Sidney Born

Mein ist die Rache


Daniel Weimer entdeckte
erst im Alter von 16 Jahren die Vorzüge seines Dachbodens. Es war an seinem
Geburtstag, am Morgen, als es ihm noch verboten war hinunter ins Wohnzimmer zu
gehen. Seine Eltern bereiteten dort irgendeine Überraschung vor und er war es
leid, tatenlos in seinem Zimmer zu sitzen. Er öffnete die Luke in der Decke und
stieg die Treppe hinauf.

Oben war es warm,
stickig und dunkel. Daniel fand eine Taschenlampe und knipste sie an.

Begeistert sah er
sich um. Der Boden war bedeckt mit Gerümpel, er sah eine alte
Satellitenschüssel, ein zerfetztes Sofa, drei zerbrochene Skateboards, ein
splitternder Baseballschläger und natürlich eine Unmenge an Kleinkram. Er
setzte sich auf den Boden und nahm einen verstaubten Playmobilmenschen in die
Hand. Er konnte sich an ihn erinnern; sein Vater und er hatten früher mit
dieser und noch einigen anderen Figuren oft in seinem Zimmer gesessen und
gespielt, meist mit der selbstgebauten Minihalfpipe; musste die nicht auch noch
irgendwo hier herumliegen?

Das tat sie; Daniel stellte fest, dass er seinen
Arm darauf abgestützt hatte. Er lächelte.
Von unten hörte er seine Eltern lauthals »Happy
Birthday« singen – sein Zeichen. Er schwang sich die Stufen hinab und schritt
breit grinsend ins Wohnzimmer.
 
»Schaut euch das an«, triumphierte Daniel, breitete die Arme aus und
drehte sich einmal um die eigene Achse, während seine beiden besten Freunde
David Flohr und Kevin Krämer die Leiter hoch kraxelten.

David rümpfte die Nase. »Ganz schön warm hier«,
bemerkte er.

»Es ist Sommer, falls dir das nicht aufgefallen
ist«, sagte Daniel. »Wir haben hier oben eben keine Klimaanlage.«

»Fenster?« kam es von Kevin.

Daniel drehte sich
zu ihm um. »Bilde ganze Sätze, Kevkopp. Nein, es ist kein Fenster da.
Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«

Kevin zuckte mit
den Schultern und ließ sich auf dem alten Sofa nieder. »Und was machen wir
jetzt hier oben?«

David wanderte in
den hinteren Teil des halbdunklen Raumes. »Was ist das hier?«

Die anderen beiden
traten hinter ihn und sahen etwas, was Daniel am Morgen zuvor nicht aufgefallen
war: ein schwarzes Tuch, das mit Nägeln oben an der Decke befestigt worden war.
David drehte sich zu Daniel. »Was ist dahinter?«

Der zuckte mit den
Schultern. »Keine Ahnung, hab noch nicht nachgeguckt.«

Als keiner sich
rührte, gab Kevin ein Schnauben von sich, stieß seine Freunde beiseite und
glitt hinter den Vorhang. Daniel verdrehte die Augen. Er schob das Tuch an der
Seite hoch und trat einen Schritt zurück. »Ladies first«, sagte er zu David.

Dieser schenkte
ihm ein sarkastisches Grinsen und folgte Kevin, Daniel ihm hinterher.

Kevin drehte sich
zu ihnen um. »Kein Wunder, dass es da hinten so dunkel ist«, sagte er, »dieser
Vorhang frisst das ganze Licht vom Fenster.«

Der kleine Fleck,
auf dem sie standen, war fast unnatürlich hell beleuchtet, durch ein
lukenartiges Fenster über ihren Köpfen. In ihrer Mitte stand ein einfacher
Holzstuhl. Ratlos sah Daniel sich um. Er wusste beim besten Willen nicht, wozu
diese Abgrenzung gut sein sollte; hier hinten war doch nichts außer diesem
Stuhl, der genauso aussah wie die Stühle an ihrem Küchentisch.

Hinter ihnen
ertönte ein dumpfes Geräusch wie das Zuschlagen einer Tür, direkt darauf ein
Klicken. Daniel und David drehten sich um, blickten auf den Boden und sahen
sich dann mit gerunzelter Stirn an.

