Günter Kienzle

Die größte Reise unseres Lebens (Kapitel 6)

 

Kapitel 6

Eine Odyssee

Mit einem Schlag wurde die Tür aufgestoßen und die beiden aus ihren Träumen gerissen. Erschrocken fuhren Alexander und Sergej hoch. Es waren zwei Bauarbeiter, welche nun den Raum betraten. Der ältere von ihnen ergriff sofort das Wort. >>Was mach ihr denn hier?<< Die Antwort wartete er gar nicht erst ab, sondern motzte gleich weiter. >>In drei Minuten seid ihr verschwunden, sonst rufe ich die Miliz! Sergej hatte sich zuerst wieder gefangen. Er erhob sich und trat vor den Mann. >>Sehen sie, meinem Freund geht es nicht gut. Bitte lassen sie uns noch einen Tag hier bleiben.<<

Der Mann sah ihn mit kalten Augen an. >>Das Haus wird abgerissen, ihr habt drei Minuten!<< Mehr Zeit widmete er den beiden nicht, sondern verließ mit seinem Kollegen den Keller. Alexander rappelte sich ebenfalls auf.

>>Du musst deine Tabletten nehmen!<< ,erinnerte ihn der Junge.

>>Lass uns erst von hier verschwinden, sonst holt er wirklich die Miliz.<<

>>Ja, du hast recht. Wo sollen wir denn die ganzen Sachen hintun?<<

Alexander zuckte die Schulter. >>Ich weiß es nicht. Die Decken nehmen wir auf jeden Fall mit.<<

Sergej nickte. >>Das Essen auch. Der Zopf ist gut!<<

>>Musst du jetzt ans Essen denken.<<

>>Ich meinte ja nur.<< ,verteidigte sich Sergej.

Vor dem Haus standen Raupe und ein Bagger. Da wo vorher viel Schnee lag, war dieser jetzt beiseite geräumt. Mehrere Arbeiter standen um das Haus herum und beratschlagten. Alexander bekam wieder einen Hustenanfall. Sergej sah ihn besorgt an. Du musst schnell ins warme! Wir müssen schnell was finden! Ich habe Angst um dich.<< Er nahm Alexanders Hand und so zogen sie los. Mit den Decken unterm Arm und Ludmillas Hefezopf.

Nach zehn Minuten standen sie vor dem Cafe. Sein Freund konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. >>Komm lass uns was warmes trinken<< ,schlug der Junge vor. Alexander wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. >>Haben wir noch so viel Geld?<< Sergej nickte.

So betraten die beiden das Cafe. Wieder nahm Alexander den Fensterplatz ein. Erschöpft ließ er sich auf den Stuhl fallen und legte die Decke auf den Fußboden. Das Cafe musste gerade erst aufgemacht haben, denn alle Plätze waren leer. Sie waren die einzigen. Lustlos kam die Bedienung an den Tisch und musterte die beiden abwertend. >>Habt ihr auch Geld?<< ,begrüßte sie die beiden unfreundlich.

Sergej zog die Scheine hervor. >>Reicht das!<< ,entgegnete er wütend.

>>Ich frage nur, weil gestern waren auch welche von eurer Sorte da waren. Ich musste die Miliz rufen, weil sie nicht bezahlten.<<

Alexander hätte ihr jetzt am Liebsten gesagt, dass sie nicht gestorben wäre, wenn sie ihnen das geschenkt hätte. Aber vielleicht würde man sie rauswerfen und er war am Ende seiner Kräfte und wollte deshalb nichts riskieren.

>>Können wir bitte einen Tee haben?<< ,fragte Sergej.

>>Klar, in drei Minuten ist er fertig!<< Mit falscher Besorgnis sah sie seinen Freund an. >>Dein Freund sieht übrigens ziemlich mitgenommen aus. Er sollte sich Mal ins Bett legen.<< Während die Frau wieder hinter der Theke verschwand ärgerte sich der Junge. >>Ist das eine blöde Kuh, die weiß genau damit wir kein Bett und kein Zuhause haben!<<

>>Nicht so laut, sonst werfen sie uns raus!<<

>>Entschuldige!<<

>>Schon gut.<<

Sergej legte seine Hand auf Alexanders Stirn. Sie war schon wieder glühend heiß. >>Wie geht es dir?<< ,fragte er besorgt.

