Elfie Nadolny

Die Veränderung

Er betrachtete seinen Sohn schon eine ganze Weile und sagte lange nichts.

Antonio schlug immer wieder mit den kleinen Fäusten auf den Tisch,
sein Gesicht war rot vor Zorn - wie so oft.

Der Vater ließ ihn gewähren und dachte nur: "Du kleiner
Trotzkopf du!" Er schwieg so lange, bis der Junge seinen Kopf auf
den Tisch legte und in seinen Händen vergrub. Nun erst wurde er ruhig
und der Vater wusste, der Knoten war geplatzt, nun konnten sie reden,
endlich reden. "Nein, mein Junge, du bist nicht frech und du bist
gewiss nicht weniger wert als die anderen Menschen, lass es dir nicht
einreden, von niemandem, hörst du!"

"Doch, Papa, sie sagen es nicht mit Worten, ihre Blicke sagen mir
das, ihre Blicke und der Klang in ihrer Stimme! Undankbar bin ich, hieß
es heute. Wir könnten froh sein, dass wir die Wohnung hier oben bekommen
haben und ich soll dankbar dafür sein, zur Schule gehen zu dürfen.
Aber ich will das doch gar nicht. Ich soll immer brav und angepasst sein,
aber ich will das alles nicht lernen und schon gar nicht diese Sprache.
Ich mag sie nicht, ich will nicht so hochgestochen sprechen wie sie, nie,
nie, nie. Nach Hause möchte ich zurück, ans Meer. Ich möchte
frei sein, endlich wieder frei."

So saßen sie zusammen in der Küche der Sozialwohnung oberhalb
des Ortes. Man hatte sie zusammen mit den anderen umgesiedelt in diese
Siedlung mit den grün angestrichenen neuen Häuserblocks. Grün,
wie Hoffnung, noch fehlte das natürliche Grün, aber auf dieser
Blumeninsel wird es schon von ganz allein kommen. Die Wohnungen waren
komplett eingereichtet, es gab sogar eine kleine Küchenzeile und
unten eine gemeinsame Waschküche, einen kleinen Innenhof gab es auch
mit einem Spielplatz und Anordnungen, wann und bis zu welchem Alter man
diesen benutzen darf. Und außerdem, aus dem Alter war Antonio doch
schon raus, oder?

"Mein Junge, das Meer ist nicht weit, es liegt unter uns und am Wochenende
nehmen wir den Bus und fahren hin, wir betrachten es und träumen.
Dann schauen wir auf die bunten Fischerboote, unsere Boote, mit denen
schon dein Großvater und seine Freunde Nacht für Nacht hinausgefahren
sind, wie wir auch. Es war lange eine sehr schöne Zeit, es war schön,
nachts zu fischen, wir glaubten, das Meer gehöre uns ganz allein.
Wir hatten unsere Freunde, tagsüber hielten wir unsere Boote in Ordnung,
sie waren unser Stolz. Viele Menschen kamen, um unsere Boote zu bewundern."
 
"Ja, Touristen, ich hasse sie!", rief der Junge empört
aus.

"Ach, mein Junge, du hasst sie nicht wirklich. Schau mal, mein Sohn,
wir hatten so lange so ein viel schöneres Leben als sie. Wir waren
frei, uns gehörte die Freiheit und das Meer!"

"Aber wie sie immer durch den Ort gingen mit ihren großen Kameras.
Sie knipsten unaufhörlich, fragten nicht, ob wir das möchten.
Sie gingen dann in die vornehmen Restaurants und aßen den Fisch,
den wir gefangen haben....."

"Nun, Antonio, manche Menschen malten unsere Boote auch, sogar ein
ganz großer Staatsmann verweilte lange an unserem Ort, erholte sich
von den anstrengenden Staatsgeschäften und malte unsere Boote, die
Bilder sind wunderschön. Sieh es mal so, es waren Komplimente, die
uns sagten, dass wir etwas so wunderbares geschaffen haben. Und wir gaben
den Menschen Ruhe und Kraft. Das machte uns sehr stolz. Wir hatten stets
etwas zu geben."

"Trotzdem, die Blicke, mit denen sie uns ansahen, wenn sie sich
alles erlaubten, was wir uns nicht erlauben konnten." "Kind,
du hast nur einen Teil gesehen. Was konnten sie sich denn mehr erlauben
als wir? Wir hatten das Meer immer, sie nur für einige Tage im Urlaub.
Dafür mussten sie hart arbeiten in ihrer Heimat, sie mussten viel
lernen und sie mussten weit fahren, um hierher zu gelangen. Sie mussten
auch deshalb so viel arbeiten, um teure Kleidung und Schmuck haben zu
können, damit sie anerkannt wurden und um den gleichen Fisch wie
wir essen zu können. Der Unterschied war nur, dass er auf silbernen
Platten und auf weißen gebügelten Tischtüchern serviert
wurde und dafür bezahlten sie viel Geld. Das brauchten wir alles
nicht. Jeden Tag hatten wir das, was als teure Spezialitäten angeboten
wurde: Schwarzen Degenfisch und Meeresfrüchte."

