Ich rief an diesem Tag schon zum achten Mal bei ihr an. Fast stündlich.
Meistens ist irgendwer an den Apparat gegangen, der sich im Flur, einen Stock
höher oder tiefer aufhielt. Stets eine genervte Person, nicht sonderlich
erpicht darauf, mir den Gefallen zu tun.
Vielleicht gaben sie nur vor, als würden sie meiner Bitte nachkommen,
verschwanden kurz um die Ecke und meldeten sich wieder mit der üblichen
Antwort: ``Niemand da!´´
Manchmal ließ ich es minutenlang klingeln. Meistens kam dann dieser Typ
mit seiner einschläfernden Stimme, der wahrscheinlich im Zimmer neben ihr
wohnte und nur deshalb an die Muschel ging, weil er den Lärm nicht länger
ertrug. Er nannte nie seinen Namen und wir taten jedesmal, als hätten wir noch
nie miteinander gesprochen.
Unhöflich war er nicht, aber er dachte sich wohl seinen Teil. Muß er
ja. Und wenn er sich aufmachte, um die Nachbarin heraus zu klopfen, begann ein
zermürbendes Warten. Gut, die zwei bis drei Gebühreneinheiten mehr fielen nicht
ins Gewicht, aber es nervte. Letztendlich war sein Klopfen doch für die Katz.
Mitunter fragte ich mich, ob sich inzwischen bereits das ganze Haus
über mich amüsierte, ob die Bewohner Schabernack mit mir trieben, weil es ihnen
Spaß machte, mich mit meinen schon verzweifelten Bemühungen zappeln zu lassen.
Ich blieb standhaft. Nur nicht die Flinte vorschnell ins Korn werfen!
Es fällt einem nichts in den Schoß! Jeder Preis hat seinen Einsatz und ein
wertvoller ganz besonders. Es war mir dennoch irgendwie peinlich, immer wieder
nach ihr zu fragen. Mag sein, sie bemitleideten mich sogar ein bißchen. Oder
war ich ihnen einfach gleichgültig? Ich als einer von unzähligen anderen, die
dem Mietsblock für Studenten durch das schrille Geklingel Leben einhauchten?
War es nicht vielmehr so, daß jeder in seinem Loch wie in einer Zelle
kauerte, Mauer an Mauer mit seinesgleichen und doch einsam wie ein Verirrter am
Nordpol? Kann auch sein, daß sie es einfach satt hatten, immer an eine
verschlossene Tür zu klopfen.
Ich kam mir irgendwie wie ein Eindringling vor in diesem Haus, das ich
nicht kannte, diese Örtlichkeit, mit der mich nur eine Nummer verband, die ich
durch Zufall in die Hand bekommen hatte.
Sie existierte zumindest. Die Nummer war richtig und die Leute im Haus
schienen das Mädchen, das immer noch kein Handy besaß, zu kennen. Insbesondere
der gelangweilt wirkende Typ, der oft eine Viertelstunde benötigte, um meine
Hoffnungen zu zerstören. Ich hatte Vertrauen zu ihm, weil er ihr manchmal eine
Nachricht von mir zusteckte - unter den Türspalt hindurch oder in den
Briefkasten. Nichts Privates, versteht sich. Nur daß sie zurückrufen solle,
wenn sie da ist - natürlich zu fast jeder Tages- oder Nachtzeit. Im Gegensatz
zu ihr bin ich nämlich immer erreichbar.
Komisch, daß diese Nachrichten stets unbeantwortet blieben. Leerte sie
ihren Postkasten nicht? War sie für einige Tage verreist? War ich ihr
gleichgültig? War ich ein Mißverständnis? Vielleicht schmiß sie die Zettel
ungelesen in den Papierkorb oder bat den gelangweilt wirkenden Typ, er solle ausrichten,
sie sei nicht da.
Oder der Typ war ein ganz linker Hund und tat aus purem Sadismus so,
als wolle er mir helfen. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Mag auch
sein, ihn trieb blinde Eifersucht dazu, mich bei ihr abblitzen zu lassen? Ein
leichtes für ihn, denn er saß am längeren Hebel.
An ihr konnte es ja nicht liegen. Hätte sie mir sonst so bereitwillig
die Nummer des Haustelefons gegeben. Und wenn sie die Dinge inzwischen auch
ganz anders sah und keinen weiteren Kontakt zu mir wünschte? Man kann ja
darüber reden, vernünftig von Mensch zu Mensch. Ist doch die normalste Sache
der Welt. Notfalls auch über die Strippe! Kostet keinerlei Überwindung. Wozu
also die Hinhaltetaktik?
Ist es denn eine? Bestimmt rief ich immer nur zur falschen Zeit an, hatte
eben Pech. Gewisse Leute sind oft auf Achse, aktiv, kreativ, mit einem vollen
Terminplan auch für die Freizeit. Die haben feste Ziele und einen breiten
Freundeskreis, der diesen Zielen dient, der demgemäß auch Zeit in Anspruch
nimmt, die man anderswo einsparen muß. So und nicht anders brachte man sein
Scherflein ins Trockene, während ich mich lethargisch an Träumen nährte.
Hatte ich demnach überhaupt ein Recht, ungeduldig oder gar ungehalten
zu sein? Hatte ich nicht vielmehr die Pflicht, immer wieder anzurufen, bis ich
den passenden Augenblick endlich erwischte.
Von da an wäre die Sache im Prinzip gelaufen: Verbindliche Termine
konnten vereinbart werden. Egal wann - ich hatte Zeit. Ich war flexibel, würde
mich nach ihr richten. Das machte es einfacher, verschaffte mir ein Plus,
steigerte die Chancen ganz gewaltig.
Nichtsdestotrotz mußte ich sie aber erst erreichen. Ein Tuten in der
Leitung verspottete meine Bemühungen. Der gelangweilte Typ war auch nicht immer
da. Dafür tönte nun endlich, nach einem weiteren Versuch, eine neue Stimme
durch den Hörer. Ich trug mein Verslein vor, insgeheim hoffend, sie könne es
selbst sein. Nein. Wieder schickte ich eine Fremde fort, an jene ominöse Tür zu
klopfen, und wieder bekam ich eine Standardantwort, die mich diesmal fast
wütend machte.
Ob es denn keinen im Haus gebe, der sie näher kenne, bei dem man sich
nach ihr erkundigen könne, wollte ich wissen. Niemand besucht den anderen.
Hinter jeder Tür ein Königreich. Und die Grenzen sind dicht.
Warum hat sie keine Zeit und ich zuviel davon? Die Antwort ist
offensichtlich: Alles eine Kosten-Nutzenfrage, eine Sache der Kalkulation. Zeit
kann man teilen, verschenken oder vergeuden, anderen stehlen oder anderen
vorenthalten. Zeit ist insofern auch ein Sympathiemesser. Keine Zeit, kein
Interesse, kein Bezug. Bezugslos frei, zeitlos frei, Freilos Zeit, Zeit im
Überfluß.
Um Zeit zu teilen, bedarf es zweier.
Solange ich also vergeblich anrief, verplemperte ich einfach ein Stück
meines zeitlich begrenzten Lebens.
Ich stellte mir den Wecker. Um zwei Uhr nachts der nächste Versuch:
Eine grobe Stimme, leicht schlaftrunken, blies mir den Marsch, indem sie
mehrmals laut darauf hinwies, wie spät es jetzt sei.
Ich wagte es trotz dieser Schelte auch um drei Uhr noch einmal, was
damit endete, daß der Hörer neben die Gabel gelegt wurde und ich so
gezwungenermaßen doch noch ein paar Stunden Schlaf fand.
Andertags faßte ich all meinen Mut zusammen und fragte den
gelangweilten Typ endlich nach der Adresse des Hauses. Wieso war mir die Idee
nicht schon früher gekommen? Nun konnte ich ihr Einschreiben zukommen lassen.
Das erste enthielt nur Dinge, die ich ihr auch telefonisch hatte mitteilen
wollen. Im zweiten ging ich bereits einen Schritt weiter, indem ich intime
Gefühle sie betreffend durchsickern ließ.
Anscheinend nicht offen genug, wie ich fand, weshalb ich im letzten
Brief unverblümt alles zur Sprache brachte, was mir auf der Seele brannte. Mit
der vollen Wahrheit am Tisch endet jedes Versteckspiel - dachte ich irrtümlich.
Die Briefe erreichten ihren Adressaten, blieben aber unbeantwortet.
Irgendwann, so nach ein paar Wochen, lief sie mir plötzlich über den Weg. Ein
Zufall wie bei unserer ersten Begegnung. Sie war in Eile und in ein angeregtes
Gespräch mit ihren Begleitern vertieft. Immerhin gelang es mir, sie
anzusprechen. Nur eine Frage: Ob sie meine Nachrichten nicht erhalten habe?
Klar, natürlich, alle drei. Und sie hätte ja auch gerne sofort
geantwortet. Nur eben...naja...bis jetzt war einfach noch keine Zeit dazu.
