Rolf Kirsch

Aus ungeklärten Gründen

Solche Dinge ereignen sich immer, wenn es besonders unpassend ist.
„Chef,“ sagte ich, „erinnern Sie sich, ich habe Sie gestern um diesen
Termin gebeten.“
„Gehen Sie schon!“ hat er geantwortet.
„Aber denken Sie an den Auftrag von Lessmann, dass der uns bloß nicht
durch die Lappen geht. Wenn Sie damit fertig sind, empfehle ich Ihnen,
noch mal bei ihm anzurufen. Der Auftrag ist Gold wert.“
...wenn Sie damit fertig sind, damit....damit...womit?

Wie kann man eine solche Angelegenheit nur als „damit“ bezeichnen? Er
steht mitten im Leben, ihn interessiert nur der Auftrag von Lessmann,
und morgen ein Auftrag von Müller und dann einer von Meier und so
weiter. Hauptsache der Laden läuft.
Dass es auch noch so heiß sein muss. Mindestens dreißig Grad da
draußen. Und dann die engen Klamotten und die Krawatte und die
engen Schuhe. Hier in der Halle ist es deutlich kühler. Als ich hereinkam,
war es im ersten Augenblick wie eine Erfrischung. Nur der Anlass erlaubt
es nicht, sich frisch und belebt zu fühlen.

Die Stühle sind wie immer hart und unbequem. Sicherlich werde ich hier
eine knappe Stunde sitzen müssen, bis alles vorbei ist. Wenn man
zwischendurch zum Aufstehen genötigt wird, beim Vaterunser etwa, wird
es eine Erholung sein für den Hintern und für die Knie. Einstweilen wird
man sitzen müssen und warten.
 
Da steht sie, die Kiste. Auf die äußerlich edle Art geschreinert, mit
sterilen und teuren Blumen geschmückt, davor die Kränze mit Schleifen.
Bettina. Deine Kinder Jörg und Mareike. Deine Mutter. Ein letzter Gruß.
Diese Blumen und Kränze verströmen einen intensiven und herben
Geruch. Der Duft wirkt genau so künstlich wie die Blumen, in
Gewächshäusern herangezogen, schnell, unerbittlich gedüngt, einem
einzigen Zwecke dienstbar: Ein letzter Gruß, drei Tage mindestens
haltbar.
 
Der Sarg. Darin liegt Frank. Tot. Vor genau einer Woche habe ich noch
mit ihm gesprochen, über dies und das, über die Arbeit, über das
bevorstehende Wochenende. Er müsse mal wieder etwas mit Bettina
unternehmen. Die Krise, die sie wochenlang beredet haben, sei fast
beendet. Vermutlich nicht durch eine Lösung, sondern durch Ermüdung,
durch ständiges Reden im Kreise. Zum Schluss: „Mach es gut.“ „Selber
auch.“ „Grüße an Bettina.“
 
Im Sarg liegt Frank. Wirklich? Der Sarg ist geschlossen. Man wird ihn
nicht wieder öffnen. Von hier aus geht es zum ausgegrabenen Loch,
rituelles Einsenken, fertig. Man wird sich nicht mehr überzeugen können,
ob Frank in der Kiste liegt oder ein anderer oder niemand. Man könnte
hier derart über den Tisch gezogen werden, unglaublich. Aber warum
sollte man so etwas tun?

Der Gedanke entwickelt sich nur, weil man das Unmögliche erhofft. Im
Sarg liegt möglicherweise jemand, den man nicht kennt. Und man sitzt
hier und verfolgt Franks letzte Reise. Aber Frank spaziert unterdessen
an einem Seeufer entlang, ist lebendig und vergnügt. Irgendwann trifft
man Frank wieder, erzählt ihm die ganze Geschichte. Frank schlägt sich
auf die Schenkel, lacht: „Das könnte euch so passen, ich lebe noch,
quicklebendig, ich gebe mir noch ein paar Jahrzehnte. So schnell noch
nicht, bitte sehr.“

