Brigitte Hanisch

Tote kann man nicht wählen

Die Tageszeitung einer Stadt hatte zum alljährlichen` Zöpfchen`-Wettbewerb aufgerufen, der wie in jedem Jahr viele Menschen in die Innenstadt lockte.
27 bezopfte Mädchen im Alter von 16 bis 21 Jahren stellten sich zur Wahl. Sie posierten mit ihren Zöpfen vor den Fotografen, um für die Zeitung abgebildet zu werden. Von diesen Mädchen sollte eine Jury die zehn Besten auswählen.
In diesem Jahr stand die Wahl unter keinem guten Stern. Es hatte sich herumgesprochen, dass es unter den Kandidatinnen und deren Mütter heftigen Streit gegeben hatte.
In der Stadt entwickelte sich eine wahre Schlacht auf Coupons, die an jedem Verkaufsstand angeboten wurden. Mit diesen Coupons konnten die Bürger zusätzliche Punkte für die von der Jury ausgesuchten zehn Schönheiten abgeben.
Die ersten drei Plätze sollten in den nächsten Tag bekannt gegeben werden.
Bei den Teilnehmerinnen herrschte dicke Luft. Alle waren gestresst. Man konnte die Rivalität direkt riechen und Manni, der die Leitung übernommen hatte, ließ die Mädchen keine Sekunde aus den Augen.
Der letzte Auftritt nahte. Die Zeitung hatte zu diesem Zweck einen Raum zur Verfügung gestellt.
Manni hatte alle Hände voll zu tun die Zöpfchenmädchen zu beruhigen, denn sie hatten Lampenfieber. Er stand auf der Bühne, klatschte in die Hände und schon liefen die zehn Besten den Laufsteg entlang.
Erwartungsvoll schaute ihnen die Jury zu.
Als Manni die Nummer zehn aufrief und niemand kam, blickte er sich irritiert um und stellte fest, dass Susi fehlte.
Er bat die Jury um einige Minuten Geduld und rannte wütend in die Kabine, wo er Susi vermutete.
Als er den Raum betrat, lag sie auf dem Boden. Manni raufte sich die Haare. Er war so durcheinander und wusste nicht, was er machen sollte. Die Jury wartete und hier lag ein totes Mädchen, denn als er ihre weit aufgerissenen Augen sah, wurde ihm klar, dass etwas Schreckliches geschehen war.
Kreidebleich wankte er zur Bühne zurück und berichtete total verstört, dass die Nummer 10 tot in der Kabine läge. Man rief sofort die Polizei.
Hauptkommissar Wilfried Notter traf kurz danach mit der Spurensicherung ein. Das Zimmer, in dem die Tote lag, durfte nur noch von der Polizei betreten werden.
Der Schock saß tief. Einige Mädchen weinten, andere saßen starr vor Schreck auf den Bänken. Sie wollten ihre Eltern anrufen und nach Hause gehen, aber die Polizei ließ es nicht zu.
Der Kommissar verhörte jedes Mädchen einzeln, was viel Zeit in Anspruch nahm.
Draußen auf der Straße wusste noch niemand, was geschehen war.
Durch seine Verhöre erfuhr der Kommissar von den anderen Kandidatinnen, dass sie die hochnäsige, blonde Susi Wetzel nicht leiden konnten. Letztes Jahr hatte sie Platz sieben belegt. In diesem Jahr wurde sie von ihrer Mutter und von ihren Freunden schon im Vorfeld als Favoritin gefeiert. Susis Mutter hatte in ihrer Boutique ein Bild ihrer Tochter im Schaufenster aufgehängt und Werbung für ihre Tochter gemacht. Sie tat alles um Susi bei dieser Wahl zum Sieg zu verhelfen.
Ihre schärfste Konkurrentin war die 16 jährige Lydia Maurer.
Nachdem Wilfried Notter die Verhöre der Mädchen beendet hatte, durften alle nach Haus gehen.
Ob Eifersucht der Mädchen ein Motiv war? Der Kommissar war total erschöpft und noch keinen Schritt weiter gekommen.