"Aber Papa, du hast nie die Blicke gesehen, sie waren abschätzend
und was noch viel schlimmer war: manche Blicke waren voller Mitleid. Sie
wollten unsere Boote sehen, aber sie hielten sich für etwas so viel
besseres als wir. Abschaum hat einer über Freunde von mir gesagt."


"Nun mal langsam mit den jungen Pferden, Junge. Du widersprichst
dir doch die ganze Zeit selber. Du beneidest sie doch in Wirklichkeit
und es gibt ja kaum eine höhere Form der Anerkennung als Neid, oder?
Und das, was da ein Tourist zu den Jungs sagte, war ja ehrlich gesagt
auch eine Reaktion auf..... Na, lassen wir das. Ihr wolltet... Jedenfalls
sag ich dir eins: Erkenne deinen Wert und erkenne den ihren."

Wir hatten eine wundervolle Zeit, so ruhig so friedlich, aber als du die
Menschen, die unseren Ort besichtigen wollten, so abgelehnt hast, da habe
ich gemerkt, du wärst gern so wie sie.

Du möchtest auch an einem schön gedeckten Tisch sitzen, schöne
Sachen anhaben, eine Kamera besitzen, sei mal ehrlich..."

Langes Schweigen.

"Und warum kann ich das alles nicht haben? Warum nur sie?"

"Du kannst es, mein Junge, wenn du wirklich willst. Dazu musst du
aber erst mal fleißig sein und in der Schule das lernen, was sie
auch gelernt haben. Aber vergiss dabei nie: Wir haben das aufgebaut, was
diesen Ort berühmt gemacht hat, wir haben den Menschen viel Freude
gebracht. Wir sind genau so wertvoll wie sie. Jeden Sonntag werden wir
nun ans Meer fahren, uns daran freuen, dann nehmen wir uns Fische mit
und essen sie hier ganz feierlich. Eine schöne Tischdecke kriegt
Oma für uns schon zu Stande und das Familienrezept unserer Fischsuppe
kennen nur unsere Freunde und unsere Familie. "Ein kleines Geheimnis
haben wir auch für uns", lächelte der Vater fast verschmitzt.


Am Sonntag sahen sie die schönen bunten Boote und lehnten sich an
die Mauer am Meer. "Papa, sie sprechen unsere Sprache nicht und ich
soll ihre lernen?" Der Vater nahm den Sohn liebevoll in den Arm und
sagte: "Es wird nie passieren, dass jeder deine Sprache versteht,
lerne du die Sprache, die die Welt versteht und lerne du deinen Wert zu
schätzen, das ist deine innere Sprache. Lange habe ich mich gegen
die Veränderung gewehrt, wie alle unsere Freunde, wir wollten nicht
"abgeschoben" werden, kämpften wie Don Quichote gegen Windmühlen.
Aber es war an der Zeit neu anzufangen. Packen wir es an? Gemeinsam?"


Die Gesichtszüge des Jungen wurden auf einmal so ungewohnt weich.
Einige Touristen kamen ihnen entgegen, sie lächelten die Beiden an
und sie lächelten zurück. Weißt du, mein Kind, das Lied,
was du in der Schule gelernt hast, ... Du musst es nur mit den richtigen
Augen sehen: "We shall overcome some day!"
"Sag mal, Papa: Woher kannst du die Sprache? Woher weißt du
überhaupt so viel? Du bist doch nie zur Schule gegangen?" "Kind,
ich habe eine Beobachtungsgabe und ich weiß, wer und was ich bin:
Ein wertvoller Mensch wie jedes Geschöpf Gottes. Und auch von mir
kann man lernen. Und das weiß auch so mancher vornehme Mensch, es
ist ein inneres Verstehen, was Menschen eigen ist, die verstehen wollen.
Man muss nur aufeinander zugehen, dann klappt es schon."

Was der Vater nicht zeigte, waren die halb abgerissenen Ein-Zimmer-Wohnungen um die Ecke. Wozu auch?


© Elfie Nadolny, August 2005

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Elfie Nadolny).
Der Beitrag wurde von Elfie Nadolny auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.03.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Elfie Nadolny als Lieblingsautorin markieren

Buch von Elfie Nadolny:

cover

Die Weihnachtszeit von Elfie Nadolny



Die Weihnachtszeit: Bebilderte Gedichte und Geschichten rund um die Weihnachtszeit.
Herausgeber: Elfie und Klaus Nadolny.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Beobachtungen am Strand" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Elfie Nadolny

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen von Elfie Nadolny (Weihnachten)
Die Muschel von Adalbert Nagele (Beobachtungen am Strand)
Halb-so-schLimerick von Siegfried Fischer (Reiseberichte)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen