Franz Gilg

Das wichtigste Rennen

Eine teuflische Piste - genau nach meinem Geschmack, lang, hart, steil, anspruchsvoll, tückisch, kurvenreich, mit vielen Schlägen, Wellen, Querpassagen und Sprüngen bis zu vierzig Metern.

Heute wird sich zeigen, wer der wirkliche König auf der Abfahrtspiste ist - ich oder dieser dämliche Schweizer, der mir vor drei Wochen den Weltmeistertitel weggeschnappt hat, natürlich auf einer dieser verfluchten Gleitstrecken, die sie extra für diesen Schnösel angelegt haben. So ganz nach dem Motto: ``Das beste Wachs kürt den Weltmeister.´´ Ich hätte dort eigentlich gar nicht erst an den Start gehen sollen. Pure Verarschung! Da gewinnt man vier Weltcuprennen, ja, versägt die Konkurrenz in Grund und Boden und wird dann auf so einer Behindertenabfahrt ausgebremst.

Aber heute bekommen sie von mir nur noch eine Staubwolke zu sehen, jawoll! Ich bin fit, hab trainiert wie ein Geisteskranker, hab die besten Trainingszeiten herausgefahren - und das bei Neuschnee. Heute ist die Strecke vereist, knallhart und mindestens zehn Sekunden schneller.

Wie die Fliegen werden sie in die Fangzäune sausen, diese Amateure, vor Angst in die Hose pinkeln und ordentlich Gas wegnehmen. ...

Da! Agostini, der Italiener, ein wilder Draufgänger, aber technisch mit Defiziten. Er zwinkert mir zu. Weiß wohl schon, daß ich es schaffen werde. Etwas abseits Kollege Weltmeister mit seinem widerlichen Marienkäferhelm. Sieh dich vor! Du wirst deine Goldmedaille heute abend beschämt zum Altmüll werfen!

Was denn! Eder aus Österreich schnellt jetzt schon an! Dabei startet er erst als Fünfzehnter. Und wie sie alle herumstehen und ihre Angst zu verbergen versuchen - einfach lachhaft! Selbst der so redselige Schweizer Bürgli hält heute seine Klappe.

Der Pistenchef erzählt, an der Steinkante wären zwei breite Eisplatten. Ein Sprung quer zum Hang und die darauffolgende S-Kurve sind weitere Gefahrenpunkte an dieser Stelle.

Kann mir nur zugute kommen. Tempo 130, dann brutal auf die Kanten, und bloß kein Quentchen Fahrt wegnehmen! Zwei Sekunden hol´ ich dort locker heraus.

Jetzt Achtung! Der Vorläufer macht sich auf die Socken, fährt fast aufrecht. Muß er ja. Man stelle sich vor, die Sicherheitsapostel im Kampfgericht würden nach einem Sturz dieses jungen Hüpfers den ganzen Zirkus abblasen! Darf gar nicht dran denken.

Der Trainer will mich nochmal massieren. Lockere Muskeln, ein paar aufmunternde Worte - Selbstbewußtsein... He, fängt der jetzt auch noch an, mir etwas vorzuschwallen von wegen Gefahrenstellen und kritischen Sprüngen! Nur gut, daß ich auf seine schlauen Sprüche nicht angewiesen bin. Ich weiß selbst, wie ich fahren muß, um zu gewinnen.

Jaja, schon klar! Man darf sich nie zu sicher fühlen, schon gar nicht auf einer so mörderischen Piste. Sollen doch die zu Hause bleiben, denen der Nervenkitzel unerträglich ist.

Ich hab immer die Gefahr ignoriert und recht behalten. So ist dieser Job. Wer nach oben will, muß etwas aufs Spiel setzen. Wann begreift mein Trainer das endlich?

Am besten gar nicht hinhören und die Strecke im Kopf noch einmal vorbeirauschen lassen!

Respekt! Agostini zieht ab wie eine Rakete. Unglaublich, wie es ihn schon hier oben staucht und beutelt! Das kann ja heiter werden! Immerhin, der Kerl weiß, wo´s langgeht, hat heuer bereits zweimal zugeschlagen, sogar in Kitzbühel. Aber da war ich verletzt. Heute drehen wir den Spieß um.

Na, ich werd´ mich mal langsam fertigmachen. Jetzt schwingt sich der Schweizer auf die Piste. Macht einen guten Eindruck, aber die Schwierigkeiten kommen erst im Mittelteil. Da werden heute einige den Schnee küssen.

Hoppla! Absolut beste Zwischenzeit für Agostini. Zwei Sekunden vor Spitzberger - das will schon was bedeuten.