Von diesem Augenblick an wußte ich, was ich zu tun hatte. Getarnt als
Handwerker verschaffte ich mir Zutritt zu ihrem Zimmer, fand dort einen
Ersatzschlüssel, nahm ihn an mich, verschwand wieder und wartete jenseits der
Straße, bis es dunkel wurde. Als das letzte Licht an den Fenstern der Vorderfront
endlich verloschen war, verließ ich mein Auto, schlich ins Haus, stapfte
langsam die leicht knarrende Holztreppe hoch und schritt schließlich mit
Wollsocken über den Teppich des langen Ganges bis vor ihre Tür.
Ein kurzer Blick durchs Schlüsselloch brachte keine neuen Erkenntnisse.
Auch lauschte ich einige Sekunden mit den Ohren eines Luchses. Leises
Schnarchen drang aus den Räumen nebenan. Ich schloß behutsam auf, fand ein
leeres Zimmer vor, schloß von innen wieder ab. Ein Zündholz verschaffte mir die
nötige Orientierung.
Gut, ich hatte ohnehin nicht damit gerechnet, sie hier gleich
anzutreffen. Aber am Türschild stand ihr Name, unzweifelhaft. Und gewisse
Gegenstände im Raum deuteten klar auf ihre Existenz hin. Ich würde demnach
einfach warten, geduldig, besonnen und ruhig, weil ich nun alle Trümpfe in der
Hand hielt.
Irgendwann kommt sie zurück, ganz egal wann. Sie wird es eilig haben,
wie immer. Aber sie wird kommen. Vielleicht nicht allein. Nun, das spielt dann
keine Rolle mehr. Besser gesagt, das ist kein Hindernis, meine Tat zu
vollenden.
Es soll eine gute Tat sein, denn sie wird danach endlich Zeit im
Überfluß haben. Mehr als ihr lieb ist.
Ruhig sitze ich da, auf ihrem Sofa, in ihrem Zimmer, einer
Privatsphäre, die keine ist. Schon nach wenigen Stunden kommt mir bereits alles
sehr vertraut vor, vertrauter als es für sie je war.
Sie wird kommen. Irgendwann. Zeit spielt keine Rolle. Nur sie kann die
Tür öffnen.
Ich lausche, was sich tut. Das Haus schläft auch tagsüber. Kein Licht
dringt durch das verschlossene Fenster. Ich habe alle Uhren weggesperrt,
verliere so jedes Zeitgefühl, denn Zeit spielt keine Rolle.
Manchmal läutet im Gang das Telefon. Manchmal klopft es an der Tür.
Manchmal schiebt jemand einen Zettel durch den Türschlitz. Ich verbrenne alles,
auch meine Briefe, die überall ungeöffnet herumliegen.
Hunger führt mich zum Kühlschrank. Er ist ausgeschaltet und leer. Ihre
Kakteen im Regal brauchen selten Wasser. Kein Haustier, das gefüttert werden
muß, keine unvollendete Arbeit am Schreibtisch, kein Zwang, alsbald hierher
zurückzukehren.
Wo war sie in der vergangenen Nacht? Renne ich einem Phantom hinterher?
Das Rasseln eines Schlüsselbundes schreckt mich jäh aus meinen Überlegungen.
Ist es beim Nachbarn?
Nein, es ist diese Tür, in die der Schlüssel sich bohrt. Atemlos warte
ich auf ihren Eintritt, warte, daß sie hinter sich abschließt und langsam durch
die Diele in den Wohnraum geht, um mich erst zu entdecken, wenn sie das Licht
angeknipst hat, weil es dann nämlich zu spät für sie sein wird, wieder
davonzulaufen.
Doch plötzlich bekomme ich Angst, die mich beinahe taumeln läßt. Je
näher der entscheidende Augenblick rückt, desto mehr Bedenken an meinem
Vorhaben tun sich auf. Schon höre ich das Klappern ihrer Schuhe auf dem
Holzboden.
Eine innere Stimme peitscht mich an, standhaft zu bleiben.
Sie kommt. Es ist soweit!
Ich warte. Ich schwitze. Ich bete.
Offenbar hat sie irgend etwas vergessen. Sie kehrt um, ohne das Licht
angeknipst zu haben, sperrt hastig ab und rennt polternd davon. Ob sie die
Gefahr gerochen hat?
Nun, ich war doch leise, oder? Und vorsichtig?
Bestimmt kommt sie bald zurück. Jedenfalls irgendwann.
Nur der Karton, den sie im Vorraum abgestellt hat, läßt mich daran etwas zweifeln. Er enthält ein Feuerzeug, eine Kerze und einen Kanister Benzin.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Franz Gilg).
Der Beitrag wurde von Franz Gilg auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.07.2001.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Franz Gilg als Lieblingsautor markieren
Nebel am Cevedale
von Franz Gilg
Es handelt sich um eine Mischung aus Bergsteigerdrama und Psychothriller.
Die örtlichen Begebenheiten sind weitgehend originalgetreu wiedergegeben.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: