Eine teuflische Piste -
genau nach meinem Geschmack, lang, hart, steil, anspruchsvoll, tückisch,
kurvenreich, mit vielen Schlägen, Wellen, Querpassagen und Sprüngen bis zu
vierzig Metern.
Heute wird sich
zeigen, wer der wirkliche König auf der Abfahrtspiste ist - ich oder dieser
dämliche Schweizer, der mir vor drei Wochen den Weltmeistertitel weggeschnappt
hat, natürlich auf einer dieser verfluchten Gleitstrecken, die sie extra für
diesen Schnösel angelegt haben. So ganz nach dem Motto: ``Das beste Wachs kürt
den Weltmeister.´´ Ich hätte dort eigentlich gar nicht erst an den Start gehen
sollen. Pure Verarschung! Da gewinnt man vier Weltcuprennen, ja, versägt die
Konkurrenz in Grund und Boden und wird dann auf so einer Behindertenabfahrt
ausgebremst.
Aber heute
bekommen sie von mir nur noch eine Staubwolke zu sehen, jawoll! Ich bin fit,
hab trainiert wie ein Geisteskranker, hab die besten Trainingszeiten
herausgefahren - und das bei Neuschnee. Heute ist die Strecke vereist,
knallhart und mindestens zehn Sekunden schneller.
Wie die Fliegen
werden sie in die Fangzäune sausen, diese Amateure, vor Angst in die Hose
pinkeln und ordentlich Gas wegnehmen. ...
Da! Agostini,
der Italiener, ein wilder Draufgänger, aber technisch mit Defiziten. Er
zwinkert mir zu. Weiß wohl schon, daß ich es schaffen werde. Etwas abseits
Kollege Weltmeister mit seinem widerlichen Marienkäferhelm. Sieh dich vor! Du
wirst deine Goldmedaille heute abend beschämt zum Altmüll werfen!
Was denn! Eder
aus Österreich schnellt jetzt schon an! Dabei startet er erst als Fünfzehnter.
Und wie sie alle herumstehen und ihre Angst zu verbergen versuchen - einfach
lachhaft! Selbst der so redselige Schweizer Bürgli hält heute seine Klappe.
Der Pistenchef
erzählt, an der Steinkante wären zwei breite Eisplatten. Ein Sprung quer zum
Hang und die darauffolgende S-Kurve sind weitere Gefahrenpunkte an dieser
Stelle.
Kann mir nur
zugute kommen. Tempo 130, dann brutal auf die Kanten, und bloß kein Quentchen
Fahrt wegnehmen! Zwei Sekunden hol´ ich dort locker heraus.
Jetzt Achtung!
Der Vorläufer macht sich auf die Socken, fährt fast aufrecht. Muß er ja. Man
stelle sich vor, die Sicherheitsapostel im Kampfgericht würden nach einem Sturz
dieses jungen Hüpfers den ganzen Zirkus abblasen! Darf gar nicht dran denken.
Der Trainer will
mich nochmal massieren. Lockere Muskeln, ein paar aufmunternde Worte -
Selbstbewußtsein... He, fängt der jetzt auch noch an, mir etwas vorzuschwallen
von wegen Gefahrenstellen und kritischen Sprüngen! Nur gut, daß ich auf seine
schlauen Sprüche nicht angewiesen bin. Ich weiß selbst, wie ich fahren muß, um
zu gewinnen.
Jaja, schon
klar! Man darf sich nie zu sicher fühlen, schon gar nicht auf einer so mörderischen
Piste. Sollen doch die zu Hause bleiben, denen der Nervenkitzel unerträglich
ist.
Ich hab immer
die Gefahr ignoriert und recht behalten. So ist dieser Job. Wer nach oben will,
muß etwas aufs Spiel setzen. Wann begreift mein Trainer das endlich?
Am besten gar
nicht hinhören und die Strecke im Kopf noch einmal vorbeirauschen lassen!
Respekt!
Agostini zieht ab wie eine Rakete. Unglaublich, wie es ihn schon hier oben
staucht und beutelt! Das kann ja heiter werden! Immerhin, der Kerl weiß, wo´s
langgeht, hat heuer bereits zweimal zugeschlagen, sogar in Kitzbühel. Aber da war
ich verletzt. Heute drehen wir den Spieß um.
Na, ich werd´
mich mal langsam fertigmachen. Jetzt schwingt sich der Schweizer auf die Piste.
Macht einen guten Eindruck, aber die Schwierigkeiten kommen erst im Mittelteil.
Da werden heute einige den Schnee küssen.
Hoppla! Absolut
beste Zwischenzeit für Agostini. Zwei Sekunden vor Spitzberger - das will schon
was bedeuten.
Der Starter
verzieht keine Miene. Ich möcht zu gern wissen, ob er Gewissensbisse hat, uns
dort hinunter zu schicken. Ein Gegner drückt mir sportlich die Hand. Wirkt
nervös, der Bursche.
Da oben in der
Ecke hängt ein Fernsehschirm. Prima, dann bekommen wir gleich Eindrücke von der
Strecke: Agostini ist durch. Bestzeit. Fein hat er das gemacht. Wird nur
leider nicht ganz reichen. Aber ein zweiter Platz ist schließlich auch recht
nett.
So, jetzt
aufgepaßt, was unser kleiner Weltmeister treibt: klarer Rückstand bei der ersten
Zwischenzeit! Gleich kommt er zur Steinkante. Viel zu weit gesprungen! Schwerer
Fehler! Rücklage! Ab in die Fangzäune. Schade, daß ich jetzt nicht lachen darf,
schade, daß er schon wieder steht. Man sollte diesem Bruchpiloten den Titel
aberkennen.
Achtung, der
Kampfrichter checkt meinen Anzug, schaut sich die Ski an. Alles in Ordnung.
Langsam wird´s ernst. Noch zwei vor mir: Sepp, ein Deutscher, und Pierre aus
Chamonix, Mittelklasse, keine Gefahr für mich. Das Volk wird brodeln. 20000
sind gekommen, um mich siegen zu sehen.
Ja, ich bin
schon da! Nur keine Panik, Mann! Ich verstehen Italienisch sehr gut. Du mir
nicht sagen müssen alles zweimal!
Hoffentlich
verliere ich nicht wieder einen Skistock wie vor zwei Wochen. Hoffentlich hält
die Bindung bei den harten Schlägen! Ich hab sie nachträglich noch etwas fester
eingestellt - peinlich bei einem Sturz, denn das kann üble Verletzungen geben.
Aber das ist Berufsrisiko.
Einer noch vor
mir dran, ein weiterer gerade im Ziel. Agostini führt klar. Ich muß mich
konzentrieren, darf nur noch das Rennen vor meinen Augen sehen, im Geist den
Sekundenzeiger der Stoppuhr. Hau rein, Junge! Jetzt oder nie!
Sitzt alles, der
Helm, der Anzug, die Startnummer, Handschuhe, Bindung? Das Piepsen der Uhr.
Drei-zwo-eins-los!
Zwei, drei
kräftige Armschübe, ein paar Schlittschuhschritte zum Beschleunigen und gleich
runter in die ideale Hocke. Druck auf die Ski geben! Jedes Hundertstel zählt.
Vorsicht,
Bodenwellen! Perfekt abgefedert. Elegant in die erste Kurve, Innenski, Außenski.
Läuft doch wie geschmiert. Aber verflixt hart - wie in der Bobbahn. Ausgefräßte
Piste. Trotzdem, Ideallinie halten!
Gleich kommt der
erste Sprung. In der Hocke bleiben! Sauber gestanden! War ja noch harmlos.
Links-rechts-Kurve, Schrägfahrt. Hinein in den Steilhang. Kompression.
Schüttelt ganz schön. Unten bleiben! Immer nur beschleunigen! Gleich geht´s zur
Zwischenzeit. Ein kurzer Blick auf die Tafel. Plus 0,45! Verdammt, Junge, du
hast Rückstand! Der Agostini muß oben satanisch aufs Gas gedrückt haben. Aber
freut euch nicht zu früh! Mein Abschnitt kommt erst noch.
Einfahrt
Geiskopf, dann über die Scharte. Vorsicht, Bodenwellen! Wo ist die Ideallinie?
Verflixt, ich kann kaum die Ski unter Kontrolle halten. Eisplatte, weg vom
Innenski! Zu weit abgetragen. Gerade noch das Tor erwischt. So ein Schnitzer
darf mir nicht nochmal passieren. Das hat ordentlich Zeit gekostet.
Jetzt kommt sie,
die Steinkante. Sieht harmlos aus von hier. Man ahnt gar nicht, was sich
dahinter verbirgt. Nach dem Sprung gleich schräg aufsetzen, sonst kriegst du
die Kurve nicht! Und dann volle Lotte in den Zielhang. Ich muß dort mindestens
fünf Stundenkilometer schneller sein als Agostini, dann knack ich noch seine
Zeit.
Sprung, heb ab!
Verdammt, wo
geht das hin? Runter, runter! Viel zu weit, viel zu weit, zu schnell. Das
stehst du nie! Überkreuzte Ski. Bleib auf dem Teppich! Scheiße! Die Ski! Weg
damit! Arme vor! Bremsen, aber wie? Jetzt überschlägst du dich.
Aufhören,
Schluß, nicht noch mehr! Mich zerlegt´s.
Wie auf Beton.
Schläge auf den Kopf. Mir wird ganz schwarz. Aus.
Aus?
Irgendwie komm
ich mir vor, als gehe es plötzlich weiter. Ich steh wieder auf den Beinen, ha
die Kurve gekratzt, husche am nächsten Tor vorbei. Eine Reflexreaktion, eine
artistische Einlage oder nur unwahrscheinlich viel Glück?
Vielleicht hat
mir die harte Landung kurz das Gehirn durchgeschüttelt. Ein Blackout -
vermischt mit der irrigen Annahme, mich bei 130 Sachen mehrfach überschlagen zu
haben. Wieviel Zeit hat der Stunt gekostet? Jedenfalls zuviel, um das Rennen
noch aus dem Feuer zu reißen.
Rechtskurve,
leicht schräg. Mal sehen, ob wir noch alle Knochen beisammen haben. Na bitte,
ging doch gut! So schnell gibt man nicht auf.
Die Zuschauer,
ganze Heerscharen, scheinen mir zuzujubeln. Ein Raunen geht durch die Luft. Was
für eine Stimmung! Es ist, als würden einem Flügel wachsen.
Vorsicht, wieder
ein Sprung! Herrlich! Das läuft ja wie geschmiert. Tiefe Hocke jetzt! Beißen,
Tempo zulegen, keinen Meter verlorengeben! Das Volk brodelt. Du mußt immer noch
phantastisch im Rennen liegen.
Steck den Patzer
weg! An der Seite steht mein Trainer. Er winkt aufgeregt. Will er mich warnen?
Kommt noch ein Sprung? Wieder diese elenden Schläge. Das geht in die Knochen.
Nachher sehe ich mir den Sturz in Zeitlupe an. Bin wahrscheinlich nur etwas
fest mit dem Hintern gelandet.
Hoppla, da
drüben wird´s eng! Schlag einen Haken! Nicht zu sehr kanten! Steilhang, Schußfahrt.
Wie sie schreien
und toben! Als gehe es um olympisches Gold. Ich pack es noch, pack euch alle!
Moment mal, die
Steinkante hatten wir doch schon! Bin ich jetzt blöd, oder was? Egal,
Konzentration und drüber! Nein, nicht schon wieder! Viel zu schnell angefahren.
Das geht in die Hose. Fangzäune! Nicht auf den Kopf! Die Ski weg! Mir dreht´s
das Bein ab. Komm heil raus! Bitte! Stop! Viel zu schnell. Noch ein Überschlag.
Knochen splittern. Wieder Dunkelheit.
Jubel.
Sie peitschen
mich zum Sieg. Die Jagd geht weiter. Hab´s überlebt, weiß nicht wie. Man sollte
einfach abbremsen und aufgeben. Das Rennen ist doch längst gelaufen für mich -
keine Chance auf einen vorderen Rang. Aber was ist heute schon normal? Sogar
Agostini steht neben der Strecke und peitscht mich an.
Langsam werde
ich müde. Wie endlos zwei Minuten doch werden können!
Okay, aufgeben
gilt nicht. Ich wüßte auch gar nicht, wie. Die Ski laufen von selbst. Ich bin
an sie gefesselt. Oh Gott, nein! Nicht schon wieder die Steinkante ...
Auch diesen
Sturz überwunden. Es ist jedesmal wie Sterben. Fünf bis zehn Sekunden, in denen
man auf dem harten Eis aufschlägt, bis man die Besinnung verliert. So erreich
ich das Ziel nie, muß beim nächsten Mal besser aufpassen, muß diese
Scheißstelle schaffen, ohne Sturz, muß weiterfahren und ankommen.
An Sieg denkt
jetzt keiner mehr. Sie pfeifen - wie bei der Weltmeisterschaft. Die Muskeln
übersäuern. Meine Kraft schwindet.
Wieder die
Steinkante. Bleib unten! Ganz flach springen, die Kurve weit ausbremsen! Mal
sehen, ob´s klappt. Du wirst ja immer schneller! Langsamer! Bremsen! Wirf dich
gleich in den Schnee! Hauptsache, der Horror-Trip nimmt ein Ende.
Ende und Anfang.
Langsam glaube
ich, daß diese Fahrt nie ein Ziel findet. Das Spalier der Leute wird immer
enger. Sie pfeifen, lachen und treiben mich an. Der gestürzte Schweizer steht
auch bei ihnen, grinst mich frech an. Daneben mein Vater. Er hat mir das
Skifahren beigebracht. Jetzt weint er.
Die Steinkante
kommt auf mich zu. Wie oft noch? Irgendwann steh´ ich den Sprung, komm durch
die Kurve, jag´ durch den Steilhang und breche die Bestzeit. Irgendwann? Oder
bin ich längst tot? Bin ich verdammt, eine Rechnung zu begleichen, die nicht
beglichen werden kann?
Ich muß es
weiterhin versuchen, sonst komm ich hier nie raus.
``Spring!´´ ruft jemand. ``Spring doch, du Großmaul!´´
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.07.2001.
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