>>Ich schwitz schon wieder.<<

Sergej erhob sich und lief zur Theke. Er wechselte ein paar Worte mit der Bedienung. Mit einem Glas Wasser kam er zurück. >>Hier, du musst deine Tabletten nehmen! Hastig öffnete er die Packung und drückte zwei Tabletten aus der Packung. Diese gab er seinem Freund. Alexander schluckte sie gleich mit einer Ladung Wasser hinunter. >>Vielleicht geht es mir danach ja besser, wenn sie zu wirken anfangen.<<

>>Du, ich habe mir was überlegt.<< Er machte eine Pause, dann holte er das Geld hervor. >>Das wird nicht ewig reichen. Ich könnte betteln gehen, andere machen das auch.<<

Sein Freund schüttelte den Kopf. >>Lass es! Das ist zu gefährlich, wenn die Miliz dich erwischt, stecken sie dich wieder ins Heim.<<

>>Weißt du wo wir hingehen können?<< ,fragte Sergej.

>>In der Gegend ist ein altes Mietshaus,. da können wir es versuchen. Ich hoffe die Haustür ist offen.<<

Die Bedienung kam mit einem Tablett zurück, auf dem zwei Gläser Tee standen, so wie zwei kleine Teller, auf der je ein Stück Zitrone lagen. Vorsichtig stellte sie alles auf dem Tisch ab. Die beiden schwiegen bis sie sich wieder entfernt hatte.

>>Trink den Tee, der wird dir gut tun!<<

Zitternd nahm er das Glas. >>Der ist noch zu heiß.<<

>>Warte, ich drücke dir die Zitrone aus, dann schmeckt er besser!<<

Alexander war in diesem Augenblick so froh, dass er nicht alleine war. Nicht nur weil es ihm schlecht ging, sondern auch weil er jetzt nicht mehr einsam war. Einsamkeit konnte schlimm sein, sehr schlimm sogar! Aber es war ja jetzt jemand zum Reden da. Irgendwie hatte er den kleinen Kerl lieb gewonnen und wollte seine Gesellschaft unter keinen Umständen mehr missen. Trotzdem war ihre Lage nicht die beste. Ihr Zuhause war ihnen genommen worden und das ausgerechnet jetzt wo er Grippe hatte. Aber zu zweit ließ sich das alles leichter ertragen als allein.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ein älterer Mann kam hereingestürmt. Mit eiligen Schritten rannte er zur Theke. >>Schnell, ich muss telefonieren!<<

>>Jetzt beruhigen sie sich erst einmal, was ist den passiert?<< ,beruhigte ihn die Frau hinter der Theke.

>>Ich und meine Frau wurden gerade von dem Straßenpack überfallen. Ich muss schnell die Miliz rufen. Meine Gattin hat einen Schock erlitten. Einige Passanten sind jetzt bei ihr und kümmern sich um sie. Alles haben sie uns genommen. Das ganze Geld. Wir bekommen nur eine kleine Rente müssen sie wissen.<< Die Bedienung reichte ihm das Telefon. Nach dem das Gespräch beendet war, warf er Sergej und Alexander einen wütenden Blick zu. >>Es ist schlimm gekommen mit Mütterchen Russland. Früher gab es so was nicht. Zum Heulen ist das ganze, ein Drama!<< Mit großen Schritten lief er zur Tür. Dann wandte er sich den beiden zu. >>Pack!<< ,brüllte er noch und hob dabei drohend seinen Stock, um dann das Cafe zu verlassen.

Alexander bemerkte, dass sein Freund traurig geworden war. >>Was ist mit dir?<< ,fragte er.

Sergej senkte den Kopf. >>Deswegen sind ja nicht alle, die auf der Straße leben, so. Es gibt auch gute Menschen. Ich würde niemanden etwas wegnehmen.<<

>>Ich auch nicht!<<

>>Komm trink deinen Tee!<< ,mahnte in sein kleiner Freund. Dann sehen wir uns das Haus an.<< Alexander nickte. Nach dem das Glas leer war ging es ihm ein klein wenig besser.

>>Gibt es da Matratzen?<< ,erkundigte sich der Kleine.

>>Nein, leider nicht, aber wir haben ja unsere Decken.<< ,meinte Alexander.

Sergej sah auf die Glasvitrine mit den Kuchen und Torten. Sein Freund bemerkte das ebenfalls. >>Wenn du ein Stück möchtest, bestell dir eins!<<

Er schüttelte den Kopf. >>Nein, wir haben ja Ludmillas Zopf. Da können wir nachher ein Stück davon esse. Der Mann gestern war richtig nett, dass er uns die ganzen Sachen schenkte. Er ist ein guter Mensch, so wie du!<<

>>Ich habe keinen Hunger. Ich werde mich nachher hinlegen und etwas schlafen.<<

>>Und ich werde über dich wachen, damit nicht wieder böse Menschen kommen und dir was antun!<<

Sein Freund musste lächeln. >>Dann hab ich ja einen Super Schutz.<<

>>Den hast du, ich bin recht stark, schau mal!<< Er nahm sein leeres Glas und stemmte es in die Höhe, so als wäre es ziemlich schwer. Beide mussten lachen. Anschließen lief er wieder zur Theke und bezahlte. Als er wieder bei Alexander war hatte er wieder diesen besorgten Blick aufgesetzt. >>Wirst du es schaffen?<<

Alexander nickte. >>Vergiss deine Decke nicht!<<

>>Soll ich deine nicht nehmen? Es ist zu schwer für dich.<<

>>Nein, es geht schon.<<

Ein pfeifen hallte durch das Zimmer. Schlaftrunken schaute Jürgen auf die rot leuchtenden Ziffern seines Radioweckers. >>Schon acht Uhr, herrje!<< ,bedauerte sich Jürgen. Merkwürdig, er sprach wieder mit sich selbst. Noch müde schlüpfte er in seine Hausschuhe und machte sich auf den Weg ins Bad.

Die letzten Nächte hatte er durchgeschrieben, Pro Tag schaffte er an die zehn Seiten. Der Roman würde sicherlich kein Meisterwerk werden, dachte er, während die Rasierklinge über seine Wangen glitt. Es war aber mit größter Sicherheit die schnulzigste Geschichte, die er jemals geschrieben hatte. Ein Grinsen zog über sein Gesicht. Seinen weiblichen Lesern würde die Geschichte auf jeden Fall gefallen.

Nachdem er angezogen war, schlurfte er in die Küche und öffnete den Schrank. >>Mist!<< ,fluchte er auf. Jetzt war er gestern im Billa Markt und hatte den Tee vergessen. >>Ich wusste doch, dass ich was vergessen habe.<<

Schnell schnappte er sich seinen Mantel um den Tee zu besorgen. Auf dem Weg dahin fasste er einen Entschluss, zukünftig alles aufzuschreiben. Andere würden einfach Milch oder was anderes trinken, aber er wollte einfach Morgens seinen Tee, da war er eigen. Auf einmal wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Den Jungen da vorne kannte er doch. Das war der aus dem Cafe? Er schaute genauer hin, ja das war er! Neben ihm lief ein kleiner Junge. Es schien ebenfalls ein Straßenkind zu sein. Ach, es war ein Jammer wie die beiden aussahen und ein Elend im allgemeinen.

Wenige später standen sie auf der anderen Straßenseite und sahen zu dem alten Mietshaus hinüber. Sein Freund musste mehrere Male inne halten. Alexander wollte schon die Straße überqueren, als ihn sein Freund zurückhielt. >>Warte, ich geh rüber. Du musst dich schonen!<< Sergej schaute nach links und rechts. Kein Auto in Sicht. Mit großen Schritten rannte er über die Straße und lief auf die Eingangstür zu. Er drückte dagegen, sie war verschlossen! >>Scheiße!<< ,fluchte er auf. Dann wandte er sich an seinen Freund, der immer noch auf der anderen Straßenseite stand. >>Da ist zu!<< ,brüllte der Kleine hinüber.

