Fahles Licht im
Inneren der Halle ging mit einem monotonen Summen an.
Drake nahm
die Kapuze seines Mantels herab. Zum Vorschein kam ein Gesicht,
welches sehr gut von jemandem stammen könnte, der Anfang 60 ist.
Die Augen waren stahlblau und lagen hinter einer Nickelbrille, die
Nase krumm, als wäre sie schon mindestens einmal gebrochen
gewesen. Das kurze Haar war schon etwas angegraut und in der Mitte
zeigte ein kleiner Fleck an, dass daraus wohl irgendwann eine
Halbglatze werden könnte. „Das hier ist mein Reich…“ sagte
Drake etwas belustigt. „Treten Sie näher.“ Jefferson trat zu
Drake heran. Er hatte bis jetzt kaum gesprochen, und war etwas
verwundert und überrascht von Drake. „Ich habe mir Sie jünger
vorgestellt…“ sagte er mit einem taxierenden Blick. „Wer sind
Sie?“, fragte er dann. „Nun, das ist etwas schwer zu erklären.
Sie werden nicht alles verstehen und für manches ist die Zeit
noch nicht reif. Wenn ich Ihnen sage, dass ich nicht vom Ministerium
oder der Partei bin, werden Sie mir nicht glauben. Und wenn ich das
Gegenteil sage, würden Sie mir vertrauen?“ Jefferson war von
der Antwort mehr als überrascht. Er wusste nicht so recht, wie
er sie einordnen sollte. „Wäre ich vom Ministerium, dann wären
Sie schon lange in den Fängen der Mentoren, soviel kann ich
Ihnen verraten…“, sagte Drake leise und musterte Jeffersons
überraschten Gesichtsausdruck. „Aber, wir sind nicht hier, um
zu erörtern für wen ich arbeite, oder eher gesagt, für
wen ich nicht arbeite. Sondern, weil Sie Fragen haben, wie ich sehr
gut weiss, und dass Sie auf der Suche nach Antworten sind.“,
schloss Drake.
„Aber zuerst noch etwas über mich, da ich
kaum glaube, dass meine eingehende Antwort auf die Frage nach meinem
Sein wohl eher unbefriedigend beantwortet habe.“
Jefferson sagte
nichts. Er stand einfach da und hörte gespannt zu. „Nun,
Jefferson, ich bin älter als ich für Sie aussehen mag, und
noch viel älter, als Sie mich geschätzt haben. Ich wurde zu
einer Zeit geboren, da gab es noch ein Königreich von England,
da gab es noch ein Europa, eine Welt, natürlich, eine Welt des
Krieges, aber keinesfalls eine derartige unterdrückende Ordnung,
wie heute in dieser Zeit. Wir schreiben das Jahr 2120, und ich wurde
an einem 23. Januar 2034 geboren. Rechnen Sie nach, wie alt ich bin.
Genau, 86 Jahre. Viel älter, als ich aussehe, nicht war?“
Drake schien ob des nun noch mehr erstaunten Jeffersons belustigt.
„86 Jahre? Das ist schlicht unmöglich!“, erwiderte Jefferson
ungläubig. „Doch, doch…“, lachte Drake. „Aber wie kann
es sein, dass Sie noch so jung aussehen? Und dass Sie keine
Identifikationsnummer haben und alles?“ „Tjaah, ich glaube, das
liegt an meinem Alter, verstehen Sie?“ Jefferson war nun vollends
verwirrt. „Ich verstehe Ihre Zweifel. Das Ministerium behauptet
gerne, dass die Alten aus der alten Zeit nicht überlebt hätten
und dass die Alte Zeit Tot ist. Aber, ich kann nur sagen: Die irren
gewaltig.“, sagte Drake und mit jedem Wort wurde sein Lächeln
breiter. „Nun denn, ich denke, damit haben wir das wohl geklärt,
nicht wahr? Gehen wir mal nach da drüben, ich will Ihnen etwas
zeigen.“, sagte Drake nach einigen Sekunden. Jefferson und Drake
gingen rüber in die Mitte der grossen Halle. Dort standen drei
Automobile. „Das…“, fing Drake an, „das war das Ende unserer
Zivilisation.“, sagte Drake traurig. „Durch unseren Drang und
unsere Gier hatte meine Generation und die Menschen davor unseren
Planeten bis zum letzten ausgebeutet. Nur um mit dem Automobil
herumkurven zu können. Welch blanker Unsinn, so im nachhinein
betrachtet…“, seufzte er. „Das hier rechts ist eine fast 160
Jahre alte Mercedes Limousine“, sagte Drake und deutete auf den
schwarzen Wagen ganz rechts. Jefferson hatte so etwas noch nie
gesehen. „Drake, darf ich Sie etwas fragen?“ „Oh, aber
natürlich…“ „Hat das Ministerium eigentlich noch so etwas?
