Welt der Bücher
Wie jeden Tag
arbeitete ich im Akkord sämtliche Unterlagen und Papiere durch.
Man sollte meinen, der Stapel würde kleiner werden, aber im
Gegenteil. Er wächst stündlich. Jeden Tag kommt neue Arbeit
hinzu, ehe die alte erledigt ist. Heutzutage investiert jeder Amateur
in Aktien, was mir und meinen Kollegen unsere Arbeit als
Aktienvertreter nicht gerade erleichtert.
Um es kurz zu
machen: Ich hasse meinen Job. Und nicht nur ich. Das ganze führt
soweit, dass die Atmosphäre hier das Letzte ist, überall
nur schlechte Laune und frustrierte Menschen. Das ist sogar noch
schlimmer geworden, seit eine Kollegin ihr eigenes Buch geschrieben
hat. Sie zeigte es irgendwann einem Verleger und heute kann man ihre
Autobiographie bei jedem Buchhändler kaufen.
Ich wäre
auch gern Autor. Mich faszinieren Bücher, das taten sie schon
immer. Das Spielen mit den Worten, das Jonglieren mit Sätzen und
Bedeutungen, die Feinheiten, die man in die geschriebene Sprache
bringen kann, um das auszudrücken, was man sagen möchte,
ohne es zu sagen...
Aus diesem Grunde
verbringe ich einen Großteil meiner Freizeit in der Bibliothek.
Die Ruhe dort ist ideal um ungestört zu arbeiten. In den
Unendlichkeiten der Geschichten und der Welt der Bücher kann ich
versinken, mich dort verstecken, wenn mir alles zu viel wird. Ich
kann vergessen und abschalten.
Bisher haben das
erst wenige verstanden. Erst recht heute, im Zeitalter der Technik.
Viele Menschen kennen Bücher nur noch in digitalisierter Form
auf dem Computer, haben vergessen, was es bedeutet, sich mit einem
guten Buch zurückzuziehen, die Ruhe zu genießen und sich
einfach treiben lassen.
Wie ein Pilot in
seinem Cockpit schauen sie nur stur gerade aus, gefesselt von der
leuchtenden Anziehungskraft des Bildschirmes, alles mit nur einem
Klick erreichbar, von der Pizza über den Urlaub bis hin zu
Doping scheint alles möglich und erreichbar in dieser virtuellen
Welt der Zahlen und Daten.
Wie viele denken
bei Büchern an langweilige Schullektüren und bei Lessing an
den Nachbarshund, wer verbindet nicht alles ein Dossier mit etwas zu
Essen oder ein Essay mit einem französischen Wein? Wie viele
Menschen haben bei dem Begriff Seite das Bild ihrer Lieblingshomepage
im Kopf?
Der Fairness
halber muss ich sagen, dass auch ich den Computer für mein
tägliches Leben nutze. Doch kenne ich die Differenzierung
zwischen Papier und Bildschirm und sehe letzteres nicht als Papier in
modernisierter Form an, wie es scheinbar viele andere tun.
Ich gewinne
natürlich auch eben dieser Technik eine Menge Vorteile ab, dass
wir uns da nicht falsch verstehen, dennoch ist mir der Gang zum
Bücherregal lieber als der Klick auf die entsprechende Seite
(ganz Recht, die Homepageseite in diesem Fall). Und ich habe in den
Weiten des Internets, mit denen keine Bibliothek konkurrieren kann,
auch Gleichgesinnte gefunden, mit denen ich mich über die
Literatur austauschen kann. Leider ist mein liebster Gesprächspartner
in Sachen Büchern seit einiger Zeit wie vom Erdboden verschluckt
und ich ärgere mich sehr, dass ich mir seine Adresse oder Nummer
nicht eher habe geben lassen.
Ironie des
Schicksals, begegnete ich kurze Zeit später einem Mann in der
Bibliothek, dessen Augen aufleuchteten , wenn er ein gutes Buch fand
und der mit ehrlichem Interesse die Seiten (Papier, werte Leser)
durchblätterte. Kein teilnahmsloses Studieren, kein lustloses
Vor-sich-hin-lernen , nein, auch er scheint freiwillig hier zu sein.
Einer der wenigen, die noch übrig sind. Einer wie ich?
Ich ertappe mich
dabei, wie meine Gedanken immer wieder zu ihm hin wandern, während
ich meinen langweiligen Job ausübe. Wie die Vorfreude auf meinen
nächsten Besuch in meinem Lieblingsgebäude eine kleine
Explosion der Freude in mir auslöst, die mich meinen Arbeitstag
überstehen lassen.
Wieso ich mir
keine anderen Stelle suche? Oh werter Leser, wäre das doch so
leicht!
Mein neuester
Kunde, den ich beraten muss, erzählt mir etwas von einem großen
Export und dass er unbedingt Aktien kaufen will. Einer mehr, der auf
der Suche nach dem schnellen Geld in die Ahnungslosigkeit tappt.
Immerhin gibt es Leute wie mich, die ihm dann helfen müssen.
Irgendwann
rempelte ich den unbekannten Leser versehentlich an, als ich mich
gerade in den ersten Seiten eines neuen Buches verlor. Ich murmelte
eine Entschuldigung, die er gleichzeitig auch aussprach, da auch er
von einer Geschichte gefesselt regungslos mitten im Gang verharrt
hatte. Ich sah auf - und erstarrte beinahe unter seinem Blick. Heute
weiß ich nicht mehr, was ich gesehen habe. Aber irgendetwas
muss es gewesen sein, dass ich es einfach nicht vergessen kann. Eine
Wärme und einen Glanz, den ich zuvor noch nie gesehen habe. In
der Tristesse und der Kälte dieser Welt einen zu finden, der
aufrichtige, unvoreingenommene und ehrliche Freude ausstrahlt, Wärme,
die nichts mit gespielter Nettigkeit zu tun hat. Leben. Leben, in der
Welt der Technik. Der Langeweile. Der Starre.
Ich wollte dieses
Gefühl nicht einfach verstreichen lassen. Ich wollte etwas
daraus machen. Und so begann ich zu schreiben, wie ich es immer tue,
wenn etwas passiert. Meiner Ungeschicklichkeit zum Dank, ließ
ich mein Skript auf meinem Stammplatz liegen. Wo? Natürlich
dort! In der Bibliothek. Als ich es bemerkte, lief ich zurück,
doch es war verschwunden. Hätte ich es bloß auf meinem
Computer getippt, doch es war handschriftlich. Und nun womöglich
für immer verloren, vielleicht an jemanden, dem Papier nicht
mehr bedeutet als eine überflüssige, veraltetet Datei.
Am nächsten
Tag streife ich durch die langen Regale, als ich einen Schatten
vorbeihuschen sehe. Und aus mir unerklärlichen Gründen
beginnt mein Herz laut zu klopfen. Nicht etwa aus Furcht, nein, hier
fürchte ich mich nicht, hier bin ich sicher. Ich drehe mich um,
doch da ist niemand. Als ich mich wieder dem Regal zuwende, erblicke
ich ein Buch. Es muss alt sein und auf seinem Einband ist in
silbernen Lettern etwas geschrieben. "Die Magie der Bücher"
Ich nehme das schwere Buch heraus und beginne die erste Seite zu
lesen. Ich fasse es nicht, als ich sehe, wie es geschrieben ist -
handschriftlich! (Ja, mit einem echten Stift! Das ist das, womit CDs
beschrieben werden... ).
"Ist es
nicht erstaunlich, wie wenige Menschen um die Magie der Bücher
wissen?" lese ich, und ich weiß, dass ich es mitnehmen
werde. Von der Bibliothekarin erfahre ich, dass dieses Buch nicht von
hier ist. Jemand muss es vergessen haben.
Ich nehme mir
vor, es trotzdem zu lesen. Aber hier, so kann der, dem es gehört,
es jederzeit finden. Und ich lese lange und viel, und bin völlig
im Bann dieses unglaublichen Buches, dieser zauberhaften Worte, der
Magie des geschriebenen Wortes. Am Ende angelangt, verspricht der
mysteriöse Autor mit der engen Handschrift ein Beispiel, einen
Beweis, dass es durchaus noch Menschen gibt, die daran glauben.
Dieser Beweis liegt vor in Form einiger langer, kopierter Textzitate,
ebenfalls handschriftlich, doch es ist eine andere Schrift, es ist...
meine!
"Wunderschön",
sagt eine sanfte Stimme, während mein Skript vor mich auf den
Tisch fällt, dazu eine Visitenkarte eines Verlegers. "Ich
werde es veröffentlichen, wenn es beendet wurde." Ich wage
nicht, aufzusehen, wissend, was ich sehen werde. "Ich wusste,
dass ich deine Werke veröffentlichen muss, schon seit unserem
ersten Gespräch." Und doch hebe ich meinen Blick, nur um
abermals zu erstarren - "Ich begab mich auf die Suche nach dir
und dachte mir schon bald, dass nur du es sein kannst, die du so
fasziniert in die Welt der Bücher eintauchen kannst. Aber ich
musste sicher gehen, das Buch war die letzte Probe. Nur du würdest
es so lesen, nur du wüsstest es zu schätzen, das wusste
ich. Wusste es, seit wir das erste Mal aufeinander trafen." ein
Lächeln, ein Zwinkern, "Bewahre meine Karte gut auf, falls
das Internet mal streikt." Es war unnötig, sein letzter
Satz, und auch dass er sich mir nun vorstellt. Längst habe ich
ihn doch schon erkannt. Ihn, den ich in der ach so modernen,
hoch
entwickelten Welt der virtuellen Realität verlor, und den ich in
der verstaubten, veralteten Welt der Geschichten wieder finde.
Oder ist diese
meine Welt am Ende gar nicht mal so überflüssig, wie viele
glauben? Ist sie vielleicht sogar einer der größten und
wertvollsten Schätze, die die Menschheit besitzt?