Birgit Enser

Stimmen am Montag

Wie immer wachte er gegen 05.30 Uhr auf. Er brauchte keinen Wecker, hatte noch nie einen
gebraucht, er war es einfach gewohnt, um diese Zeit aufzuwachen. Ihm blieben dann noch ein paar
Minuten der Ruhe, bis sie nach ihm rufen würde mit ihrer klagenden, vorwurfsvollen Stimme.

An diesem Wochenende war es besonders schlimm für ihn gewesen. Nichts hatte er ihr recht
machen können. - Hatte er das überhaupt jemals? Wenn ja, dann war dieses Wissen verdrängt
worden von dem Gefühl der Ohnmacht, mit dem er seit Jahren lebte.

Am Samstag war das Wetter so schön gewesen, dass er sie gefragt hatte, ob er sie nicht mit dem
Rollstuhl ein wenig in den Park fahren solle, aber sie hatte ihn nur vorwurfsvoll angesehn, als könne
sie nicht begreifen, dass er auch nur im Geringsten annehmen konnte, ihr mit solch einem Vorschlag
eine Freude zu machen.

Er wollte ihr ja überhaupt keine Freude machen, er wollte nur raus aus diesem düsteren Verlies, in
dem er seit seiner Geburt lebte.

Dr. Schröder hatte ihm gesagt, er müsse auch mal an sich denken, so krank sei Mutter nicht. Aber
was wusste der schon?
Hatte er jemals ihr gequältes Schreien gehört, wenn er sie baden musste? Wenn er sie auch nur in
den Rollstuhl hob? Nein, das hatte er nicht, schließlich nahm Mutter sich in seiner Gegenwart immer
zusammen, ließ sich sogar von ihrem Sohn zurechtmachen für den Besuch des Arztes. Damit der
nicht wieder von dem Altenheim anfing!
Und das hätte er ihr auch gar nicht antun können! Seine Mutter in ein Altenheim packen! Niemals!

Sicher, auch seine Gesundheit hatte Grenzen. Vor ein paar Jahren war er zusammengebrochen und
hatte 3 Wochen in einer Klinik verbracht ... wunderschöne Wochen.
Seitdem hörte er ab und zu Stimmen, Stimmen, die ihn locken wollten. Er hatte Dr. Schröder davon
erzählt, der hatte ihm ein paar Tropfen verordnet. Stümper! Von nichts hatte der 'ne Ahnung, aber
auch von gar nichts!
Aber Mutter hielt eben große Stücke auf ihn, schließlich kannte sie ihn seit Jahren, er war immer ihr
Hausarzt gewesen.

"Bernie? Bernie, wo bist du denn? Warum muss ich ständig nach dir rufen?"

Es war soweit.

Langsam und lustlos stand er auf, zog sich seine Hose an und ging in Mutters Schlafzimmer. Sie lag
in ihrem Bett, oder besser gesagt, sie thronte in ihrem Bett, da sie fast im Sitzen schlief. Das
entlastete sie beim Atmen, sagte sie.

"Na endlich! Ich kann mir hier die Lunge aus dem Leib rufen. Sterben könnte ich in der Nacht, dass
würde der Herr Sohn gar nicht mitbekommen. Warst wieder mit diesen Heftchen beschäftigt, was?
Glaub' mir, ich weiß sehr wohl, was du da in deinem Zimmer tust, wenn du denkst, ich schlafe!
Wiederlich ist das, einfach wiederlich! Ich frage mich, warum ich mit solch einem Perversling von
Sohn gestraft wurde.
Nun hilf' mir endlich, hilf' mir auf. Gleich musst du zur Arbeit, und ich sitz' wieder stundenlang mit
dieser Person zu Hause!"

Die Stimmen wurden wieder lauter. Es war schön gewesen in der Klinik, so ruhig, viel grün, ein
kleiner See....

Aber Mutter hatte in der Zeit damals sehr gelitten. Er hatte ihr gefehlt, dass wusste er. Ja, er durfte
sie nie wieder allein lassen.

Das Telefon klingelte. Es war Herr Kaltenbrunn, sein Chef. Er mahnte ihn, nur ja nicht zu vergessen,
noch bei der Firma Pieper vorbeizufahren.
"Ich möchte nicht, dass so ein Fehler wie letzte Woche nochmal passiert, Bernie!" In der Klinik
hatten alle Herr Dorfmann zu ihm gesagt, niemals hatte ihn dort jemand Bernie genannt. "Hast du
das gehört, Bernie? Ich kann mir auch jemand anderen suchen. Seit Jahren schlepp' ich dich durch,
überseh' deine Schlamperei. Mein Gott, du bist erwachsen! Brauchst du immer noch einen, der auf
dich aufpasst?"

Endlich war alles erledigt, er saß im Auto.

Aber etwas war doch anders, denn er fuhr nicht zur Arbeit, er fuhr in ein neues Leben. Er war voller
Vorfreude, fast schon euphorisch, als er auf die Autobahn Richtung Süden fuhr.

Ob sie ihn wohl wiedererkennen würden in der Klinik? Ob die nette Ärztin noch dort war? Er hatte
sich immer so nett mit ihr unterhalten. Mutter hatte sie nicht gemocht.

Er war sich sicher, dass sie ihn dort wieder aufnehmen würden. Sie mussten, das hatten auch die
Stimmen gesagt.

Es war ein wunderbarer, sonniger Tag. Kurz dachte er an Mutter, die da in seinem Kofferraum lag. Es
war gar nicht so leicht gewesen, ihr das Messer ins Herz zu stoßen, aber er war ein kräftiger Mann.
Sie hatte nur leicht geseufzt, und er glaubte, sie verstand ihn auch ein wenig.

Ja, ein neues Leben lag vor ihm. Sein Leben!


Lilith 19.08.2002

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.08.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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