Mark R.

Heimspiel

Heimspiel  

 

Wie fast an jedem zweiten Samstag fuhr er mit der Schwebebahn gegen halb zwölf von Oberbarmen in Richtung Stadion am Zoo. Der Wuppertaler SV lud mal wieder zum Heimspiel ein. Noch nie hatte er eins verpasst, auch damals nicht, als er diese schwere Grippe hatte. Tilly, wie sie ihn nannten, war seit siebzehnjahren Fan des Sportvereins, und zu den Spielen trug er stets das Trikot mit der Nummer zehn.

Diesmal aber sollte alles anders werden. Schon morgens hatte er ein eigenartiges Gefühl gehabt. Beim Aufstehen ist er mit seinem Knie gegen den Bettpfosten gekracht, später fiel ihm eine ganze Tasse heißer Kaffee durch die Küche. Und jetzt auf dem Weg zum Bahnhof  bemerkte er, das er sein Trikot falsch rum angezogen hatte. Das Trikot war auf links herum gedreht. Tilly blieb abrupt stehen, sah an sich herab und entschied sich spontan dafür, heute nicht in die Schwebebahn zu steigen.

Man kannte ihn, so wie er selbst viele kannte. Natürlich nicht persönlich, nur flüchtig, jeder für sich, und doch standen sie irgendwie alle zusammen. Tilly gehörte eben auch dazu, richtige Freunde hatte er aber keine. Es waren immer die gleichen im Stadion, egal wie der Club auch spielte. In der Kurve würde man ihn vermissen, wenn er mal nicht erscheinen sollte. Mehr aber auch nicht, und auch das wußte er.
Und dann so was, die geflockte Seite seinen Trikots  zeigte nach innen. "Das ist peinlich", sagte er laut vor sich hin. Sein Trikot gab im stets ein Gefühl dazuzugehören, einer von ihnen zu sein. Nur nicht unangenehm auffallen, war seine Devise. Man jubelte gemeinsam, verlor zusammen und ging doch nach jedem Spiel wieder allein nach Hause zurück. Der Fußball war sein einziges Hobby.

"Tilly, wo willst du hin?", rief Bernd, einer von vielen aus der Kurve. " Ich komme gleich", rief Tilly und bewegte sich zielstrebig in Richtung Hauptstrasse. Während er lief, versuchte er mit gekreuzten Armen, sein verdrehtes Hemd zu verdecken. Nicht auszumalen, wenn man ihn so sehen würde. Dummerweise bestiegen einige aus der Kurve dieselbe Schwebebahn zum gleichen Zeitpunkt wie er selbst. Aus diesem Grund entschied er sich erst einmal zu laufen, und bewegte sich entlang der Wupper in Richtung Barmer Innenstadt.

Der große Fluss zu seiner linken Seite war ihm bisher noch nie so richtig aufgefallen. Er war zwar immer schon da gewesen, aber irgendwie hatte er sich ihm noch nie so richtig gezeigt. Tilly ging weiter, bald passierte er die Schwebebahnstation Wupperfeld. Auch diese ließ er links liegen, er wollte weiter zu Fuß gehen. In ihm kamen Gedanken auf, wie wenig er seine eigene Stadt kannte. Täglich war er in ihr unterwegs, aber genau hingeschaut hatte er bisher wohl nicht. Seine üblichen Wege waren total eingeschränkt. Selten, ja fast nie wagte er sich in ein für ihn unbekanntes Terrain vor. Jetzt aber konnte er gar nicht genug bekommen, die frische, sogar leicht fischige Luft, die von unten heraufkam, beflügelte Tilly ein wenig.
Du hast dein Trikot falschrum an, dachte er jetzt wieder nach. " Du musst dich irgendwo umziehen", grübelte er laut vor sich hin. Tilly machte einen Schlenker, überquerte die Straße und ging geradewegs in ein griechisches Lokal hinein. " Hat der WSV verloren, oder warum trägst du dein Trikot falsch herum?", sagte ein Mann direkt vom Tresen aus. Tilly war sprachlos, seine gute Laune sofort verflogen. " Ich, äh, weiß nicht", stammelte Tilly und verließ das Lokal auf direktem Wege wieder.