Der Starter verzieht keine Miene. Ich möcht zu gern wissen, ob er Gewissensbisse hat, uns dort hinunter zu schicken. Ein Gegner drückt mir sportlich die Hand. Wirkt nervös, der Bursche.

Da oben in der Ecke hängt ein Fernsehschirm. Prima, dann bekommen wir gleich Eindrücke von der Strecke: Agostini ist durch. ­Bestzeit. Fein hat er das gemacht. Wird nur leider nicht ganz reichen. Aber ein zweiter Platz ist schließlich auch recht nett.

So, jetzt aufgepaßt, was unser kleiner Weltmeister treibt: klarer Rückstand bei der ersten Zwischenzeit! Gleich kommt er zur Steinkante. Viel zu weit gesprungen! Schwerer Fehler! Rücklage! Ab in die Fangzäune. Schade, daß ich jetzt nicht lachen darf, schade, daß er schon wieder steht. Man sollte diesem Bruchpiloten den Titel aberkennen.

Achtung, der Kampfrichter checkt meinen Anzug, schaut sich die Ski an. Alles in Ordnung. Langsam wird´s ernst. Noch zwei vor mir: Sepp, ein Deutscher, und Pierre aus Chamonix, Mittelklasse, keine Gefahr für mich. Das Volk wird brodeln. 20000 sind gekommen, um mich siegen zu sehen.

Ja, ich bin schon da! Nur keine Panik, Mann! Ich verstehen Italienisch sehr gut. Du mir nicht sagen müssen alles zweimal!

Hoffentlich verliere ich nicht wieder einen Skistock wie vor zwei Wochen. Hoffentlich hält die Bindung bei den harten Schlägen! Ich hab sie nachträglich noch etwas fester eingestellt - peinlich bei einem Sturz, denn das kann üble Verletzungen geben. Aber das ist Berufsrisiko.

Einer noch vor mir dran, ein weiterer gerade im Ziel. Agostini führt klar. Ich muß mich konzentrieren, darf nur noch das Rennen vor meinen Augen sehen, im Geist den Sekundenzeiger der Stoppuhr. Hau rein, Junge! Jetzt oder nie!

Sitzt alles, der Helm, der Anzug, die Startnummer, Handschuhe, Bindung? Das Piepsen der Uhr. Drei-zwo-eins-los!

Zwei, drei kräftige Armschübe, ein paar Schlittschuhschritte zum Beschleunigen und gleich runter in die ideale Hocke. Druck auf die Ski geben! Jedes Hundertstel zählt.

Vorsicht, Bodenwellen! Perfekt abgefedert. Elegant in die erste Kurve, Innenski, Außenski. Läuft doch wie geschmiert. Aber verflixt hart - wie in der Bobbahn. Ausgefräßte Piste. Trotzdem, Ideallinie halten!

Gleich kommt der erste Sprung. In der Hocke bleiben! Sauber gestanden! War ja noch harmlos. Links-rechts-Kurve, Schrägfahrt. Hinein in den Steilhang. Kompression. Schüttelt ganz schön. Unten bleiben! Immer nur beschleunigen! Gleich geht´s zur Zwischenzeit. Ein kurzer Blick auf die Tafel. Plus 0,45! Verdammt, Junge, du hast Rückstand! Der Agostini muß oben satanisch aufs Gas gedrückt haben. Aber freut euch nicht zu früh! Mein Abschnitt kommt erst noch.

Einfahrt Geiskopf, dann über die Scharte. Vorsicht, Bodenwellen! Wo ist die Ideallinie? Verflixt, ich kann kaum die Ski unter Kontrolle halten. Eisplatte, weg vom Innenski! Zu weit abgetragen. Gerade noch das Tor erwischt. So ein Schnitzer darf mir nicht nochmal passieren. Das hat ordentlich Zeit gekostet.

Jetzt kommt sie, die Steinkante. Sieht harmlos aus von hier. Man ahnt gar nicht, was sich dahinter verbirgt. Nach dem Sprung gleich schräg aufsetzen, sonst kriegst du die Kurve nicht! Und dann volle Lotte in den Zielhang. Ich muß dort mindestens fünf Stundenkilometer schneller sein als Agostini, dann knack ich noch seine Zeit.

Sprung, heb ab!

Verdammt, wo geht das hin? Runter, runter! Viel zu weit, viel zu weit, zu schnell. Das stehst du nie! Überkreuzte Ski. Bleib auf dem Teppich! Scheiße! Die Ski! Weg damit! Arme vor! Bremsen, aber wie? Jetzt überschlägst du dich.

Aufhören, Schluß, nicht noch mehr! Mich zerlegt´s.

Wie auf Beton. Schläge auf den Kopf. Mir wird ganz schwarz. Aus.

Aus?

Irgendwie komm ich mir vor, als gehe es plötzlich weiter. Ich steh wieder auf den Beinen, ha die Kurve gekratzt, husche am nächsten Tor vorbei. Eine Reflexreaktion, eine artistische Einlage oder nur unwahrscheinlich viel Glück?

Vielleicht hat mir die harte Landung kurz das Gehirn durchgeschüttelt. Ein Blackout - vermischt mit der irrigen Annahme, mich bei 130 Sachen mehrfach überschlagen zu haben. Wieviel Zeit hat der Stunt gekostet? Jedenfalls zuviel, um das Rennen noch aus dem Feuer zu reißen.

Rechtskurve, leicht schräg. Mal sehen, ob wir noch alle Knochen beisammen haben. Na bitte, ging doch gut! So schnell gibt man nicht auf.

Die Zuschauer, ganze Heerscharen, scheinen mir zuzujubeln. Ein Raunen geht durch die Luft. Was für eine Stimmung! Es ist, als würden einem Flügel wachsen.

Vorsicht, wieder ein Sprung! Herrlich! Das läuft ja wie geschmiert. Tiefe Hocke jetzt! Beißen, Tempo zulegen, keinen Meter verlorengeben! Das Volk brodelt. Du mußt immer noch phantastisch im Rennen liegen.

Steck den Patzer weg! An der Seite steht mein Trainer. Er winkt aufgeregt. Will er mich warnen? Kommt noch ein Sprung? Wieder diese elenden Schläge. Das geht in die Knochen. Nachher sehe ich mir den Sturz in Zeitlupe an. Bin wahrscheinlich nur etwas fest mit dem Hintern gelandet.

Hoppla, da drüben wird´s eng! Schlag einen Haken! Nicht zu sehr kanten! Steilhang, Schußfahrt.

Wie sie schreien und toben! Als gehe es um olympisches Gold. Ich pack es noch, pack euch alle!

Moment mal, die Steinkante hatten wir doch schon! Bin ich jetzt blöd, oder was? Egal, Konzentration und drüber! Nein, nicht schon wieder! Viel zu schnell angefahren. Das geht in die Hose. Fangzäune! Nicht auf den Kopf! Die Ski weg! Mir dreht´s das Bein ab. Komm heil raus! Bitte! Stop! Viel zu schnell. Noch ein Überschlag. Knochen splittern. Wieder Dunkelheit.

Jubel.

Sie peitschen mich zum Sieg. Die Jagd geht weiter. Hab´s überlebt, weiß nicht wie. Man sollte einfach abbremsen und aufgeben. Das Rennen ist doch längst gelaufen für mich - keine Chance auf einen vorderen Rang. Aber was ist heute schon normal? Sogar Agostini steht neben der Strecke und peitscht mich an.

Langsam werde ich müde. Wie endlos zwei Minuten doch werden können!

Okay, aufgeben gilt nicht. Ich wüßte auch gar nicht, wie. Die Ski laufen von selbst. Ich bin an sie gefesselt. Oh Gott, nein! Nicht schon wieder die Steinkante ...

Auch diesen Sturz überwunden. Es ist jedesmal wie Sterben. Fünf bis zehn Sekunden, in denen man auf dem harten Eis aufschlägt, bis man die Besinnung verliert. So erreich ich das Ziel nie, muß beim nächsten Mal besser aufpassen, muß diese Scheißstelle schaffen, ohne Sturz, muß weiterfahren und ankommen.

An Sieg denkt jetzt keiner mehr. Sie pfeifen - wie bei der Weltmeisterschaft. Die Muskeln übersäuern. Meine Kraft schwindet.

Wieder die Steinkante. Bleib unten! Ganz flach springen, die Kurve weit ausbremsen! Mal sehen, ob´s klappt. Du wirst ja immer schneller! Langsamer! Bremsen! Wirf dich gleich in den Schnee! Hauptsache, der Horror-Trip nimmt ein Ende.

Ende und Anfang.

Langsam glaube ich, daß diese Fahrt nie ein Ziel findet. Das Spalier der Leute wird immer enger. Sie pfeifen, lachen und treiben mich an. Der gestürzte Schweizer steht auch bei ihnen, grinst mich frech an. Daneben mein Vater. Er hat mir das Skifahren beigebracht. Jetzt weint er.

Die Steinkante kommt auf mich zu. Wie oft noch? Irgendwann steh´ ich den Sprung, komm durch die Kurve, jag´ durch den Steilhang und breche die Bestzeit. Irgendwann? Oder bin ich längst tot? Bin ich verdammt, eine Rechnung zu begleichen, die nicht beglichen werden kann?

Ich muß es weiterhin versuchen, sonst komm ich hier nie raus.

``Spring!´´ ruft jemand. ``Spring doch, du Großmaul!´´

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.07.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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