Volker Winkler

Wenn morgen alles zu Ende wäre

Ich lege das Buch zur Seite und verschnaufe. Fertig. Was für eine wundervolle Geschichte. Eine Frau stand vor dem Ende ihres Lebens. So viele Dinge, die sie tun wollte, blieben ungetan, Träume blieben ungeträumt, Worte ungesagt. Es kommt viel zu früh, das Ende. Doch dann ändert sich alles. Ein Wunder geschieht, und ihr Leben geht weiter, wundervoll. Ich wische mir eine Träne von der Wange und blicke in den Sonnenuntergang über der Nordsee.
Was wäre, wenn morgen alles zu Ende wäre, wenn die Sonne heute abend hinter dem Horizont verschwindet, der Nacht ihren Platz überläßt und am Morgen nicht wieder aufgeht? Was wäre, wenn heute der letzte Tag in unserem Leben wäre?
Ich sitze auf dem noch warmen Sandstrand, direkt am Wasser. Die seichten Wellen rollen auf mich zu, brechen und ziehen sich zurück ins Meer. Der Horizont spiegelt sein rotgoldenes Antlitz in der Wasserfläche, und ich genieße die frische Meeresluft, die schwach von der offenen See heranweht.
Diese Frage geht mir nicht aus dem Kopf. Würde ich schnell nach Hause gehen, Verwandte und Bekannte anrufen, noch einmal mit ihnen reden, ihre Stimmen hören? Oder würde ich meine Verlobte schnappen und mit ihr in unser Lieblingsrestaurant gehen, wo wir soviel essen, daß wir uns nur noch rollend aus dem Lokal bewegen könnten. Vielleicht würden wir auch einfach einkaufen gehen, Dinge, die wir uns sonst nicht leisten könnten. Denn wenn es die Welt morgen nicht mehr gibt, dann gibt es auch mein überzogenes Konto nicht mehr.
Oder würde ich einfach hier sitzen bleiben. Ich würde die letzten Sonnenstrahlen genießen, würde die letzte Wärme der Sonne in mich aufnehmen und mir jeden Augenblick genau einprägen, um … ja, warum eigentlich? Wem sollte ich davon morgen erzählen, wann sollte ich mich an diesen Augenblick erinnern? Auch ich würde morgen nicht mehr sein. Ich denke darüber nach. Würde es dann überhaupt Sinn machen, hier zu sitzen, nur um des Erlebens willen? Vermutlich schon, denn Erleben ist eine Sache, die kann man im Nicht-mehr-Sein der Zukunft ab morgen nicht mehr tun.
Und so einige ich mich auf den Gedanken, man müsse, würde man hier am Vorabend des Endes unserer Welt sitzen, irgend etwas erleben. Vielleicht sollte ich ein Flugzeug nehmen. Wohin? Paris? Rom? - Afrika? Oder nur ein Rundflug – um die eigene Heimat doch noch einmal von oben zu sehen, wie ich es mir schon so lange wünsche. – Wünsche, ja, man sollte an einem solchen Abend, Wünsche und Träume und all das erleben, was man sich schon sein ganzes Leben erträumt hat. Einmal einen Rennboliden über die Piste jagen, endlich mein erstes – und vermutlich dann letztes – Buch schreiben, den neuen Thriller im Kino sehen, ach ja, Essen sollte ich auch, Nudelauflauf von meiner Verlobten, mir geht das Herz auf. Vielleicht würde ich mir auch schnell noch neue Klamotten kaufen, na wohl eher nicht. Vielleicht aber doch einen neuen Rechner, um eine schöne Flugsimulation zu spielen, oder einfach nur sinnlos mit einem Egoshooter rumballen. Ach nein, das wohl auch nicht. Aber ich würde mir meinen Kindheitstraum erfüllen – eine Eisenbahnanlage. Ich würde meine Wohnung leer räumen - wer bräuchte ab morgen denn schon noch Couch und Tisch? – und eine riesige Anlage mit einer Menge gleichzeitig fahrenden Zügen aufbauen.
Ein Gedanke stoppt mich jäh in meinen Schwärmereien. Ich blicke auf meine Uhr. So wenig Zeit bis morgen. Der kleine Zeiger bewegt sich unnachgiebig auf zwölf zu. Knapp drei Stunden noch. Eindeutig zu wenig Zeit um Flugzeug zu fliegen, Essen zu gehen, eine Eisenbahnanlage aufzubauen. Viel zu wenig. Traurig sacke ich ein wenig in mich zusammen.
Doch dann fällt es mir ein. Natürlich, morgen ist das Leben nicht zu Ende, denn morgen ist der Anfang vom Rest meines hoffentlich noch langen Lebens. Wie sonst sollte ich auch meine vielen Träume noch erfüllen können. Wie sonst sollte ich den Film im Kino sehen und trotzdem Unmengen an Zeit für den Blick auf dieses Schauspiel vor mir investieren können? Die Sonne ragt nur noch zur Hälfte aus der dunkelblauen Nordsee. Ein tiefroter Streifen weist mir den Weg zum Horizont. Jetzt weiß ich es, es ist noch viel Zeit, um all unsere Träume zu erleben, doch sie läuft uns davon. Und wenn man nicht genau aufpaßt, rast sie an uns vorbei, ungenutzt, umsonst.
Ich lächle, froh, noch rechtzeitig daran gedacht zu haben.
Als die Sonne im Meer versinkt, stehe ich auf und nehme meine Verlobte bei der Hand. Unser Lieblingsrestaurant ist das Ziel, ein wundervoller Ort, um Zeit zu genießen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.04.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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