Leo Hamacher

Harte Arbeit

 
Tütütütüüüüt – tütütütüüüüt! Oh nein! Der Wecker will aufstehen. Knopf gedrückt, noch 'n bisschen. Blinzeln. Noch mal Oh und Nein! Blinzeln bedeutet Helligkeit bedeutet vorgeschrittene Zeit bedeutet Verschlafen bedeutet Ärger. Weckers Rache. Raus aus dem Bett, Katzenwäsche, rein in die Klamotten. Schnell einen  Becher Joghurt als Basis für die erste Kippe kippen. Der Tag kommt, der Ärger naht, die zähe Abwesenheit bleibt. Treppe runter, raus, erst mal im Laufschritt. Wenigstens den 9-Uhr-Bus kriegen, dann wird's vor der Frühstückspause, dann bleiben die blöd auf den Fluren lungernden, glotzenden lieben Kollegen erspart. Laufschritt reicht nicht, spurten tut not. Was ist das!? Die viel zu große Unterlippe schlackert mit Schmatzen an den Wangen. Warmer, galliger Speichel rinnt von den Weichmundwinkeln das Kinn runter. Endlich im Bus. Immer noch diese Abwesenheit, dazu jetzt noch die quälende Unsicherheit, Ungewissheit. Bin ich wirklich ich? Was mach ich überhaupt? Hier? Wo will ich, wenn ich wirklich will, hin? Blödes, unsinniges Fragen, über das sich höchstens Therapeuten freuten, stellte man sie ihnen. Endlich angekommen, in der Firma, oder wo immer ich auch hin wollte. Hat sie's also doch noch geschafft, diese entwürdigende Beklemmung, mich vor der Tür zum Abteilungsleiter einzuholen! Angeklopft. Auch das noch! Da ist noch jemand drin. Ob der auch zu spät gekommen ist? Zu schlaff zum Grinsen. Oder ob man über mein Zuspätkommen Krisenrat hält? Vom Magen aus dehnt sich Übel in Form von Verachtung von Allem, vor allem Selbstverachtung. Endlich bin ich dran. Dieser Idiot! Sieht es, weiß es, hat nichts anderes erwartet, gibt sich trotzdem, wie einer von diesen kirchlichen Würdenträgern, mit der tonlos gestammelten Standard-Entschuldigung zufrieden. Das, was da teilnahmslos und ohne jedes Bemühen um Glaubhaftigkeit, Reue, Zerknirschtheit darstellen sollte, würde selbst von einem unbedarften Kind als Hass und Verachtung interpretiert. Aber dieser Mann ist's zufrieden. Endlich kann ich raus. Endlich kann ich rein. Doch was ist das!? Der Maschinensaal ist menschenleer. Alles ist wie vereist erstarrt und trotzdem hört man dieses Summen, Brummen, Heulen, Rattern, Kreischen, Zirpen, Klicks und Klacks, Knirschen. Dazu ein süßlich-öliger Durchzug. Der allein hätte letzte Nacht gereicht, einen Weltrekord im Weitkotzen aufzustellen. Endlich ein erster, konkreter Zweifel. Vielleicht bin ich ja gar nicht hier und träum' das alles bloß? Keine Gnade zu erwarten. Sobald ich mich mit der Vorstellung anfreunden will, wird sie von der Gegenwart der Riesenmaschine verdrängt. Das kann doch nicht sein! Nicht ich nähere mich ihr, sie nähert sich mir. Das ist doch gefährlich! Diese unzähligen Stangen, Walzen, Bänder, Zahnräder. Niemand würde, niemand könnte mir helfen, wenn ich da rein geriete. Ich weiß doch, dass niemand wissen darf, dass ich hier bin, obwohl jeder sehen sollte, dass ich da bin. Hoffentlich findet mich keiner! Hoffentlich bald! Irgend jemandes Schatten huscht in der Nähe vorbei. Vor die schnelle Wahl gestellt, mich entdecken zu lassen oder mich in der Maschine zu verstecken, mich gar von der Maschine verstecken zu lassen, entscheide ich mich für alles gleichzeitig. Ein stummes “Seht! Hier bin ich!”, das nur in meinem Kopf ertönt, erweitert sich zu einem “Hier wäre ich, wenn ich hier wäre!” Gleichzeitig ein Hauch von Hoffnung, dass alles nur ein Traum ist und hoffnungslose Ungewissheit, wo ich bin, was ich bin und warum das alles geschieht, oder vielleicht doch nicht geschieht. Immerhin weiß ich inzwischen mit Bestimmtheit, wer ich bin. Doch kaum, dass ich diese kleine Orientierungshilfe aufgegriffen habe, kommt es knüppeldick: wieder huscht ein Schatten vorbei, bleibt stehen und erblickt mich. Die ganz kurze Freude, einem Vertrauten zu begegnen, wird wie vom Blitz erschlagen. Der, der mir da plötzlich gegenübersteht, bin ich doch selbst! Vielleicht ein wenig ausgeglichener wirkend als ich, ja, fast schon ein wenig amüsiert über mich, also sich. Die dröhnende Maschine hat jetzt jeden Schrecken verloren, wirkt wie ein riesiger, zum Sperrmüll gestellter Schrank. Wir gehen aufeinander zu, ob wir wollen oder nicht. Wir gehen durch einander durch und blicken uns um. Einer fehlt. Aber welcher? Ich begnüge mich mit der Annahme, dass ich fehle und schaue ihm, den ich ja eigentlich gar nicht sehen dürfte, oder könnte, oder wollte, oder sollte, hinterher. Rastlos, benommen, aber auch erleichtert wirkend, noch einmal glimpflich davon gekommen zu sein, torkelt er durch eine vertraute unbekannte Gegend einem Ziel entgegen. Es ist nicht auszumachen, welchem Ziel, doch das Bedürfnis, ihm zu folgen, überwältigt mich. Bleischwere Glieder hindern mich, ihn einzuholen, doch das tut nichts. Hauptsache weg von hier, Hauptsache in seine, meine Richtung gehen.

Vielleicht noch mal umdrehen? Und so dreh ich mich also noch mal um, rücke das warme Kopfkissen zurecht, ziehe die kalten Zehen zurück unter die Decke, stoße ein wohliges Seufzerchen aus und sinke in einen an Frieden und Unschuld kaum zu überbietenden Schlummer.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.03.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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