»War das die
Luke?« fragte David.

Daniel nickte. Er
kniete sich neben die zusammengeklappte Leiter, die eigentlich nach unten
führen sollte, montiert an der Falltür, die sich soeben scheinbar von selbst
geschlossen hatte. Er klopfte mit der Faust auf den Boden. »Mama, Papa?« rief
er. »Hallo? Wir sind noch hier oben, macht die Tür mal wieder auf!« Keine
Reaktion von unten. Mama und Papa sind bei ihren Freunden, erinnerte er
sich. Sie wollten mir einen sturmfreien Abend mit meinen Freunden zum
Geburtstag schenken. Aber wer hat dann…? Scheiße! Er drückte gegen die
Luke, stemmte sich gegen die Leiter. »David, hilf mir mal«, knurrte er. »Kevin?«

Kevin antwortete
nicht.

»Egal. Nach unten
drücken, David.«

Sie drückten mit
vereinter Kraft, doch nichts bewegte sich, keinen Zentimeter. Dann fiel Daniel
ein, dass die Luke einen Haken hatte, den man von unten mit einem Stock nach
hinten ziehen musste, um die Leiter herunterziehen zu können. Er lehnte sich
vor und fand schließlich den kleinen Metallstift, den es zu bewegen galt. »Hör
auf zu drücken«, murmelte er. »Ich weiß, wie’s geht.« Er versuchte mit den
Fingern den Verschluss in seine Richtung zu schieben, drückte und schlug
dagegen, doch wieder bewegte sich nichts. »Verdammt, das gibt’s doch nicht!«
fluchte er.

David drückte ihn
beiseite. »Lass mich mal versuchen.«

Doch auch er war
nicht erfolgreich. »Kevkopp!« brüllten die beiden Freunde wie aus einem
Munde. Als Kevin noch immer nicht reagierte, warfen sie sich einen kurzen Blick
zu, standen auf und traten wieder zurück hinter den Vorhang.

»Kevkopp, was
machst du die… Kevin?«

Kevin stand direkt
neben dem Stuhl, er hatte seinen Kopf in den Nacken gelegt und starrte mit
leeren, weiten Augen aus dem Fenster, in dieses grelle Licht, von dem kaum zu
glauben war, dass es bloß Tageslicht war.

David schnaubte.
»Sehr witzig. Hör auf, den Psycho zu spielen und komm uns helfen, die blöde Tür
ist irgendwie zugefallen.«

Nichts.

Daniel verpasste
ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Hallo-oh? Kevin, beweg deinen Arsch, das
ist nicht lustig. Sowas kannst du mit deiner Schwester machen, nicht mit uns.«

Kevins Mund stand
ein Stück weit offen. Langsam begann ein kleiner Fluss aus Speichel aus seinem
Mundwinkel zu tropfen. David rümpfte die Nase. »Das ist echt widerlich. Erde an
Kevkopp – aufwachen!«

Langsam, ganz
langsam, setzte in Daniel die Sorge ein. Wirklich nur sehr langsam. Er musterte
Kevin mit schiefgelegtem Kopf und dann, plötzlich, verknüpfte sich die Sorge mit
einem Fünkchen Angst. »Kevin«, sagte er leise. »Antworte jetzt, ist irgendwas
passiert? Kevin… Kevin – ist irgendwas passiert? Kevin! Was ist passiert?« Er packte ihn bei den Schultern und wollte
ihn vom Fenster wegreißen, doch er bewegte sich genauso wenig wie die Luke im
Boden. Stattdessen bewegte sich der Stuhl.

Wie durch einen Magneten gesteuert rutschte er über den Boden, drückte
in Kevins Kniekehlen bis er gezwungen war sich darauf zu setzen.

»Was zum…«

»Seid ruhig.«

David und Daniel fuhren synchron zusammen. »Wer war das?« flüsterte
David heiser. Daniel zuckte bloß mit den Schultern. Sein Blick ruhte auf Kevin,
der wie hypnotisiert auf dem Stuhl hockte. Hinter ihm entstand langsam ein
Wirbel aus Weiß- und Grautönen, der sich Stück für Stück zur Silhouette eines
Menschen formte. Allmählich begann Daniel, an die Theorie des Traumes zu
glauben. Das war einfach zu abstrus. Stück für Stück bildeten sich Konturen in
dem weißen Nebel und David und Daniel taten instinktiv einen Schritt zurück.

Vor ihnen stand ein Mädchen, noch immer in schwarzweiß, von höchstens
zwölf Jahren. Ihre Haare und Augen waren hell, ihr Kleid fast blendend weiß.

David schüttelte langsam den Kopf. »Wa-was…«

Sie blickte sie verächtlich an. »Flohr, Weimer?« Ihre Stimme war
ungewöhnlich tief und voller Hass.

Die beiden Jungen schluckten; David nickte vorsichtig.

»Ich darf euch bitten zu gehen«, sagte das Mädchen. Hinter ihnen
bewegte sich der schwarze Vorhang zur Seite. »Ich muss mich zuerst mit eurem
Freund beschäftigen. Ihr könnt solange hier warten und … vielleicht noch einmal
versuchen die Luke zu öffnen.« Ihre Mundwinkel zuckten zu einem winzigen
Grinsen. »Auf gut Glück. Geht.«

Daniel und David sahen sich an. Davids Gesicht spiegelte Angst wider,
während Daniel noch immer davon überzeugt war, zu träumen. Er zuckte mit den
Schultern, drehte sich um und ging einige Schritte weiter in Richtung der
hochgeklappten Leiter. David stakste ihm hinterher.

»Daniel, was ist das?« fragte David mit dünner Stimme. Er ließ sich auf
den Boden fallen und fuhr sich zittrig durch die Haare.

»Ein Traum«, antwortete Daniel im Brustton der Überzeugung und setzte
sich neben ihn. »Mach dir nicht ins Hemd.«

Kevin blinzelte verwirrt. Was war passiert? Wie kam er plötzlich auf diesen
Stuhl und warum in aller Welt war er gefesselt? Er konnte sich nur noch
erinnern, aus dem Dachbodenfenster seines Freundes Daniel gesehen zu haben,
danach war alles schwarz. Daniel, Daniels Dachboden… Kevin sah sich flüchtig
um. War das hier nicht der Teil des Bodens hinter dem schwarzen Tuch? Er
öffnete gerade den Mund, um nach seinen Freunden zu rufen, da spürte er etwas
kaltes an seinem Kinn, das seinen Unterkiefer wieder nach oben drückte.

»Ich möchte, dass du ruhig bist, Kevin«, sagte eine Mädchenstimme dicht
an seinem Ohr. »Zu rufen würde niemandem etwas bringen. Hinter diesem Vorhang
hört dich keiner, er ist sozusagen schalldicht. Du würdest also nur meine Ohren
strapazieren und du weißt ja, so etwas tut man einer Dame nicht an.«

Kevin hob eine Augenbraue und versuchte etwas zu sagen, doch der Druck
an seinem Kiefer war noch immer zu stark um die Lippen auch nur ein kleines
Stück auseinander zu bewegen.

»Falls es dich interessiert – und auch, falls es dich nicht
interessiert –, was dich da gerade am Sprechen hindert, ist ein Messer. Äußerst
spitz, äußerst scharf, äußerst effektiv und noch äußerst sauber. Ich
bitte dich, das zur Kenntnis zu nehmen.«

Das Metall löste sich von seiner Haut, Kevin setzte an zu fluchen – da
presste sich die Klinge auf seine Lippen. Neben sich hörte er Schritte, dann
erschien das Mädchen, mit dem David und Daniel bereits Bekanntschaft gemacht
hatten, in seinem Blickfeld. »Ah«, machte es knapp. »Ich habe gesagt, du sollst
ruhig sein. Und du bist absolut nicht in der Position, dich mir zu
widersetzen.«
Kevin knurrte leise und musterte sie von oben bis unten. Langsam
breitete sich ein diabolisches Lächeln auf dem Gesicht des Mädchens aus. »Ich
möchte mich dir vorstellen«, sagte sie. »Mein Name ist Samantha Donahue.« Beim
Klang ihres Nachnamens hob Kevin beide Brauen, und das Lächeln seines
Gegenübers verbreiterte sich noch mehr. »Du denkst an Lynn Donahue, nicht wahr?
Schön, dass dir das so schnell einfällt, aber das tut jetzt nichts zur Sache.
Im Moment ist das Wichtigste dein Untergang.«