Wissen die davon?“ Drake lachte laut auf. „Natürlich haben
die so was, und natürlich wissen die auch davon. Als ob die sich
so einen Luxus verbieten würden!“, gluckste Drake. „Aber nun
gut, lassen Sie mich mal weitererzählen… Wie schon gesagt,
durch unsere Gier haben wir uns selbst zerstört. Es gab
schreckliche Kriege um die letzten Ölreserven des Planten, und
das nur, weil man gut 80 Jahre lang Entwicklung verpennt hat. Mein
Vater hat in der Zeit die Anteile an seinem Ölunternehmen
verkauft und hat dadurch gut 2,3 Milliarden Pfund Sterling
eingesackt. Das Geld hab ich dann später geerbt…“ erzählte
Drake. „Dann kam irgendwann die grosse Revolution. Sie wissen
schon, das Ministerium wurde gegründet und so was…“
Jefferson wusste zu genau. „Stimmt es, dass das Ministerium die
letzte, vorhergehende Regierung ermordet hat?“ „Ja, Jefferson. Es
stimmt. Ich war hier in London, als es passierte. Die Stadt war
bereits überkuppelt, es gab grosse Demonstrationen für die
Revolution. Schliesslich brach ein Aufstand los. Die
Regierungstruppen wurden aus London vertrieben. Einen Tag später
wurde der letzten König von Grossbritannien gefangen und wegen
angeblichen Hochverrats und Verbrechen gegen das Volk von England
hingerichtet. Das Todesurteil trägt die Unterschrift des ersten
Sekretärs…“, sagte er.
„Warum wurde die Kuppel gebaut?
Ich meine, die kann ja nicht immer da gewesen sein, oder?“ Drake
lachte wieder… „Es erstaunt mich, dass Sie so wenig wissen.“,
kam es aus Drake heraus und schlackerte mit einem langen Finger. „Die
Abteilung zwecks Abschaffung der Bildung scheint ganze Arbeit
geleistet zu haben – ebenso, wie Ihre Abteilung, die
Informationskorrektur…“, sagte er dann, nun etwas traurig. Drake
wirkte plötzlich müde und wirklich viel älter. „Kurz
nach der Machtübernahme des Ministeriums, wurden die Eingänge
versiegelt. Niemand konnte mehr rein oder raus. Und auf Ihre Frage
einzugehen… Nein, die Kuppel wurde erst 2039 gebaut, als die
Umweltverschmutzung und der Klimawandel Dimensionen erreicht hatten,
die unsere schlimmsten Befürchtungen weit in den Schatten
stellten. Wenigstens hab ich noch Dinge wie Regen und Schnee
gekannt“, fügte er an seine Ausführung hinzu.



Drake
blickte gedankenverloren auf die schwarze Limousine vor ihm.
Jefferson stand daneben. Also war die Zerstörung der Umwelt
dafür verantwortlich, dass die Kuppel gebaut wurde - die Kuppel,
von der Jefferson dachte, dass sie schon immer dagewesen sei. "Hmm",
macht Drake, "Es ist eine Schande, dass die Regierung Ihnen
verbietet, selbsttätig zu denken. Aber... ich habe nichts
anderes erwartet." Drake wirkte wieder eine Spur trauriger. "In
meiner Zeit waren schon Tendenzen da, schon zu Beginn des 21.
Jahrhunderts waren sie das. Aber kaum jemand hat etwas dagegen getan.