Alexander wusste, jetzt gab es nur eine Möglichkeit. Als sein kleiner Freund wieder bei ihm angekommen war, schaute er ihn ernst an. >>Ich habe dir ja gesagt, dass es nicht leicht wird.<<

>>Das war es vorher auch nicht für mich. Nun hab ich wenigsten einen guten Freund und was machen wir jetzt?<<

>>Hast du Streichhölzer?<<

Sergej nickte. >>Dann komm mit!<< ,forderte ihn Alexander auf. So liefen die beiden durch die Straßen Moskaus. Auf einmal blieb Alexander stehen. Ein Mann kam ihnen entgegen. Es war genau der Mann, den er im Cafe schon mal gesehen hatte.

>>Was hast du?<< ,fragte sein Sergej.

>>Diesen Mann hab ich schon mal im Cafe gesehen.<<

Sergej fuhr ihm ins Wort. >>In dem wo wir gerade waren?<<

>>Genau! Das wäre nichts besonderes gewesen, aber er fragte mich ob alles in Ordnung ist. Woher wusste er, dass etwas nicht stimmte. Ich war damals traurig, warum erzähl ich dir später einmal.<< Und dann fügte er hinzu. >>Vielleicht hätte dieser Ausländer mir damals geholfen, vielleicht.<<

Der Fremde namens Jürgen war jetzt bei ihnen. Freundlich grüßte er. >>Guten Morgen ihr beiden!<< Alexander und sein kleiner Freund wünschten ihm ebenfalls einen Guten Morgen.

Jetzt sah Jürgen die blauen Flecke in Alexanders Gesicht. Entweder war er stockhagelvoll und ist hingefallen oder er wurde verprügelt. Letzteres hielt er für wahrscheinlicher. Aber von wem? Noch dazu sah der Junge krank aus. Sollte er nochmals seine Hilfe anbieten? Der Junge würde sicherlich wieder ablehnen und so tun als wäre alles in bester Ordnung. Wieder viele Fragen und keine Antworten. Den Jungen brauchte er erst gar nicht zu fragen, er würde es ihm bestimmt nichts erzählen. Außerdem wollte er nicht neugierig erscheinen. Im Grunde genommen ging ihn dieser Junge ja nichts an. Aber so war er, er Jürgen Wolter. Seine Devise war, hilf wo du kannst. Die beiden wollten schon weiter laufen als er sich doch noch aufraffte. >>Wartet bitte einen Moment! Ist alles in Ordnung? Kann ich euch irgendwie helfen?<<

Der kleine Junge wollte etwas sagen, als ihn der größere kniff. Dieser ergriff dann auch das Wort. >>Es ist alles in Ordnung!<< ,sagte er mit leiser Stimme. Wieder konnte man aus der Antwort eine Spur Traurigkeit heraushören.

>>Moment!<< Jürgen zog seine Brieftasche aus dem Mantel und kramte einige Scheine hervor. Er reichte sie Alexander. >>Hier, kauft euch etwas davon!<<

>>Wir brauchen kein Geld<< ,antwortete Alexander stolz. >>Warum wollen sie uns überhaupt Geld geben, sie kennen uns doch gar nicht?<<

War dies nun ein Vorwurf oder eine Frage? Jedenfalls wollte er ehrlich antworten. >>Weißt du, wenn die Menschen sich gegenseitig mehr helfen würden, sehe es auf der Welt besser aus.<< Er machte absichtlich eine kurze Pause. >>Findest du nicht?<<

Wie recht dieser Fremde hatte. Die meisten halfen so Leuten wie ihm und Sergej nicht. Den meisten waren sie nur scheißegal. Diesem Ausländer offensichtlich nicht. Aber sollte er das Geld annehmen? Sicher, sie könnten es gut gebrauchen, denn die nächsten Tage würde er nicht arbeiten können, selbst wenn die Grippe vorbei war. Erst wenn die zahlreichen, blauen Flecken verschwunden waren. So konnte er sich auf keinen Fall bei den Kunden blicken lassen. Er nickte und sah dabei zu Boden.

Der Mann trat zu ihm heran und legte seinen Arm auf seine Schulter. >>Nimm das Geld bitte! Du und dein kleiner Freund können es sicher gut gebraucht.<< Mit diesen Worten drückte Jürgen ihm das Geld in die Hand. Dann lächelte er. >>So ich muss weiter, ich habe leider keinen Tee zu Hause, deswegen besorg ich jetzt welchen. Ein Frühstück ohne Tee, unvorstellbar!<< ,tat er empört. Er sah noch einmal zu dem Kleinen, dann zu Alexander. >>Ich wünsche euch beiden alles Gute!<<

Die beiden sahen ihm nach bis er um die Ecke gebogen war. Alexander steckte das Geld einfach in Sergej Manteltasche. >>Hier, du machst den Kassierer. Du bist ab sofort unsere Bank!<<

>>Jawohl Sir!<< ,spaßte der Kleine. >>Der Mann war nett.<< Ernst fügte er hinzu. >>Obwohl er kein Russe ist!<< Beide mussten grinsen.

Jetzt standen die beiden wieder Mal in einem Hinterhof. Allerdings nicht ohne Grund! An einer kleinen Stelle, ungefähr zwei auf zwei Meter, lag kaum Schnee. Dafür ein Loch, daneben lag ein Kanaldeckel. Dieses Loch war der Einstieg in Moskaus Kanalisation. Solche Stellen waren bei Straßenkindern und Obdachlosen sehr beliebt. Wenn es sehr kalt war, bot dieses Kanalsystem eine der wenigen Möglichkeiten um nicht zu erfrieren. Da unten zu übernachten war allerdings nicht ganz ungefährlich. Nicht nur, dass man Angst haben musste vor der Miliz, welche in regelmäßigen Abständen Razzien durchführte, es gab da unten weit mehr Gefahren. Das wusste auch Alexander, als er nach unten zeigte. >>Da müssen wir jetzt runter!<<

Sergej vertraute seinem Freund. Moskaus Kanalisation war auch ihm gut bekannt. Wenn man länger auf der Straße lebte, lernte man sie zu schätzen. Langsam kletterte er die Kanalstiegen hinunter. Man musste höllisch aufpassen ,durch den Schneefall waren die Stiegen rutschig geworden. Stiege um Stiege nahm er sie. Alexander stand währenddessen Schmiere. Immer wieder schaute er sich um, ob niemand kam. >>Ich bin unten!<< ,hallte eine Stimme zu ihm herauf. >>Wirf die Decken und den Zopf runter!<<

>>Du und dein Zopf!<< ,schmunzelte sein Freund. >>Fang es aber richtig! Sonst ist alles nass und dreckig.<<

>>Mach dir keine Sorgen, ich pass schon auf. Man nennt mich übrigens den besten Fänger der Welt.<<

>>Ha, ha. Also ich zähle bis drei, dann kommt die Ladung.<< Sergej nickte, aber das konnte sein Freund nicht sehen. >>Eins! zwei! Drei! Die Sachen waren auf dem Weg nach unten.

>>Alles prima angekommen<< ,hallte es wieder heraus.

>>Super!<< ,lobte ihn Alexander. Nochmals sah er sich um. Niemand war weit und breit zu sehen. Jetzt war er an der Reihe. Ebenso vorsichtig wie sein Freund stieg er nach unten. Als er unten angekommen war rieb er sich erstmal die Hände sauber.

>>Diesen Deckel kannte ich noch nicht<< ,flüsterte sein kleiner Freund.

>>Du brauchst nicht zu flüstern, wir sind ja nicht in der Kirche. Dann zeigte er nach vorne. Da war es hell. Es waren wahrscheinlich schon andere hier unten. Ungefähr zwanzig Meter war das Licht entfernt.

Plötzlich schrie Sergej auf. >>Da ist eben was an mir vorbei gehuscht!<<

>>Das wird einen Ratte gewesen sein. Ist bestimmt nicht die erste wo du gesehen hast.<<

>> Ich hab sie gar nicht gesehen. Jedenfalls hab ich mich voll erschrocken. Kennen tue ich aber schon welche.<<

Jeder von ihnen nahm eine Decke und Sergej noch Ludmillas Zopf, der immer noch in dem schönen Weihnachtspapier eingewickelt war.

Nun musste Alexander sich ducken. Der Kanal war an dieser Stelle nur 1,50 Meter hoch. Nur Sergej konnte bequem hindurchlaufen. Es stank hier unten entsetzlich. Wenn man zum ersten Mal hier unten war, konnte es durchaus passieren, dass einem schlecht wurde. Aber die Straßenkinder, wo hier unten immer lebten, rochen das schon gar nicht mehr. Immer wieder mussten die beiden an den Wänden Halt suchen um nicht auszurutschen. Alexanders Füße waren bereits ganz nass. Das Wasser stand fünfzehn Zentimeter hoch. Sergej hatte ebenfalls nasse Füße. So wateten sie sich Meter für Meter nach vorne. Das Licht wurde immer heller.

>>Gleich haben wir es geschafft!<< ,stellte Sergej erleichtert fest.

>>Gott sei Dank!<<

>>Amen!<< ,fügte der Kleine hinzu.

Ein Raum erschloss sich ihnen. In der Ecke saßen einige Straßenkinder. Alexander schätzte sie auf zwölf bis sechzehn Jahre. Zwei Petroleumfunzeln spendeten genügen Licht, so dass man alles bequem erkennen konnte. Einer von ihnen erhob sich. Es musste wohl ihr Anführer sein, er schien gleichzeitig auch der älteste in der Runde zu sein. >>Wer seid ihr?<< ,erkundigte er sich.

Sergej zeigte auf seinen Freund, der neben ihm stand. >>Das ist mein Freund Alexander.<< Dann zeigte er auf sich. So als wäre der vor ihm ein Ausländer und würde kein Russisch verstehen. >>Und ich bin Sergej. Können wir bitte hier unten bleiben, meinem Freund geht es nicht so gut, bitte?<<

>>Das sehe ich!<< Er musterte die beiden und lief einmal um Alexander herum. >>Wie ist das denn passiert?<< ,wollte er wissen.

>>Ich wurde überfallen, alles haben sie mir weggenommen. Dann sah er auf seine Uhr. >>Und die Uhr hat nun einen Riss, die habe ich von meiner Oma geschenkt bekommen.<< ,fügte er traurig hinzu.

>>Das mit der Uhr hast du mir gar nicht erzählt!<< ,stellte sein kleiner Freund fest, dabei griff er nach Alexanders Hand und besah sich die Uhr.

Der Anführer blickte ihm nun direkt in die Augen. >>Das tut mir leid, ihr könnt natürlich bleiben. Macht es euch in irgendeiner Ecke bequem.<<

Beide bedankten sich und setzten sich hin.

>>Du, die Uhr kann man wieder reparieren. Wir bringen sie einfach zum Uhrmacher. Der macht dann ein neues Glas rein, dann ist sie wieder wie neu.<<

Alexander hörte das nicht mehr, er war eingeschlafen. Sergej schaute sich um. In den Geruch der Fäulnis, mischte sich der Geruch von Klebstoff. Ein Junge machte gerade die Tüte auf und füllte sie mit Klebstoff. Einige andere hatten bereits diesen glasigen Blick und waren nicht mehr in dieser Welt. Er schnüffelte hin und wieder auch Klebstoff. Damit konnte man Hunger, Angst und sein beschissenes Leben vergessen. Gesund war das Zeug jedoch nicht.

>>Was ist in dem Geschenkpapier?<< ,fragte der Anführer.

>>Ein Zopf, den hat Ludmilla gebacken. Die Frau von dem Arzt, der Alexander geholfen hat. Ludmilla macht den besten Zopf weit und breit. Möchtest du ein Stück haben?<<

>>Wenn du mir eins gibst.<< ,grinste er.

Sergej holte sein Taschenmesser heraus. Öffnete vorsichtig das Papier und schnitt eine Scheibe davon ab und reichte sie dem Anführer.

>>Danke, du bist sehr freundlich!<< Er biss ab. >>Das ist in der Tat der beste Zopf den ich je gegessen habe<< ,meinte er mit vollem Mund.

In diesem Augenblick wachte Alexander wieder auf. Sein Hals kratzte und er bekam wieder einen Hustenanfall. Sergej legte den Zopf auf seinen Schoss und zog seinem Freund die Decke über. >>Es wird wieder alles gut!<< ,meinte er und klopfte Alexander fürsorglich auf die Schulter.

Der Anführer beobachtete aufmerksam das Geschehen. Er machte nicht den Eindruck eines sechzehnjährigen, er wirkte viel reifer und er schien sich über die Dinge auch Gedanken zu machen. Jedenfalls hatte Alexander diesen Eindruck.

>>Ich habe mich ja gar nicht vorgestellt<< ,fiel diesem plötzlich ein. >>Ich heiße Vladimir!<< Dann wandte er sich an seinen Haufen. >>So Leute, in zehn Minuten ziehen wir ab. Wir haben kaum noch was zu essen und der Klebstoff ist bald alle, also heißt es was zu organisieren!<<

>>Was heißt organisieren?<< ,wollte Sergej wissen.

Wieder zog ein grinsen über Vladimirs Lippen. >>Das was ich euch jetzt sage, wird euch vielleicht nicht gefallen, aber so ist das nun mal im wahre Leben. Wir überfallen Leute. Alle stürzen sich auf einen. Weil wir so viele sind, kann er praktisch nichts machen. Die Masse macht es eben. Nein wir beklauen keine armen und alten Menschen. Nur die, wo genug haben. So etwas nennt man ausgleichende Gerechtigkeit, versteht ihr. Jetzt findet ihr uns sicher gemein und böse.<< Er machte eine Pause und drehte sich zu seinen Leuten. Dann wandte er sich wieder ihnen zu. >>Aber wir sind nicht gemein und böse. Keiner schert sich drum ob wir was zu essen haben. Überall jagt man uns weg. Nirgends sind wir Willkommen. Es interessiert alle einen Dreck was aus uns wird. Im letzten Jahr hat die Miliz einen von uns erwischt und verprügelt.<<

Er trat zu Alexander hin und sah diesem wieder tief in die Augen, denn jetzt kam der entscheidende Satz. >>Er ist übrigens hier unten gestorben! Ja, so ist das hier. Wer ist also gemein und böse?<<

Er wartete eine Antwort gar nicht erst ab, sondern wandte sich wieder seinem Haufen zu. In dem er in die Hände klatschte und sie aufmunterte. >>Los, Abmarsch und nimm Milan endlich die Tüte weg!<< Müde richteten sich alle auf und wateten gebückt und im Gänsemarsch durch den Kanal. Vladimir war der letzte. Nochmals drehte er sich zu ihnen um. >>Die Miliz in diesem Bezirk ist nicht zimperlich. Wenn sie also kommen, rennt, so schnell ihr könnt!<< Mit diesen Worten verließ er den Raum.

Da saßen die beiden nun und dachten über Vladimir Worte nach. >>Eigentlich ist dieser Vladimir trotzdem nett<< ,meinte Sergej.

>>Ja, stimmt! Sie versuchen eben so gut es geht zu überleben. Ich meine, das tun wir auch, nur auf unsere Art.<<

>>Ich bin froh bei dir zu sein.<<

>>Ich auch, sonst wäre ich ganz allein.<<

>>Willst du ein Stück Zopf?<<

>>Du und dein Zopf. Gib eine Scheibe her, damit endlich Ruhe ist!<< ,schmunzelte Alexander. So spaßen die beiden nun miteinander hier unten herum und ließen sich Ludmillas Zopf schmecken und ihr wisst ja, niemand macht ihn besser als sie!

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.03.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Der Weg eines ausgesiedelten Lehrerehepaars führte ab 1977 über Höhen und Tiefen. Die Erziehungsmethoden aus Ost und West prallten manchmal wie Feuer und Wasser aufeinander, und gaben uns Recht,dass ein Umdenken im Sinne einer Verbindung von positiven Elementen aus den beiden Schulsystemen aus West und Ost,erfolgen musste.Siehe Kindertagesstädten,ein entschlossenes Durchgreifen bei Jugendlichen, ohne Verletzung der Schülerwürde.Ein Geschichtsabriss aus der Sicht eines Volkskundlers.

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