Sie löste die Klinge von Kevins Lippen und sofort legte er los: »Hör
mal, Kind, ich weiß nicht wer du bist und für wen du dich hältst, aber du bist
krank. Bind mich los und geh zu einem Psychiater. Und falls das hier irgendein
blöder Streich von dieser Göre Lynn ist, kannst du ihr ausrichten, dass sie
dafür bezahlen wird, klar? Und jetzt –«

Samantha setzte das Fleischmesser, das in ihren Händen unwahrscheinlich
groß wirkte, links neben Kevins Nase an und zog es dann quer über seinen Mund
hinunter bis zu einer Stelle rechts neben seinem Kinn. Kevin schrie auf, Blut
floss ihm das Kinn hinunter, von seiner Oberlippe in seinen Mund, befleckte
seine Zähne.

»Ruhe«, zischte Samantha – und tatsächlich brach Kevin seinen
Schmerzensschrei ab, verwandelte ihn in ein ersticktes Keuchen. Samantha beugte
sich ein Stück zu ihm. »Ich bin nicht krank, Krämer. Meinen Zustand nennt man
nicht krank, sondern tot. Und wenn du noch ein einziges Mal so von Lynn
sprichst, bringe ich dich qualvoller um als geplant. Sie hat bereits genug
bezahlt für Dinge, die sie nicht einmal getan hat…«

Kevins Kinn zitterte. »Es hat also doch mit Lynn zu tun«, nuschelte er
zwischen seinen geschundenen Lippen hervor, was ihm einen Schnitt waagrecht
über die Stirn bescherte. Dunkles Blut benetzte eines seiner Augen, während er
erneut schrie.

»Es ist an der Zeit, die Sache ernst zu nehmen«, raunte Samantha. »Du
wirst bald sterben, Kevin, also bilde dir nicht ein, das hier sei irgendein
Spiel. Es ist nicht jeder so naiv wie du.«

Kevin schloss die Augen und ließ den Kopf hängen, der Schmerz
vernebelte ihm den Verstand.

»Glaubst du jetzt, dass es ernst ist, Kevin?«

Ihre Stimme nahm er bloß verschwommen wahr, als stünde sie sehr weit
weg.

»Glaubst du es jetzt?«

Ein kräftiger Schlag gegen eine seiner blutenden Schläfen brachte ihn
zurück in die klare Realität. »J-ja«, stammelte er schnell.

»Gut. Sehr schön.« Samantha lächelte trocken.

»Aber…« machte Kevin und zog die Augenbrauen zusammen, was ihm einen
stechenden Schmerz in der Stirn verursachte. »Aber warum?«

»Denk mal darüber nach«, sagte Samantha leise. In diesem Moment spürte
Kevin, wie sich die Messerspitze langsam in seinen Brustkorb drückte. »Du wirst
im Jenseits genügend Zeit dazu haben.«

»Nein«, hauchte Kevin. »Nein, bitte nicht, bitte…«

Samantha beugte sich etwas zu ihm hinab, Kevin spürte eiskalten Atem
auf seiner Haut. »Gnade?« raunte Samantha. »Du möchtest, dass ich gnädig bin?
Nun, das leuchtet mir ein, doch … da gibt es noch ein Problem.« Das Messer
durchdrang seine Haut; er japste erschrocken auf. »Warum sollte ich?«

Bevor Kevin etwas erwidern konnte, hatte das kalte Metall sein Herz
durchbohrt.
 
Nachdem Samantha Kevins Leiche hatte verschwinden lassen, trat sie erneut vor
den Vorhang. Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht, als sie die beiden
übriggebliebenen Jungen sah. David hatte sich auf dem Boden zusammengerollt,
seine Hände bluteten – ein Zeichen dafür, dass er versucht hatte, den Vorhang
zu bewegen – und er zitterte am ganzen Körper, während Daniel bloß vor der
Dachluke saß und gedankenverloren ein Playmobilmännchen in seiner Hand
musterte.

Ein Blutstropfen fiel von der Spitze des Messers in Samanthas Hand auf
den Boden. Das Geräusch, als er zersprang, war unnatürlich laut in dem stillen
Raum.

David hob den Kopf und starrte
sie aus schreckgeweiteten Augen an; Samantha blickte sichtlich zufrieden
zurück. »Hab keine Angst, David«, sagte sie. »Dich werde ich vorerst
verschonen. Daniel, komm bitte her.«

»Das ist ein Traum«, sagte Daniel prompt. Er rührte sich nicht.

»Daniel«, sagte Samantha scharf, »beweg dich, wenn du nicht willst,
dass ich nachhelfe.«

Doch Daniel hörte nicht. Stattdessen richtete David sich langsam auf.
»Lass… Lass ihn… Lass ihn in Ruhe«, krächzte er.

Samantha musterte ihn verächtlich. Ihre Füße hoben sich vom Boden, sie
schwebte ein Stück empor, bis sie höher war als er. »Er hat keine Ruhe
verdient«, zischte sie. »Er hat sie nicht verdient, Krämer hatte sie nicht
verdient, du hast sie nicht verdient. Wenn ich mit euch fertig bin, wirst du
wissen, warum, aber du bist noch nicht dran. Also setz dich wieder hin und
warte.«

»Nein«, sagte David und klang dabei wie ein trotzendes Kind, das noch
nicht zu Bett gehen will. »Ich lasse nicht zu, dass du meinem Freund etwas
tust!«

Samantha schmunzelte – ein zugleich diabolisches und spottendes
Verziehen der Mundwinkel. Langsam bewegte sie sich auf ihn zu und automatisch
wich David zurück. Sie hob das blutige Messer so, dass es auf der Höhe seines
Bauches war. »Bist du sicher, dass du dich mir widersetzen willst?« raunte sie;
ihre Stimme war bedrohlich gesenkt.

David fiepte und presste sich gegen die Wand – eine Antwort gab er
nicht. Samantha grinste und drehte sich zu Daniel. Sie hob die Hand; Daniel
wurde mit einem Mal von einem Wirbel aus weißem Licht umgeben. Samantha
schenkte David ein letztes schiefes Grinsen, dann trat sie hinter den Vorhang.
Zeitgleich mit dem Wirbel verschwand Daniel.

Als er wieder zu sich kam, nahm Daniel Stimmen wahr. Er blinzelte und sah sich
um, doch er konnte niemanden entdecken. Nüchtern stellte er fest, dass die
Stimmen in seinem Kopf sein mussten. Aber was sagten sie? Sie sprachen alle
gleichzeitig, ein einziges Durcheinander von Lauten.

Er zuckte mit den Schultern und sah sich erneut um. Er saß, mit dem
Rücken zur Wand, in einem halbdunklen Raum, der allem Anschein nach völlig leer
war. Mit etwas schwachen Beinen – sein Kopf dröhnte wie nichts Gutes – stand er
auf. Sorgfältig und langsam tastete er alle vier Wände ab, musterte sowohl
Decke als auch Boden eingehend. Es gab keine Tür.

Gerade begann Daniel, sich wieder damit abzufinden in einem besonders
merkwürdigen Traum gelandet zu sein, da hob sich eine Stimme laut und deutlich
aus dem Wirrwarr in seinem Kopf hervor: »Du bist schuldig. Das ist kein Traum.
Das ist deine Bestrafung.«

Daniel blieb mitten im Raum stehen und hob eine Augenbraue. »Hä?«
machte er laut.

»Deine Bestrafung«, sagte die Stimme energisch. »Verstehe endlich,
dass du nicht träumst.«

»Was mach ich dann hier, wenn nicht träumen?«

»Du sitzt deine Strafe ab. Du bist hier in diesem Raum eingesperrt, du
kannst nicht hinaus. Und während du verdurstest, kannst du dir Gedanken machen,
womit du das verdient hast. Wir helfen dir dabei.«

Erneut wurden die Stimmen lauter, erfüllten seinen Kopf mit
unverständlichem Durcheinander, aus dem man in einzelnen Wortfetzen immer bloß
eine Silbe heraushören konnte: Schuld.

