Yvonne Habenicht

Der Mörder und sein Schatten

Der aufkommende Sturm fuhr in die dunklen Wogen wie ein riesiger Quirl, wirbelte sie herum und ließ weiße Schaumkronen auf ihren Kämmen tanzen. Am Himmel jagten dunkle Wolken, am Horizont zeichnete sich eine blauschwarze Unwetterfront ab. Die kleine Motorjacht tanzte auf dem aufgewühlten Meer und ihr wenig erfahrener Steuermann hatte alle Mühe, sie einigermaßen auf Kurs zu halten.
Hinaus gefahren waren sie bei recht gutem Wetter. Sonnenschein, in der Ferne Wolken, die sie nicht ernst nahmen. Die Warnungen, es könnte wildes Wetter geben, schlugen sie lachend in den Wind. Bis dahin würden sie längst zurück sein. Es war der vorletzte Urlaubstag, und die letzte Gelegenheit, noch einmal eine kleine Tour mit dem Boot von Sigmunds Freund zu machen.
Sigmund sah zum Himmel auf, dann auf das aufgewühlte Meer, dann zu Vera, die sich ängstlich an der Reling festhielt. Sie wäre gern ins Innere des Bootes gegangen, doch sie fürchtete die wenigen Schritte über den heftig auf und nieder schwankenden, nassen Bootsboden.
"Siggi, komm, hilf mir in die Kajüte!"
Sigmund kam. Nur einen Augenblick, einen klitzekleinen Augenblick währte es, dass er Veras Beine mit kurzem Ruck anhob. Ein gellender Schrei, das Geräusch des ins Wasser klatschenden Körpers. Ihr Kopf tauchte zwischen den Schaumkronen auf, mit aufgerissenem Mund, wie zum Schrei bereit, und klitschnassem, dunklen Haar, dass über ihr Gesicht fiel. Einmal, noch einmal, dann war da nur das heftige Wasser.
Vera konnte nicht schwimmen. Er sah zur Uhr, ließ einige Minuten vergehen, rief dann mit erregter, erstickter Stimme die Seenotrettung an.
"Meine Frau sie ist eben vom Boot gestürzt, oh Gott, sie kann nicht schwimmen! Schnell, schnell."
Den Anweisungen folgend gab er seinen ungefähren Ort und Kurs an.
"Aber, ich weiß nicht, wie lange ich das Boot hier halten kann. Ich bin nur Urlaubsschiffer."
Er sorgte schon dafür, dass das Boot weit vom Ort des Geschehens abtrieb.
So, Vera, das war's dann. Du machst mir das Leben nicht mehr schwer.
Oh, wie hatte er sie gehasst, in den letzten Jahren. Viel leidenschaftlicher, als er sie je geliebt hatte. Wenn sie ihn im Geschäft, ihrem Geschäft, wie sie immer betonte, wie einen dummen Jungen behandelte, sogar vor der Kundschaft. Wenn sie ihm sein Taschengeld zuteilte: Was brauchst du schon? Du hast ja alles. Wenn sie ausgingen, machte ihn zum Hanswurst, wandte sich augenfällig anderen Männern zu, um ihn am Ende einzusammeln, wie einen nichtigen Gegenstand. Er wusste, sie betrog ihn nach Strich und Faden. Doch er wagte nicht aufzumucken, denn Trennung, das bedeutete für ihn, vor dem Nichts zu stehen. Zig Todesarten wünschte er ihr: ein Messer im Leib, eine mörderische Krankheit, einen Autounfall, Gift... Es blieben Träume. Bis heute früh, als er entschlossen war, den während dieses Urlaubs gefassten Plan Wirklichkeit werden zu lassen. Innig hatte er gehofft, die Unkenrufe vom Schlechtwetter würden sich erfüllen. Und dieses Wetter war gekommen, und mit dem Wetter seine Chance.
Ein Unfall, ein schrecklicher Unfall. Nicht schnell genug bei ihr hatte er sein können, wo er doch angstvoll bemüht war, das Boot im Griff zu behalten. Zur Reling gestürzt war er. "Vera! Vera!" Da war sie schon im Meer verschwunden, nichts mehr von ihr zu sehen. Gleich nach der Seenotrettung hatte er gerufen. Es wäre sinnlos gewesen, ihr nachzuspringen in dem aufgewühlten Wasser. Er hoffte, sie noch mal auftauchen zu sehen, nach ihr greifen zu können, hielt schon ein Seil bereit. Doch nichts. Nein, sie konnte nicht schwimmen. Sie wollte nie eine Schwimmweste, meinte, sie ertrüge das Zeug nicht am Körper. Er zitterte am ganzen Leibe, sprach mit tränenerstickter Stimme, der arme Mann. Gab sich dauernd die Schuld an dem furchtbaren Unfall, weil er nicht auf die Warnungen gehört, das Schiff nicht besser im Griff gehabt hatte. Vergeblich versuchten sein Freund Richard und Bekannte, ihm klar zu machen, dass er nichts hätte tun können. Er war ein zerbrochener Mann, der allen leid tat.
Tage später wurde anderenorts Veras aufgedunsene Leiche an Land getrieben. Bei der Beerdigung musste der Freund ihn stützen. Sigmund erfuhr danach tatkräftige Hilfe von Freunden und Angestellten bei der Führung des exklusiven Möbelgeschäfts. Während der ersten Tage war er so beschäftigt, überzeugend seine Trauerrolle zu spielen, dass kaum andere Gedanken Platz hatten, außer dem einen, dass er nun frei sei, ungebunden, unbevormundet, nie mehr erniedrigt und zurückgesetzt, nicht mehr der Fußabtreter dieser Giftschlange, die seine Frau gewesen war.
Dann aber kamen die Nächte. Mit den Nächten kam Vera. Er sah sie zwischen den tobenden Wogen auftauchen und hörte ihr Lachen: "Du glaubst, ich sei tot? Ich bin da, da, da!"
Er sah sie im Leichenschauhaus liegen, wo er sie identifizieren musste. Das aufgedunsene Gesicht, die Haut, widerlich teigig und vom Schlagen gegen viele Steine zerrissen. Wie sie da lag, schlug sie die Augen auf und sah ihn an.
Sie kam und legte sich neben ihm ins Bett. Er fühlte die Bewegung des Bettes, ihn streifte ihr Nachthemd, er spürte ihren Atem.
"Tot bin ich? Das ich nicht lache. Ich werde immer bei dir sein, immer."
Nasses Haar streifte sein Gesicht, Veras Haar. Er roch ihr Parfum.
"In guten und in schlechten Zeiten, nicht wahr, mein Guter? Jetzt kommen deine schlechten Zeiten. Ich bin noch lange nicht weg."
Und immer klang ihr klirrendes Lachen durch die Träume. Es schnitt ihm wie ein Messer in den Leib. Er erwachte schweißgebadet und mit Übelkeit, begann die Nächte zu scheuen und zum Tage zu machen, indem er Arbeit mit heim nahm, ausging, Leute einlud, reihenweise Nachtvorstellungen von Kinofilmen besuchte. Doch irgendwann kam der Schlaf, und mit dem Schlaf kam wieder Vera.
Dann wurde sie immer unersättlicher. Bald begnügte sie sich nicht mehr mit seinen Träumen. Sie stand auch im Wachen hinter ihm. Er saß am Schreibtisch, und sie tippte ihm plötzlich auf die Schulter. Er sprach mit einem wichtigen Kunden, und auf einmal fuhr ihre Stimme dazwischen: "Du Blödkopf, keine Ahnung hast noch nie zum Geschäft getaugt", und brachte ihn gänzlich aus dem Konzept. Sie machte sich neben ihm im Auto breit: "Idiot, du konntest noch nie richtig fahren. Taugst nicht für den teuren Wagen." Mit quietschenden Bremsen stand er bei Rot mitten auf einer Kreuzung. Neben der Badewanne stand sie: "Na, wie ist's? Soll ich dich ersäufen, so, wie du mich ersäuft hast?" Er sprang panisch aus der Wanne und duschte zukünftig nur noch.
Sie klopfte ans Schlafzimmerfenster, obwohl es oben in der Mansarde lag. Sie stand hinter diesem Fenster, das nasse Haar fiel ihr ins wachsbleiche Gesicht: "Na, fürchtest du den Schlaf? Hast Angst vor mir? So ist's richtig." Er ließ die Rollos herunter. Da war sie im Zimmer: "Mich wirst du nicht los. Nie!" Und sie lachte, so, wie sie ihn zu ihren Lebzeiten verlacht hatte.
Nicht Besucher, nicht Arbeit, keine Ausflüge, keine Wochenendreisen vertrieben sie. Sie war bald so ausdauernd an seiner Seite, wie es früher nie gewesen war. Sie ließ ihn stolpern, wenn er Gästen Getränke bringen wollte, sie griff ihm ins Steuer, und er fuhr bei übersichtlichem Verkehr einem anderen eine Beule ins Auto; sie schlug ihm ihr nasses Haar ins Gesicht, so dass er die Arbeiten, die er sich mit heim genommen hatte, nicht sehen konnte, stieß gegen den Teekessel, und er verbrühte sich die Hand. Bald munkelte man im Geschäft, dass der Chef gar nichts mehr im Griff habe. Seine Angestellten waren, kaum, dass er den Laden verließ, vollauf beschäftigt, wenigstens notdürftig auszubügeln, was er angerichtet hatte. Er vertrieb gute Kunden mit falschen Auskünften, brach Gespräche mit diffusen Ausreden ab, nannte falsche Preise und Lieferzeiten.
Freund Richard kam und riet ihm, einen Arzt aufzusuchen. Davon wollte Sigmund nichts wissen. Welcher Arzt hätte ihn von der Wirklichkeit befreien können? Er war ein Mörder, ein perfekter Mörder. Doch, wer und was konnte Vera aus seinem Leben vertreiben?
Ich muss sie loswerden, dachte er, ich muss darüber reden können. Was er nie für möglich gehalten hätte: Er ging zur Beichte. Was er auch sagte, der Priester würde schweigen müssen. Er glaubte, einmal ausgesprochen, könne der Spuk ein Ende nehmen. Doch während er zu reden begann vor dem im Beichtstuhl verborgenen Priester, sie stand hinter ihm und lachte, lachte, lachte: "Na, du Feigling, soll nun der liebe Gott ausbügeln, was du dir aufgeladen hast? Du wirst mich nicht los. Nie!"
Er brach die Beichte ab und verließ fluchtartig die Kirche. Da stand er im gleißenden Sonnenlicht, und um ihn war Vera. Nein, sie war nicht nur neben ihm, sie war überall. Vor ihm, hinter ihm, rechts und links. Ihr Gesicht tauchte zwischen den fahrenden Autos auf, über den Häuserdächern, in den Baumkronen, wuchs mit aufgerissenem Mund und nassem Haar aus dem Straßenpflaster. Wohin er auch lief, sie blieb. Wie schnell er auch lief, sie war schneller, tauchte vor ihm auf und lachte ihm ins Gesicht. Klirrend, böse, hämisch lachte sie. Es hämmerte in seinem Kopf, dieses Lachen. Es füllte ihn ganz und gar aus. Es würde nie aufhören.
Sigmund lief durch die Stadt, ohne Ziel und Sinn. Sie blieb an seiner Seite. Im Haus war es noch schlimmer. Sie war in allen Zimmern gleichzeitig, wohin er auch ging, da war schon Vera. Er holte den Wagen aus der Garage. Sie saß schon auf dem Beifahrersitz. Nass, wabbelig, käsig weiß, aber mit diesem Lachen.

"Ja, er war in letzter Zeit nicht mehr er selbst. Ganz durcheinander."
"Der Mann machte einen kranken Eindruck. Hätte gar nicht mehr fahren dürfen."
"Es war der Tod seiner Frau. Er hat sich immer die Schuld daran gegeben. Es war eine so gute Ehe."
"Er hat das nicht verkraftet. Dabei war sie eigentlich gar nicht wert, seine Frau. Hat ihn betrogen."
"Aber, er hat sie geliebt. Ist nicht darüber hinweg gekommen."

Es gab ein recht großes Begräbnis. Alle Angestellten waren da, Sigmunds Familie und Bekannte, der Freund Richard, Veras Familie. Richard machte sich Vorwürfe, ihnen das Boot geliehen zu haben. Hätte er ihnen nicht das Boot gegeben, wären beide noch am Leben und glücklich.
So was Furchtbares. Erst der Unfall mit der Frau, dann der Mann mit 130 Sachen gegen einen Baum geprallt. Keiner hörte Veras Lachen.


Copyright© by Yvonne Habenicht 2002
Deutschland/Berlin

Es scheint der perfekte Mord zu sein. Doch der Mörder muss mit dem Schatten seines Opfers leben.
Yvonne Habenicht
Yvonne Habenicht, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.09.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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