Als er Susis Mutter aufsuchte, tänzelte sie ihm wie eine Modepuppe entgegen und erzählte unter Tränen von Susis Werdegang. Von der Grundschule angefangen bis zum heutigen Tag und über eine kleine Fernsehrolle, die sie ihr durch ihren Einfluss besorgt hatte. Nachdenklich ging der Kommissar nach Haus. Es ist doch immer das Gleiche, dachte er. Die Mütter sind die treibenden Kräfte bei diesen Wettbewerben.
Obwohl über den tragischen Tod des Zöpfchenmädchens am nächsten Tag in der Zeitung berichtet wurde, hielten es die Verantwortlichen nicht für nötig die Veranstaltungen abzubrechen. Notter tobte im Büro über so viel Pietätlosigkeit, aber er konnte auch nichts daran ändern.
In der Stadt war der Trubel nicht mehr zu bremsen. „Was macht es da aus, dass eine Person nicht dabei sein kann“, brüllte er.
Für den Kommissar war es eine schwere Aufgabe. Wo sollte er weitermachen? Die Befragung der Mädchen hatte nichts ergeben. Das Obduktionsergebnis lag auch noch nicht vor. Und was war das Motiv?
„Selbstmord scheidet aus“, sagte Margit, seine Mitarbeiterin. „Bei meiner Befragung sagten alle Mädchen übereinstimmend, dass Susi unbedingt den ersten Platz haben wollte. Warum sollte sie sich umbringen?“
Wurde sie vergiftet? Aber von wem? Wer hatte noch Zugang zu der Kabine in der sich die Mädchen aufhielten? Das sollte erst einmal geklärt werden.
Bei den weiteren Befragungen am nächsten Morgen stellte der Kommissar fest, dass fast jeder in der Kabine ein und ausgehen konnte.
Als er die Zeitung aufschlug und las, dass die Polizei immer noch im Dunkeln tappe, war es ganz aus. Er knallte die Tür seines Büros so laut zu, dass alle zusammenzuckten.
Endlich! Der Obduktionsbefund wurde telefonisch durchgegeben. Susi wurde vergiftet.
„Also, alles noch einmal von vorn“, schrie Notter seine Mitarbeiter an. „Wir beide nehmen uns noch einmal die Mädchen und deren Freunde vor“, sagte er zu Jan. „Irgendetwas stimmt da nicht und Margit soll noch einmal die Mütter und deren Umfeld befragen.“
Am Nachmittag als alle wieder im Büro versammelt waren, wurden die Ergebnisse der Befragung ausgewertet.
Margit berichtete: „Als ich nochmals mit Susis Mutter sprach, war ich überrascht, wie hysterisch sie weinte, als ich das Gespräch auf Lydia lenkte. Das ist doch komisch, findet ihr nicht auch? Dabei haben wir doch bei der ersten Befragung von einigen Mädchen gehört, dass sie Lydia nicht leiden konnte. Lydia war im ersten Durchgang auf Platz zwei. Sie war sehr beliebt bei der Jugend. Sie gab den Kindern Schwimmunterricht und war aktives Mitglied in der Jungschar. Alle liebten die bescheidene, schwarzhaarige Lydia mit ihren langen dicken Zöpfen. Vielleicht hatte Susis Mutter Angst, dass Lydia beim zweiten Durchgang den ersten Platz belegt.“
„Das ist ja sehr interessant“, sagte Notter und strich sich über seinen dunklen Bart. „Es ist nur so“, sagte er, “dass nicht Lydia tot ist, sondern Susi.“
„Vielleicht hat es die Falsche erwischt“, erwiderte Margit.
„Ich habe auch etwas Neues“, sagte Jan. „Lydias Mutter arbeitet in einer Apotheke. Das Gift könnte sie sich besorgt haben. Diese Frauen spielen doch alle verrückt, wenn es um den Sieg ihrer Töchter geht. Sie erhoffen sich eine Karriere für ihre Kinder, die sie selbst nie erreicht haben.“
„Da könnte etwas dran sein, also was machen wir jetzt“, fragte der Kommissar seine Leute.
„Wir könnten ihr eine Falle stellen“, sagte Jan.
„Ihr wisst, dass ich das nie zulassen werde. Morgen überlegen wir, wie wir weiter vorgehen“, sagte Notter, als er das Büro verließ.
„Is klar Chef“, rief Margit ihm nach und zwinkerte Jan zu. „Ich werde morgen früh zu Frau Maurer gehen und ihr auf den Kopf zusagen, dass sie die Täterin ist. Gehst du mit?“, fragte sie Jan, als sie nach Hause gingen.
„Das gibt Ärger“, sagte er und runzelte die Stirn.
Am nächsten Tag saß Lydia und ihre Mutter gerade beim Frühstück, als das Polizeiauto vor dem Fenster parkte.
“Was wollen die schon wieder“, sagte Lydias Mutter wütend. Sie schaute im Flur in den Spiegel, zupfte mit den Fingern geschickt ihre dunklen Locken zu recht und öffnete die Tür.
„Wir haben noch einige Fragen. Dürfen wir eintreten?“, fragte Margit freundlich.
Ohne lange herum zu reden schaute sie die Mutter an und sagte: „Bevor die Mädchen auf die Bühne liefen waren Sie in der Kabine, dass haben wir erfahren. Was haben Sie dort gemacht?“
„Mutti hat uns einen Vitalsaft gebracht, weil wir Lampenfieber hatten“, sagte Lydia und schaute auf ihre Mutter. Die Mutter wurde blass, sagte aber kein Wort.
„Wir haben aber keinen Saft und auch keine Gläser gefunden“ sagte Margit und schaute beide aufmerksam an.
„Die hat Mutti bevor sie ging, wieder mitgenommen“, antwortete Lydia schnell.
Margit und Jan sahen sich an. „Frau Maurer, ich nehme Sie vorläufig fest. Sie stehen im Verdacht Susi Wetzel getötet zu haben“, sagte Jan.
„Das kann nicht sein. Das muss eine Verwechslung sein“, stammelte Lydia. „Ich habe doch auch von dem Saft getrunken.“ Sie war total verwirrt. „Jetzt verstehe ich“, schrie sie Jan an. „Sie haben keinen anderen Täter und jetzt soll meine Mutter der Sündenbock sein! Sag doch, dass du damit nichts zu tun hast“, flehte Lydia.
„Was hätten Sie gemacht, wenn Ihre Tochter auch von dem vergifteten Saft getrunken hätte. Sie haben auch das Leben Ihrer Tochter gefährdet“, setzte Margit hartnäckig hinzu.
Lydia ging auf ihre Mutter zu und schüttelte sie. Die Mutter stand immer noch steif wie ein Stock im Zimmer und starrte vor sich hin.
„Dir konnte nichts passieren, ich hatte zwei Flaschen mitgebracht“, flüsterte sie. „Ich habe doch alles nur für dich getan.“
Lydia starrte ihre Mutter fassungslos an. „Für mich hättest du das nicht tun müssen. Der Sieg war mir doch nicht so wichtig. Ich habe doch nur mitgemacht, weil du es unbedingt wolltest.“
Lydia hielt sich die Hände vors Gesicht und weinte hemmungslos.
Als Jan Lydias Mutter abführen wollte, drehte sie sich noch mal um und sagte kalt: “Du bist ja so undankbar, jetzt sieh zu, wie du ohne mich klar kommst. Du wirst es im Leben sowieso zu nichts bringen.“ Lydia schaute ihre Mutter mit weit aufgerissenen Augen an. Sie war erschüttert und konnte nicht glauben was sie gerade gehört hatte.
„Und du? Du hast es doch nur für dich getan“, sagte Lydia mit stockender Stimme. „Du wolltest doch nur durch mich im Mittelpunkt stehen.“ Sie war völlig verzweifelt und brach zusammen. Erschüttert kümmerte sich Margit um das weinende Mädchen und Jan führte Lydias Mutter hinaus.
Am nächsten Tag stand in der Tageszeitung, dass die Polizei gute Arbeit bei der Aufklärung des Mordes geleistet hatte.
Lydia musste im Krankenhaus von einem Psychologen betreut werden und der Wettbewerb wurde auf das nächste Jahr verschoben.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.04.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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