Franz Gilg

Ein Schritt weiter

``Es ist grober Leichtsinn, was du hier machst´´, sagte sie zu ihm und trat an die Umzäunung. ``Siehst du nicht die Warnschilder überall?´´

``Geh weiter!´´ entgegnete er gereizt. ``Kümmere dich nicht um mich!´´

``Letztes Jahr hat sich ein junger Kletterer an dieser Stelle den Hals gebrochen´´, mahnte sie ihn erneut.

``Bitte laß mich allein!´´

Jetzt erst sah sie den Schweiß auf seiner Stirn. Ein eigentümliches Beben begleitete jedes seiner Worte.

Es war schon nach Mitternacht. Gewöhnlich wurde der weitläufige Weg vom Nachbardorf zur Hauptstraße hier entlang der Schlucht abgekürzt - jedoch nur bei Tage. Nachts verschlug es selten jemand in diesen Wald, weshalb der junge Mann gehofft hatte, sein Vorhaben ungestört ausführen zu können.

Jetzt aber stand plötzlich dieses wunderschöne Mädchen vor ihm und stellte seine Entscheidung auf eine harte Probe. Sollte er einfach springen und dem Drama ein schnelles Ende bereiten?

Warum mischte sie sich hier überhaupt ein?

``Mach das nicht, bitte mach das nicht!´´ sprach sie eifrig. Er, entschlossen: ``Ein kleiner Schritt nur. Erspar´ dir den Anblick und verschwinde, bevor man dir nachher viele Fragen stellt!´´

``Was sind Fragen gegen ein Menschenleben?´´

``Welches Leben? Nach mir kräht doch kein Hahn mehr, wenn ich abtrete´´, sagte er und begann gefährlich zu schwanken.

``Komm zurück und gib mir wenigstens eine Chance, dir zu helfen!´´ bat sie eindringlich.

``Bleib wo du bist!´´ fauchte er und starrte wieder in den Abgrund. Das Mädchen ließ den Stacheldraht los, trat vorsichtshalber ein paar Schritte zurück. ``Was hoffst du durch deinen Tod zu ändern?´´ fragte sie ihn.

``Er beendet eine Sinnlosigkeit.´´

``Ich kann deine Motive nur erraten. Aber eins weiß ich - den Sinn findest du dort, wo du jetzt hingehst, nicht.´´

``Wer sagt dir, daß ich einen Sinn finden will? Vielleicht will ich nur meinen Frieden haben.´´

``Gab dir jemand einen Garantieschein dafür, ihn dort zu finden?´´

Der junge Mann schwieg, aber es schien, als habe er plötzlich den Mut verloren, jenen letzten kleinen Schritt zu tun. ``Warum liegt dir soviel an meiner Rettung?´´ wollte er wissen. Das Mädchen strich sich durch ihr langes Haar. Von rechts drang schwach das unwirkliche Licht einer Straßenlaterne durch die Baumreihen zu ihnen herüber. Es genügte, um alle Züge ihres elfenhaften Gesichtes zu zeigen.

``Du machst es mir verdammt schwer, weißt du?´´

``Wenn du wirklich entschlossen wärst zu springen, hättest du es längst getan.´´

Entnervt setzte er sich ins Gras und schämte sich seiner eigenen Schwäche, einer Schwäche, der er jahrelang ohnmächtig unterworfen war. Und nun kam dieses Mädchen, als wär´s eine Fügung des Schicksals, und wollte seine Qualen künstlich verlängern! Er war zu schwach, sich ihr zu widersetzen, zu schwach, um eine Tat zu vollbringen, die viel Stärke verlangte. Doch hätte er Stärke besessen, stände er jetzt gar nicht hier. War er verdammt, sein sinnloses Leben endlos weiterzuführen?

Ein Teufelskreis schloß sich. Sie trat als Teufel in Engelsverkleidung auf. Statt zu gehen, lächelte sie ihn an. Konnte er sich erinnern, jemals solche Blicke empfangen zu haben?

``Steig über den Zaun! Ich helfe dir.´´ Schon war sie bei ihm und berührte seine eiskalte Hand. ``Du frierst. Soll ich dir meine Jacke leihen?´´

``Danke, es geht schon.´´

Wie selbstverständlich sie ihn bei der Hand nahm! Es schien, als wolle sie seinem Körper das Gefühl der Geborgenheit zurückgeben. ``Ich bin ja so froh, daß du umgekehrt bist´´, flüsterte sie erleichtert. ``Stell dir vor, ich wäre nicht zufällig hier vorbeigekommen! Stell dir vor, du hättest dir das Genick gebrochen und alles wäre aus gewesen! Hast du so großen Kummer, daß er dir jeden Lebensmut raubt?´´

Durfte er diesem fremden Mädchen sein Seelenleben ausbreiten? Sollte er Dinge verraten, die nie sein Herz verlassen hatten? Gab er sich damit eine zu große Blöße? Aber wie konnte er jemals etwas an seiner Situation ändern, wenn er sich ständig verschloß - gegen alle, gegen alles, sogar gegen sich selbst?

``Du mußt nicht sprechen, wenn es dir weh tut´´, sagte das Mädchen und drückte seine Hand fester. Sie war so gut zu ihm. Das allein steigerte seine Zuversicht.

``Wie heißt du?´´ fragte sie, nachdem er sich mit ihr auf dem trockenen Moos niedergelassen hatte. Er nannte ihr seinen Namen.

``Ich bin noch ganz erschrocken, entschuldige! Aber als ich dich so sah und begriffen hatte, was du...´´

``Sprechen wir nicht mehr darüber´´, unterbrach er sie.

``Wirst du es wieder versuchen?´´

``Das hängt davon ab.´´

``Wovon?´´

``Von vielerlei Faktoren.´´

``Wenn ich dich bloß verstehen könnte!´´

Wieder verschloß er sich und wußte, daß er in dieser Situation alles verderben konnte. Das Mädchen neben ihm war vielleicht seine größte Chance, die er je hatte - die letzte dazu.

War´s eine gottgewollte Fügung des Schicksals? Doch ein Engel, der ihm erschien, um alles zu verändern? Er wollte wieder lachen und leben, glücklich sein, lieben. Aber dazu benötigte er ihren Halt.

Er spürte jene unwahrscheinliche Kraft, die von ihrer zärtlichen Berührung ausging. Ein Strom von Energie und doch nur ein kurzes Gefühl. Noch hielt sie seine Hand und sah ihm dabei tief in die Augen.

``Warum schreckst du vor meinem Blick zurück? Bin ich ein Geist?´´ wunderte sie sich. ``Sollen wir anderswo hingehen, weg von diesem Ort?´´ Aber er schüttelte nur verlegen den Kopf : ``Es ist alles wie ein Traum.´´

``Ich bin Wirklichkeit. Morgen wirst du schon darüber lachen.´´

``Ich hab´ dich noch nie hier gesehen.´´

``Ich komme von der Tanzschule im Dorf. Den Weg gehe ich eigentlich jeden Tag. Du bist der erste, der mir hier begegnet ist - und das auf so ungewöhnliche Weise.´´

``Die Welt ist verrückt.´´

``Siehst du, jetzt lachst du!´´ rief sie und nahm ihn in die Arme. ``Ich bin ja so froh!´´

Jener, von soviel Herzlichkeit ganz verwirrt, wirkte noch etwas unbeholfen, aber langsam taute er auf.

``Wenn du willst, kannst du mich ab und zu begleiten. Mitternachts im Wald wird mir oft recht mulmig - besonders jetzt, wo es auf den Herbst zugeht und der Nebel kommt.´´

Was für ein Angebot! ``Natürlich, natürlich!´´ stotterte er, ``so oft du willst!´´ Dabei wohnte er vier Kilometer entfernt in der Nachbarstadt.

``Und wenn du willst´´, fuhr sie fort, ``können wir zu gegebener Zeit auch über alles reden.´´

``Wenn es dir nichts ausmacht, dich mit meinen Problemen zu belasten.´´

Sie begann vergnügt zu kichern. ``Jemand wie du muß doch zu retten sein! Ich würde mich freuen, sollte es mir gelingen, dir wieder so etwas wie...Sinn zu vermitteln.´´

``Unglaublich!´´ dachte er bei sich, ``Wenn ich mir vorstelle, daß sie meine Freundin wird... nein, zu oft bin ich schon enttäuscht worden, zu oft, um noch an Wunder zu glauben.´´

``Weißt du, für mich ist das heute ein ganz seltsames Erlebnis´´, fuhr sie fort.

``Wie schön sie ist!´´ dachte er wieder. ``Etwas jünger als ich, und so lebenslustig! Ach, gäb´ sie mir nur ein Stück von dieser Freude ab!´´

Noch haderte er mit sich, ob er ihr die entscheidende Frage stellen sollte, eine Frage, von der alles abhing. Aber war das, was sie ihm in Aussicht gestellt hatte, nicht schon genug? Durfte er mehr von einer fremden Person erwarten? Er hoffte auf sie. Das durfte er.

``Warum schweigst du?´´ fragte ihn das Mädchen, nachdem er lange nichts mehr gesagt hatte.

``Ich muß das alles erst verdauen.´´

``Dann laß ich dich jetzt besser allein.´´

``Drängt die Zeit?´´

Sie blickte auf ihre Armbanduhr. ``Es ist schon spät. Er wird gleich kommen.´´

``Wer?´´

Im selben Augenblick näherten sich zwei grelle Autoscheinwerfer der Haltebucht am Waldrand. Das Mädchen sprang sofort auf.

``Mein Freund. Er holt mich ausnahmsweise hier ab. Ich muß gehen, sonst glaubt er, ich bin schon weg. Mach´s gut!´´ sagte sie und lief davon.

Der junge Mann hörte, wie zwei Wagentüren zugeschlagen wurden. Räder quietschten. Der Motor heulte auf. Die roten Rücklichter wurden immer kleiner und verschwanden schließlich hinter einer Kurve.

Es war wieder still um ihn herum, still und dunkel.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.07.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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