Langsam sank Daniel auf die Knie. Er hob die Hände zum Kopf und presste
sie auf seine Schläfen, kniff die Augen zusammen und wippte leicht vor und
zurück. »Seid still«, murmelte er, »seid doch mal still…«
 



Als Samantha erneut im Raum erschien, hatte David sich wieder gefasst. Er
wirbelte zu ihr herum und sah sie entschlossen an. »Ich lasse mich nicht von –«
Noch bevor er den Satz beenden konnte, brach er keuchend zusammen. Etwas hatte
ihn wie ein Faustschlag im Bauch getroffen, doch er hatte nichts sehen können.
Würgend und röchelnd kniete er auf dem staubigen Boden, versuchte krampfhaft
seinen Mageninhalt zurückzuhalten und gleichzeitig einzuatmen.

»Versuch nicht, es zu verhindern«, sagte Samantha leise. Durch einen
erneuten unsichtbaren Schlag fiel David auf den Rücken; an seiner Stirn wurde
eine Platzwunde sichtbar. »Das würde es bloß heftiger machen.«

David stöhnte. Eine Hand ruhte auf seiner blutenden Stirn, die andere
tastete um ihn herum nach Halt, um sich wieder auf die Beine zu ziehen.
Samantha platzierte einen halbdurchsichtigen Fuß auf seinem suchenden Unterarm
und drückte ihn mit überraschender Kraft gegen den Boden. David zuckte zusammen
und zog an seinem Arm, in die eben noch mutigen Augen trat langsam die Panik.
»Lass mich bloß in Ruhe«, fiepte er.

Samantha verlagerte mehr Gewicht auf ihren Fuß und ging langsam in die
Hocke; David spürte wie seine Knochen ächzten, während Samanthas Gesicht dem
seinen immer näher kam. »Das hättest du nicht verdient«, raunte sie. »Du hast
meine Schwester nie in Ruhe gelassen, nie.« Ihre Hand schnellte vor und packte
seinen Hals. »Jeden Tag Terror, nie Frieden für ein junges Mädchen, ihr habt
ihr das Leben zur Hölle gemacht, ohne – ersichtlichen – Grund.«

Gnadenlos drückten ihre Finger seine Kehle zu, nahmen ihm Stück für
Stück die Luft zum Atmen. »E-es geht … um …«

Ihre Hand drückte fester gegen seine Gurgel. »Spar dir den Atem«, sagte
Samantha verächtlich. »Ja, es geht um sie, es geht um Lynn Donahue. Das
Mädchen, das du und deine erbärmlichen Freunde zerstört habt.«

David versuchte verzweifelt einzuatmen, die Schmerzen in seinem
überstrapazierten Arm in seiner Atemnot vergessend. Das Weiße in seinen Augen
hatte einen blutigen Rot-Ton angenommen, die Haut seines Gesichts färbte sich
mehr und mehr blassblau. Samantha verfestigte ihren Griff erneut, hob seinen
Kopf ein Stück an, schlug ihn donnernd gegen den Boden und ließ schließlich von
seinem Hals ab.

Stockend und hustend atmete David ein, drehte sich auf die Seite und
betastete vorsichtig mit der freien Hand seine Kehle. Nachdem Samantha von
seinem Arm gegangen war, fand er seine Stimme wieder. »W-wer … b-bi-bist du?«
fragte er röchelnd.

»Mein Name ist Samantha Donahue«, sagte sie leise. Ihre Augen hatten
den wütenden Glanz verloren, den sie seit jeher beherbergt hatten; sie musterte
den am Boden liegenden David nun bedächtig und beinahe traurig. »Ich bin Lynns
große Schwester … nun ja, gewesen. Vor acht Jahren musste ich das Diesseits
verlassen und kurze Zeit später zusehen, wie drei vollkommen hirnfreie Idioten
in ihrer Klasse sie tagtäglich nieder machen.« Wäre David nicht so verwirrt und
verzweifelt gewesen, hätte er nun deutlich beobachten können, wie die Wut
wieder in Samantha hochstieg. »Lynn war so ein fröhliches Mädchen gewesen, sie
hatte solchen Spaß, sogar in der Schule – ihr habt es ihr kaputt gemacht, ihr
habt ihre Welt zerstört, mit eurem oberflächlichen Getue!« Ihr Fuß traf hart auf
Davids Schädel, er schrie auf, drehte sich benommen auf den Rücken und hob
verteidigend die Hände. »So macht ihr nicht weiter«, raunte Samantha. Wie aus
dem Nichts erschien ein Messer in ihrer Hand, sie rammte es in Davids direkt
vor ihr zitternde linke Handfläche. »So werdet ihr nicht weitermachen können – ich weiß es zu
verhindern, glaub mir das…«

David fiepte und wimmerte, krabbelte rückwärts während er entsetzt die
blutige Wunde in seiner Hand anstarrte. Doch je mehr er zurückwich, desto näher
kam ihm Samantha. Ohne es wirklich zu merken formte er stumm mit den Lippen die
Worte Tu mir nichts.

»Gib mir einen guten Grund, weshalb ich dich verschonen sollte«, raunte
Samantha.

»I-ich…« Die Laute aus Davids Kehle glichen dem Winseln eines Hundes.
»Ich habe ihr doch … gar nichts getan…«

Einen Moment lang war es still. Samantha starrte ihn ungläubig an, ihr
Mund stand leicht offen. Langsam verengten sich ihre Augen, bis sie nur noch
lodernde Schlitze waren. »Du hast ihr nichts getan?« sagte sie leise. »Du hast
ihr nichts
getan?«
Nach und nach hob sich ihre Stimme, wurde lauter und gleichzeitig tiefer,
dröhnender. »Du willst mir ernsthaft erzählen, dass du Lynn
nichts getan hast? NICHTS? Sie kommt jeden Mittag weinend nach Hause, weil ihr
sie schikaniert habt, steht verzweifelt vor dem Spiegel, nachdem sie von euch
ausgelacht wurde, ihre Rippen waren schon so oft geprellt, weil ihr sie
beworfen und geschubst habt, DU HAST IHR NICHTS GETAN?«

David weinte, Tränen flossen in Strömen seine Wangen hinunter, sein
Atem ging stockend. »W-wir… Wir wussten ni-nicht, dass… dass ihr d-da-das so
z-z-zuse-setzt…«

»Dann hättet ihr nachdenken müssen«, fauchte Samantha. Ihr Messergriff traf
hart auf Davids Schläfe. »Aber selbst dafür wart ihr zu dumm. Und Dummheit wird
viel zu selten bestraft.«

David sah sie stumm aus schreckgeweiteten Augen an, er hatte die Knie
angezogen und presste sich rücklings gegen die Wand. Samantha ging vor ihm in
die Hocke; das Grinsen war zurück in ihr Gesicht gekehrt. »Davon abgesehen«,
sagte sie, »glaube ich dir nicht, dass euch dieser Gedanke nie gekommen ist. So
blind kann niemand sein. Allerdings…« Sie hob das Messer so, dass die Spitze
nur noch knapp einen Millimeter von Davids Augapfel entfernt war.

David schluckte schwer und setzte an, den Kopf wegzudrehen. Er hielt
jedoch in der Bewegung inne; das Messer war ihm zu nah.

»Allerdings wirst du gleich trotzdem einiges über Blindheit erfahren.
Wahrscheinlich mehr, als dir lieb ist.«

»Nein«, hauchte David. Seine Augen waren so weit aufgerissen, dass sie
aus den Höhlen traten; sie tränten, weil er nicht den Mut hatte zu blinzeln.

»Oh doch«, sagte Samantha leise. »Du wolltest nicht sehen, also sollst
du auch nicht sehen.« Und als das Messer sich langsam durch seine Netzhaut
bohrte, setzte sie flüsternd hinzu: »Amen.«

David brüllte und zappelte, versuchte Samanthas Arm wegzuschlagen, doch
sein Schlag fuhr hindurch wie durch Luft. Als auch das Licht seines anderen
Auges erlosch, hatte er sich bereits heiser geschrien.

Langsam drehte Samantha das Messer nach links und rechts, zog es hinaus
und rammte es wieder zurück, betrachtete dabei mit Genugtuung die Flüsse aus
Blut, gemischt mit einer anderen, helleren Substanz, die seine Wangen
herabströmten.

»Meine Augen«, wimmerte David leise. »Ich bin blind…« Dann verlor er
das Bewusstsein.

Samantha wartete geduldig, bis er wieder zu sich kam. Sie säuberte ihr
Messer am Vorhang, ritzte David mit blutiger Genauigkeit das Wort Wichser in die Stirn, säuberte
das Messer erneut und setzte sich schließlich still neben ihn. Aus dem Nichts
ließ sie ein Seil erscheinen und knotete dies langsam zu einem Galgenstrick.

David hob den Kopf und ließ ihn sofort wieder sinken. Er schluckte
schwer und öffnete den Mund; heraus kam nur ein schwaches Fiepen. Wortlos erhob
sich Samantha, holte mit dem Bein aus und trat mit verheerender Kraft gegen
Davids Arm. Sein Unterarm schnellte nach hinten und blieb in unnatürlichem
Winkel liegen, seine Finger zuckten, Knochen knackten, aus seiner Kehle drang
ein ersticktes Röcheln.

»Steh auf«, befahl Samantha. David zeigte außer heftigem Zittern keine
Bewegung. »Aufstehen«, raunte Samantha, »wenn du nicht willst, dass ich dir
sämtliche andere Gliedmaßen auch noch breche.«

Durch Davids Körper ging ein Ruck. Seine Beine bewegten sich,
strampelten etwas, bis seine Fußsohlen den Boden gefunden hatten. Dann schaffte
er es. Abwechselnd ächzend und wimmernd drückte er sich an der Wand hoch,
schließlich stand er wankend auf den Beinen.

»Sehr gut, Kompliment«, sagte Samantha sarkastisch. »Jetzt halt still,
dann musst du gleich nicht mehr stehen.«

David wehrte sich nicht, als sie ihm die Schlinge um den Hals legte,
wortlos hob er den gesunden Arm und tastete das Seil ab, es folgte ein knappes
Nicken. Er hatte es akzeptiert. Ein Lächeln huschte über Samanthas Gesicht, sie
warf das Seil über einen Querbalken an der Decke, fing das Ende wieder auf und
begann langsam daran zu ziehen.

»Kannst du noch reden?« fragte sie leise.

Davids Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, doch sämtliche Panik war
daraus gewichen – kurz vor seinem Tod besaß er äußerste Nüchternheit: »Ja.«

»Dann sprich mir nach«, sagte Samantha. »Ich bin schuldig.«

»Ich bin schuldig«, wiederholte David tonlos.

»Welch wahre letzte Worte.« Samantha grinste breit, als sie mit einem
kräftigen Ruck das Seil gen Boden riss.

 
 
Am nächsten Morgen erreichte Lynn Donahue ein Anruf, sie könne nicht zur Schule.
Das Gymnasium, das ihr jahrelang Kummer und Frustration beschert hatte, stand
lichterloh in Flammen.

Zur selben Zeit öffnete sich die Falltür, die zum Dachboden der Weimers
führte. Daniels Eltern konnten somit nach einer Nacht voller Sorge endlich nach
ihrem Sohn sehen.

Sie fanden ihn und zwei seiner Freunde in einer Pfütze aus dunklem Blut
am Boden liegen. Kevin Krämers Gesicht war von Schnitten überzogen und in
seiner Brust prangte ein tiefes Loch. Daniel selbst bestand fast nur noch aus
Haut und Knochen, in seinem ausgemergelten Gesicht stand der Ausdruck blanken
Wahnsinns. David Flohr lag etwas abseits von ihnen, um seinen Hals hing ein
Seil, dessen Ende abgerissen war (an einem Querbalken über ihm war der Rest
dieses Stricks festgeknotet), auf seiner Stirn stand in blutigen Lettern ein
Schimpfwort, seine Augen waren ausgestochen und kaum noch als solche zu
erkennen, einer seiner Arme war offen gebrochen, in seiner Hand war ein ebenso
großes Loch wie in Kevins Brust. Allen drei Jungen waren die Augenlider
abgetrennt worden, sie lagen neben der Pfütze; unter ihnen war mit weiterem
Blut eine Nachricht geschrieben worden:

SIE HABEN DIE

AUGEN ZU LANG

GESCHLOSSEN.

MEIN IST DIE RACHE.

 
Lynn
Donahue stand an diesem Nachmittag am Grab ihrer älteren Schwester Samantha.
Sie dankte ihr.

 

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Sidney Born).
Der Beitrag wurde von Sidney Born auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.02.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

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