``Es ist grober Leichtsinn,
was du hier machst´´, sagte sie zu ihm und trat an die Umzäunung. ``Siehst du
nicht die Warnschilder überall?´´
``Geh weiter!´´
entgegnete er gereizt. ``Kümmere dich nicht um mich!´´
``Letztes Jahr
hat sich ein junger Kletterer an dieser Stelle den Hals gebrochen´´, mahnte sie
ihn erneut.
``Bitte laß mich
allein!´´
Jetzt erst sah
sie den Schweiß auf seiner Stirn. Ein eigentümliches Beben begleitete jedes
seiner Worte.
Es war schon
nach Mitternacht. Gewöhnlich wurde der weitläufige Weg vom Nachbardorf zur
Hauptstraße hier entlang der Schlucht abgekürzt - jedoch nur bei Tage. Nachts
verschlug es selten jemand in diesen Wald, weshalb der junge Mann gehofft
hatte, sein Vorhaben ungestört ausführen zu können.
Jetzt aber stand
plötzlich dieses wunderschöne Mädchen vor ihm und stellte seine Entscheidung
auf eine harte Probe. Sollte er einfach springen und dem Drama ein schnelles
Ende bereiten?
Warum mischte
sie sich hier überhaupt ein?
``Mach das
nicht, bitte mach das nicht!´´ sprach sie eifrig. Er, entschlossen: ``Ein
kleiner Schritt nur. Erspar´ dir den Anblick und verschwinde, bevor man dir
nachher viele Fragen stellt!´´
``Was sind
Fragen gegen ein Menschenleben?´´
``Welches Leben?
Nach mir kräht doch kein Hahn mehr, wenn ich abtrete´´, sagte er und begann
gefährlich zu schwanken.
``Komm zurück
und gib mir wenigstens eine Chance, dir zu helfen!´´ bat sie eindringlich.
``Bleib wo du
bist!´´ fauchte er und starrte wieder in den Abgrund. Das Mädchen ließ den
Stacheldraht los, trat vorsichtshalber ein paar Schritte zurück. ``Was hoffst
du durch deinen Tod zu ändern?´´ fragte sie ihn.
``Er beendet
eine Sinnlosigkeit.´´
``Ich kann deine
Motive nur erraten. Aber eins weiß ich - den Sinn findest du dort, wo du jetzt
hingehst, nicht.´´
``Wer sagt dir,
daß ich einen Sinn finden will? Vielleicht will ich nur meinen Frieden haben.´´
``Gab dir jemand
einen Garantieschein dafür, ihn dort zu finden?´´
Der junge Mann
schwieg, aber es schien, als habe er plötzlich den Mut verloren, jenen letzten
kleinen Schritt zu tun. ``Warum liegt dir soviel an meiner Rettung?´´ wollte er
wissen. Das Mädchen strich sich durch ihr langes Haar. Von rechts drang schwach
das unwirkliche Licht einer Straßenlaterne durch die Baumreihen zu ihnen
herüber. Es genügte, um alle Züge ihres elfenhaften Gesichtes zu zeigen.
``Du machst es
mir verdammt schwer, weißt du?´´
``Wenn du
wirklich entschlossen wärst zu springen, hättest du es längst getan.´´
Entnervt setzte
er sich ins Gras und schämte sich seiner eigenen Schwäche, einer Schwäche, der
er jahrelang ohnmächtig unterworfen war. Und nun kam dieses Mädchen, als wär´s
eine Fügung des Schicksals, und wollte seine Qualen künstlich verlängern! Er
war zu schwach, sich ihr zu widersetzen, zu schwach, um eine Tat zu vollbringen,
die viel Stärke verlangte. Doch hätte er Stärke besessen, stände er jetzt gar
nicht hier. War er verdammt, sein sinnloses Leben endlos weiterzuführen?
Ein Teufelskreis
schloß sich. Sie trat als Teufel in Engelsverkleidung auf. Statt zu gehen, lächelte
sie ihn an. Konnte er sich erinnern, jemals solche Blicke empfangen zu haben?
``Steig über den
Zaun! Ich helfe dir.´´ Schon war sie bei ihm und berührte seine eiskalte Hand.
``Du frierst. Soll ich dir meine Jacke leihen?´´
``Danke, es geht
schon.´´
Wie
selbstverständlich sie ihn bei der Hand nahm! Es schien, als wolle sie seinem
Körper das Gefühl der Geborgenheit zurückgeben. ``Ich bin ja so froh, daß du
umgekehrt bist´´, flüsterte sie erleichtert. ``Stell dir vor, ich wäre nicht
zufällig hier vorbeigekommen! Stell dir vor, du hättest dir das Genick
gebrochen und alles wäre aus gewesen! Hast du so großen Kummer, daß er dir
jeden Lebensmut raubt?´´
Durfte er diesem
fremden Mädchen sein Seelenleben ausbreiten? Sollte er Dinge verraten, die nie
sein Herz verlassen hatten? Gab er sich damit eine zu große Blöße? Aber wie
konnte er jemals etwas an seiner Situation ändern, wenn er sich ständig
verschloß - gegen alle, gegen alles, sogar gegen sich selbst?
``Du mußt nicht
sprechen, wenn es dir weh tut´´, sagte das Mädchen und drückte seine Hand
fester. Sie war so gut zu ihm. Das allein steigerte seine Zuversicht.
``Wie heißt
du?´´ fragte sie, nachdem er sich mit ihr auf dem trockenen Moos niedergelassen
hatte. Er nannte ihr seinen Namen.
``Ich bin noch
ganz erschrocken, entschuldige! Aber als ich dich so sah und begriffen hatte,
was du...´´
``Sprechen wir
nicht mehr darüber´´, unterbrach er sie.
``Wirst du es
wieder versuchen?´´
``Das hängt
davon ab.´´
``Wovon?´´
``Von vielerlei
Faktoren.´´
``Wenn ich dich
bloß verstehen könnte!´´
Wieder verschloß
er sich und wußte, daß er in dieser Situation alles verderben konnte. Das
Mädchen neben ihm war vielleicht seine größte Chance, die er je hatte - die
letzte dazu.
War´s eine
gottgewollte Fügung des Schicksals? Doch ein Engel, der ihm erschien, um alles
zu verändern? Er wollte wieder lachen und leben, glücklich sein, lieben. Aber
dazu benötigte er ihren Halt.
Er spürte jene
unwahrscheinliche Kraft, die von ihrer zärtlichen Berührung ausging. Ein Strom
von Energie und doch nur ein kurzes Gefühl. Noch hielt sie seine Hand und sah
ihm dabei tief in die Augen.
``Warum
schreckst du vor meinem Blick zurück? Bin ich ein Geist?´´ wunderte sie sich.
``Sollen wir anderswo hingehen, weg von diesem Ort?´´ Aber er schüttelte nur verlegen
den Kopf : ``Es ist alles wie ein Traum.´´
``Ich bin
Wirklichkeit. Morgen wirst du schon darüber lachen.´´
``Ich hab´ dich
noch nie hier gesehen.´´
``Ich komme von
der Tanzschule im Dorf. Den Weg gehe ich eigentlich jeden Tag. Du bist der
erste, der mir hier begegnet ist - und das auf so ungewöhnliche Weise.´´
``Die Welt ist
verrückt.´´
``Siehst du,
jetzt lachst du!´´ rief sie und nahm ihn in die Arme. ``Ich bin ja so froh!´´
Jener, von
soviel Herzlichkeit ganz verwirrt, wirkte noch etwas unbeholfen, aber langsam
taute er auf.
``Wenn du
willst, kannst du mich ab und zu begleiten. Mitternachts im Wald wird mir oft
recht mulmig - besonders jetzt, wo es auf den Herbst zugeht und der Nebel
kommt.´´
Was für ein
Angebot! ``Natürlich, natürlich!´´ stotterte er, ``so oft du willst!´´ Dabei
wohnte er vier Kilometer entfernt in der Nachbarstadt.
``Und wenn du
willst´´, fuhr sie fort, ``können wir zu gegebener Zeit auch über alles
reden.´´
``Wenn es dir
nichts ausmacht, dich mit meinen Problemen zu belasten.´´
Sie begann
vergnügt zu kichern. ``Jemand wie du muß doch zu retten sein! Ich würde mich
freuen, sollte es mir gelingen, dir wieder so etwas wie...Sinn zu vermitteln.´´
``Unglaublich!´´
dachte er bei sich, ``Wenn ich mir vorstelle, daß sie meine Freundin wird... nein,
zu oft bin ich schon enttäuscht worden, zu oft, um noch an Wunder zu glauben.´´
``Weißt du, für
mich ist das heute ein ganz seltsames Erlebnis´´, fuhr sie fort.
``Wie schön sie
ist!´´ dachte er wieder. ``Etwas jünger als ich, und so lebenslustig! Ach, gäb´
sie mir nur ein Stück von dieser Freude ab!´´
Noch haderte er
mit sich, ob er ihr die entscheidende Frage stellen sollte, eine Frage, von der
alles abhing. Aber war das, was sie ihm in Aussicht gestellt hatte, nicht schon
genug? Durfte er mehr von einer fremden Person erwarten? Er hoffte auf sie. Das
durfte er.
``Warum
schweigst du?´´ fragte ihn das Mädchen, nachdem er lange nichts mehr gesagt
hatte.
``Ich muß das
alles erst verdauen.´´
``Dann laß ich
dich jetzt besser allein.´´
``Drängt die
Zeit?´´
Sie blickte auf
ihre Armbanduhr. ``Es ist schon spät. Er wird gleich kommen.´´
``Wer?´´
Im selben
Augenblick näherten sich zwei grelle Autoscheinwerfer der Haltebucht am
Waldrand. Das Mädchen sprang sofort auf.
``Mein Freund.
Er holt mich ausnahmsweise hier ab. Ich muß gehen, sonst glaubt er, ich bin
schon weg. Mach´s gut!´´ sagte sie und lief davon.
Der junge Mann
hörte, wie zwei Wagentüren zugeschlagen wurden. Räder quietschten. Der Motor
heulte auf. Die roten Rücklichter wurden immer kleiner und verschwanden
schließlich hinter einer Kurve.
Es war wieder still um ihn herum, still und dunkel.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.07.2001.
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