Jefferson, Sie sind nicht der erste, der in einem Überwachungsstaat
lebt. Und sie werden nicht der letzte sein, es sei denn, wir tun
etwas dagegen." - "Aber was? Was meinen Sie? Ich verstehe
nicht ganz..." - "Revolution, mein Freund. Revolution.",
sagte Drake und richtete seine blauen Augen mit einem ernsten Blick
auf Jefferson. Drakes Blick war eindeutig und durchbohrend. "Wenn
das Alte nicht mehr funktioniert, muss etwas neues her. Das ist
Naturgesetz. Das ist die Grundlage vieler Verfassungen aus meiner
Zeit. In unserem Fall ist das Ministerium das Alte, Überkommene."


Jefferson fühlte sich auf einmal unangenehm. "Drake...
Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass eine Revolution..." -
"Doch, das glaube ich. Jedes System hat eine Schwachstelle.
Allein schon die Tatsache, dass Sie hier sind und dass wir beide
miteinander sprechen, beweist das schon. Jedes System hat ein Leck.
Jedes System ist fehlerhaft. Jedes System ist menschlich." -
"Woher nehmen Sie diese Sicherheit? Woher!?" Jefferson nahm
die Hände in die Taschen und schaute Drake musterte Drake
kritisch von oben bis unten. "Weil es so ist.", sagte
dieser schlicht. "Die Geschichte lehrt mich das. Haben Sie je
das Buch 1984 von George Orwell gelesen?" - "Ähm..."
- "Das dachte ich mir bereits...", seufzte Drake, nachdem
Jefferson etwas unsicher schien. "Unsere Situation ist identisch
mit jenen, die in Ozeanien leben. Unsere Regierung ist genauso
skrupellos wie die Schergen, die Orwell beschreibt, genauso
widerlich, genauso tyrannisch, zynisch und unmenschlich. Und doch ist
so ein System knackbar. Schon allein durch erwähnte Tatsache,
dass wir beide miteinander reden können. Ich gehöre zum
Widerstand. Sie gehören noch zum System. Aber ich merke, dass
Sie seit geraumer Zeit etwas differenzierter, wenn nicht kritisch
denken.", ratterte Drake schliesslich runter. Jefferson blickte
verwirrt drein. Um sich etwas Bedenkzeit zu verschaffen, zog er die
Händer aus der Tasche, samt Inhalt. Dann sagte er: "Also...
Revolution. Nun gut..." Ihm war jetzt unbehaglicher denn je. Er
konnte auch von Drake getäuscht und verraten werden. Das war ihm
klar. Allerdings, sterben musste er eh irgendwann. Lieber so, als
still und friedlich, das war sein Denken. Wenn er vom Ministerium zu
Tode gefoltert würde oder an einem Infarkt sterben würde,
eines fernen Tages - das würde im Ergebniss keinen Unterschied
ausmachen. Nur, dass die eine Variante sehr sehr schmerzhaft sein
würde, aber was war schon Schmerz, wenn man keine Furcht vor dem
Tod kennt?

"Überlegen Sie es sich." zwinkerte
Drake. "Es ist schon spät, es wär wohl besser, wenn
wir uns jetzt trennen. Wir werden uns schon sehr bald wiedersehen,
denke ich. Ich werd es Sie jedenfalls wissen lassen.", sagte
Drake aufeinmal. Ohne es geistig registriert zu haben, waren beide
schon wieder draussen vor der Lagerhalle. Irgendwie waren sie nach
draussen gelangt, ohne dass Jefferson das mitbekommen hatte. Das lag
vielleicht an seinen Gedanken...
Drake war in der Tat ein seltsamer Mann. Jefferson war keine zwei
Meter gegangen, als er das Lagerhaus in der New State Street
verlassen hat, da war dieser mysteriöse Alte auch schon
verschwunden. Jefferson schüttelte demn Kopf. Es konnte einfach
nicht sein. Zu absurd das ganze. Zu abstrus. Das Gespräch hat
mehr Fragen aufgeworfen, als es klären konnte. Jefferson war ein
wenig enttäuscht, aber... ändern konnte er es jetzt nicht
mehr. Er ging langsam die Strasse entlange, die Hände in den
Taschen. Er überlegte. Er bog auf die Hauptstrasse, wo nur noch
vereinzelt Menschen unterwegs waren. Sie hatten ihre Hüte tief
ins Gesicht gezogen, sodass man dieses nicht oder nur sehr schwer
erkennen konnte. Die meisten waren sicherlich Angestellte des
Ministeriums, nur die konnten es sich leisten, nachts noch
herumzustromern. Jefferson dachte über die Vergangenheit nach...
Früher mussten die Menschen frei gewesen sein, so frei wie der
Wind, von dem Jefferson nicht wusste, dass er existierte. Damals
musste die Welt voller Farbe gewesen sein, von denen Jefferson nicht
wusste, dass sie existierten. Egal, wie er es drehen oder wenden
würde, Drake würde schliesslich recht behalten. Das, was
Jefferson kannte, das war nichts zu dem, was Drake noch erlebt hatte,
auch wenn das schon in den letzten Zuckungen lag und vergangen war.
Was Jefferson sich fragte war, ob es nicht noch andere Städte
gab. So wie London. Ob es noch andere gab, noch andere Menschen. Ob
es noch Freiheit gab, von der Jefferson nicht wusste, wie sie
aussehen würde. Schritt für Schritt tat er vorwärts.
Immer weiter. Wie Sisyphos, der seinen Stein immer wieder den Hügel
emporwälzt. So war er, Jefferson, ebenfalls in seinem Schicksal
verloren, nur, dass Sisyphos mit der Zeit, der endlosen, über
sein Schicksal triumphierte. Jefferson würde nicht ausbrechen
können durch Hohn, nicht ausbrechen können durch Gedanken.
Er war im System gefangen und stand nicht, wie die Mythengestalt
ausserhalb. Er war schutzlos seinen Peinigern ausgeliefert...
Also doch Revolution? Also doch Widerstand? Gegen die Tyrannerei, die
Arroganz, eine ganze Menschheit zu versklaven? Die letzten
Schritte zu seinem Haus schlurfte Jefferson, seine Gedanken forderten
seine Kräfte. Er ging durch die Eingangshalle. Oder eher: er
schleppte sich. Wie Sisyphos. Und in ein paar Stunden würde es
wieder von vorne losgehen, nur ohne Drake. Ohne Fragen. Ohne
Gedanken. Ohne Freiheit. Er hatte sich für einen Abend
eine Illusion erschaffen, oder eher: erschaffen lassen, was aber im
Ergebnis kaum einen Unterschied machte. Jefferson dachte jetzt
anders, sehr viel anders. Aber er konnte, durfte und wollte es nicht
mit seiner Umgebung teilen - noch nicht. Der Tag würde kommen.
Er war jetzt ein anderer Mensch... Mensch, ja, das war er. Er
schleppte sich in den Aufzug. Drückte die 25. Und wartete. Nicht
lange, der Aufzug tat seine Arbeit, das Gegengewicht sank nach unten,
die Kabine stieg nach oben. 25 Stockwerke, oder 31 Sekunden. Eine
unermesslich lange Zeitspanne. So unermesslich, dass Jefferson sich
Gedanken darüber machte, warum zum Henker diese Neonleuchte im
Fahrstuhl flackern muss. Warum seine Welt, in die er geboren wurde,
so war, wie sie ist. Egal, Türen öffnen sich. Andere
schliessen sich. So auch hier, er talpte hinaus, ins Halbdunkle der
milchigen Funzeln. Aus seiner Tasche holte er nach kurzem Wühlen
und einem kurzen Kampf mit sich selbst den Schlüssel hervor.
Klick. Klack. Knarz. Die Tür zog schwerer als sonst. Aber sie
zog auf und Jefferson wankte hinein. So müde war er noch nie, so
müde von der Tristesse und seinen Gedanken. Nie wieder, dachte
er sich. Das machte ihm mehr zu schaffen als ein verdammter
Dauerlauf. Er zog an seiner Krawatte. Zog sie auf. Der Empfänger
zeigte die Zeit, etwa 11 Uhr abends, Zeit, schlafen zu gehen. Er zog
immer noch an der Krawatte, als würde er sich einen Python vom
Halse schaffen. Dann erst zog er sein Jackett aus, zog es sich von
den Schultern und warf es lässig auf den Stuhl.
Er seufzte.
Wieder ein Tag rum. Von wie vielen? Im Leben? Im Schnitt? Was solls,
er war müde. Schluss mit den Gedanken. Denken verwirrt nur,
schafft Unruhe und Müdigkeit. So warf er sich schliesslich
selbst ins Bett. Und schlief...

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Christian Servos).
Der Beitrag wurde von Christian Servos auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.02.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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