Am Alten Markt angekommen, sah Tilly schon aus sicherer Entfernung, ein paar Fans des heutigen Gegners aus Düsseldorf lässig an einer Mauer stehen. Jetzt nur nicht auffallen, dachte Tilly nach. Gerade als er die Straßenseite an einer Kreuzung überqueren wollte, rief einer aus der Düsseldorfer Ecke zu ihm herüber: " Hey, hier geht es zum Spiel, hast du dich verlaufen?" -  " Einer von uns, was? Coole Idee, das Trikot falsch herum zu tragen. Wo hast Du das denn her?", sagte ein anderer. " Auch ein Bier? Bist Du gerade erst angekommen, hast Dich bestimmt auch verfahren, oder?", hörte er noch jemand anderes sagen. Tilly kam langsam etwas näher, ihm war sehr unbehaglich zu Mute. Er konnte sich unmöglich als Wuppertaler zu erkennen geben. Das wäre der sichere Tod, dachte er sofort ein wenig zynisch nach. Aber einen Düsseldorfer zu spielen, war auch nicht seine Sache. Was kannte er denn schon von dieser Stadt? Die Altstadt hatte er schon seit bestimmt fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen. Der Rhein war ihm so gegenwärtig, wie der Fluss, der durch seine eigene Stadt hindurch floss. Er kannte nichts von Düsseldorf, außer das sie das Hinspiel mit 2:0 gewonnen hatten. "Ja,ja", sagte Tilly. " Ich muss mir noch was zu essen kaufen, dann komme ich mit Euch", fügte er noch hinzu. Gerade als er gehen wollte, hielt ihm ein anderer ein Brötchen entgegen. " Komm, wir nehmen die nächste Bahn. Es wird Zeit! Nimm das und komm mit uns. Wir sind schon spät dran, eigentlich wollten wir gar nicht hier sein. Aber wir sind ein paar Stationen mit dem Zug zu weit gefahren", sagte er und stand auf. Tilly blieb nichts anderes übrig, als das Brötchen zu nehmen, und mit den anderen die Treppen hinauf zur Schwebebahnstation zu gehen. Wenn mich jetzt jemand aus der Kurve sieht, das wäre nicht gut, überlegte er mit einem sehr unwohligen Gefühl in der Magengegend. Sie waren tatsächlich spät dran. Seine eigenen Fans sollten schon längst am Stadion sein, beruhigte er sich immer wieder. " Erzähl mal, wie biste an das Trikot gekommen? Hast du dafür einen umgehauen?" , sagte ein sichtlich stark angetrunkener Typ direkt neben Tilly. " Habe ich noch vom Hinspiel, das hat wohl einer weggeworfen. Es lag auf dem Sitz in der SBahn. Ich dachte mir, so kann man es tragen", beendete Tilly seine Erklärung und war sofort auch ein bisschen Stolz auf sich selbst. Er wußte gar nicht, das er so gut lügen konnte... 

Tilly hatte Glück. Als sie am Stadion angekommen waren, war draußen vor den Toren nicht mehr viel los. Am Kassenhäuschen entschied sich Tilly dafür, nicht seine Wuppertaler Dauerkarte herauszuholen, und bezahlte in bar. Auch hier war er für seinen Blitzeinfall sehr dankbar. Nicht auszudenken, wenn seine wirkliche Identität, hier zum jetzigen Zeitpunkt, unter Berücksichtigung des Alkoholspiegels seiner neuen Freunde, ans Tageslicht gerückt wäre. Sie würden ihn lynchen, jagen und den gegnerischen Fans, ja seinen eigenen, zum Fraße vorwerfen, ging es ihm unentwegt durch den Kopf. Man führte sie in die Gästekurve, Tilly hielt sich merklich bedeckt.

Das Spiel wurde angepfiffen. Tilly schaute verhalten zu seinen Wuppertalern hinüber. Es war zu weit, um irgendwen erkennen zu können. Aber natürlich würden sie alle da sein. Er überlegte, ob irgendjemand ihn jetzt schon vermissen würde. Einige kannte er vom Namen her. Beim Bierholen rief schon mal der er ein oder andere einen Namen und die dazugehörige Bestellung hinter ihm her. Tilly ging oft Bier holen, selten nur für sich allein. Er selbst traute sich meistens nicht, eines zu fordern, wenn jemand anderes ging. Gefragt wurde er nur ganz selten einmal. "Hier, reich mal durch und nimm dir auch ein Bier", sagte Pommes. Tilly wusste seinen Namen, weil er ihn sich hinten auf seinTrikot geschrieben hatte. "Danke", sagte Tilly und reichte die Biere durch. Unglaublich aber wahr. Es blieb wirklich auch eins für ihn übrig. Das konnte kein Zufall sein, man hatte ihn mit dazu gerechnet. Das war ihm in seiner ganzen Zeit, auf der anderen Seite des Stadions, unter seinesgleichen, nur ganz selten vergönnt gewesen. So ganz allmählich verschwand Tilliy Ängstlichkeit den fremden gegenüber und wich einer leicht euphorischen Stimmung. Das Bier, das Wetter und die gute Laune, die unter ihnen herrschte, taten ihr übriges dazu. Tilly dachte während des eher mäßigen Spiels darüber nach, ob er sich jemals schon einmal beim Spiel des Wuppertaler SV so gut, so akzeptiert von all den anderen, gefühlt hatte. Er wurde selbstverständlich aufgenommen, man spendierte großzügig Bier und nahm sich gegenseitig zum singen, fluchen oder jubeln in den Arm. Hatte er jetzt etwa siebzehn Jahre auf der falschen Seite gestanden?, dachte er gerade nach, als das 1:0 für die Düsseldorfer fiel. Tilly freute sich, drei Fans fielen ihm um den Hals und erdrückten ihn fast. "Tilly, zieh mal dein Trikot aus.", rief ihm einer zu. "Wir verbrennen es.", sagte ein anderer. "Ne, lass mal gut sein", antwortete Tilly. - "Das bringt nur Unglück!", fügte er noch hinzu. " Dann schreiben wir jetzt wenigstens Fortuna Düsseldorf vorne drauf", sagte Pommes, und schon malte er dabei den Vereinswappen der Fortuna auf Tillys Brust. " So, das passt besser" , sagte er und steckte den Filzstift wieder in seine Kutte.

Tilly hatte die Seite gewechselt, einfach so. Jetzt stand er in der Kurve für die gegnerische Mannschaft und jubelte für den falschen Verein. Von jetzt auf gleich, ohne das es ihm irgendwie leid getan hätte. Im Gegenteil, er fühlte sich wohl. So muss es sein, wenn Spieler von heut auf Morgen den Verein wechseln, dachte er nach. Gestern noch bei dem, heute bei einem anderen Club. "Was solls, ist doch völlig egal für wen ich jubele", sagte er ganz leise vor sich hin und bekam dabei fast nicht mit, wie der polnische Stürmer des Wuppertaler SV den Ausgleich erzielte. Der kann morgen auch schon weg sein und für einen anderen Verein spielen, überschlugen sich jetzt Tillys Gedanken. Dann ging er die Aufstellung des WSV durch und stellte dabei fest, das die Mannschaft auch nicht wirklich viel mit Wuppertal gemein hatte. Es war eine Muti Kulti Truppe, genau wie diese jetzt hier in der Fankurve. Er war der Neue, der ohne das Wissen der Anderen eigentlich auf der falschen Seite stand. Durch einen Zufall, ein wenig Glück und ein bisschen Wohlwollen, war er in ein neues Spiel eingestiegen. Alles passte zusammen, sie hatten für heute einen neuen Spieler in ihrer Mannschaft. So lange er mitspielte, die Regeln befolgte und keinem schadete, konnte er sich auf jeder beliebigen Seite des Lebens befinden. Ganz egal ob hier im Stadion, im Beruf oder sonst wo auf dieser Welt.

Tilly nahm sich vor, in Zukunft nicht mehr so engstirnig zu denken. Das Leben bot ihm vielseitigere Möglichkeiten, als immer nur auf einer Seite zu stehen. Mit einem lächeln im Gesicht und ein wenig stolz auf seine neuen Einsichten,  verließ er das Stadion nach einem gerechten Unentschieden.

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.04.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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