Man hört geradezu seine Art zu sprechen, seine Stimme, das unentwegt
auftrumpfend Positive, diese ständige Dominanz, Einwände und
Zögerlichkeiten hinwegfegend.
Zweifellos liegt Frank im Sarg, niemand sonst, oder das, was von Frank
übrig geblieben ist. Bei meinem Anruf bei Bettina sagte sie, der
Beerdigungsunternehmer habe davon abgeraten, Frank noch einmal
anzusehen. „Behalten Sie ihn so in Erinnerung, wie Sie ihn zuletzt
gesehen haben“, hatte er gesagt. „Ich habe mich daran gehalten“, hatte
Bettina durchs Telefon seltsam teilnahmslos mitgeteilt. „Aber ich bin
unsicher“.
„Tue, was der Mann gesagt hat“, habe ich geantwortet. Ob Bettina sich
den Sarg noch einmal hat öffnen lassen? Ich werde sie später danach
fragen.
 
Was mag da in der Kiste liegen? Frank, zweifellos Frank. Aber welcher
Frank? Ein Frank, der in der Nacht von Donnerstag auf Freitag gegen
halb drei in einer leichten Kurve von der Fahrbahn abgekommen ist, „aus
ungeklärten Gründen“, so die Samstagszeitung, und seitlich gegen einen
Baum geschleudert wurde. Die Feuerwehr musste ihn aus dem Wagen
schweißen. „Der Unfallarzt konnte nur noch den Tod des Fahrers
feststellen.“
 
Eine relativ kleine Meldung auf der Lokalseite mit einem Foto eines völlig
zerstörten Fahrzeuges, vermischt mit längeren Meldungen über die
Entwicklung eines neuen Baugebietes und über die 25-Jahr-Feier
irgendeines Autohauses und anderes.
Ich habe das Foto gesehen, überflogen, „wieder so ein Idiot“ gemurmelt,
die nächste Seite aufgefaltet.
Ich hätte auf dem Foto Franks Wagen erkennen müssen. Aber nein. Es
kommen doch verlässlich immer nur Menschen ums Leben, die man
nicht kennt. „Der Arzt konnte nur noch den Tod des Fahrers feststellen“,
immer nur den Tod von Menschen, die einem gleichgültig bleiben dürfen,
deren Leben nie etwas mit dem eigenen zu tun haben. Nur dieses Mal
war es anders. Dieses Mal war es Frank, „aus ungeklärten Gründen“.
Die Kühle der Halle ist angenehm. Es kommen immer mehr Menschen
her, schlurfend, sich räuspernd, langwierig einen Platz suchend. Die
Bankreihe, die man wählt, markiert den Abstand zum Toten und zum
ehemals Lebendigen. Erste Reihe, natürlich Bettina und die Kinder und
seine Mutter. Wo ist eigentlich Jörg?

Die zweite Reihe: Irgendwelche Angehörige, allerengste Freunde. Ich
habe mit Reihe 5 eine Nähe von etwa 40 Prozent gewählt. Alle, die eine
nähere Bankreihe wählten und die mir nicht bekannt sind, machen mich
unsicher, ob ich nicht ein wenig mehr nach vorne gehört hätte. Schneller
Blick nach hinten. Die meisten kenne ich nicht. Möglicherweise
Nachbarn, irgendwelche Arbeitskollegen. Man wartet auf den Beginn der
Zeremonie. Kaum einer spricht. Scharren mit den Füßen. Irgendjemand
hustet laut.

Dieses Husten. Ob zu Beginn eines Theaterstückes, einer Oper, eines
Konzertes, in die Stille einer wartenden Menge hustet immer jemand,
vernehmlich, man kann sich darauf verlassen. Wer will sich damit
vergewissern, dass er anwesend ist, dass er durch Husten mitteilt, nicht
zur großen, schweigenden Masse zu gehören, die nichts anderes tut als
zu warten?
Es muss Spass machen, eine Menschenmenge durch Husten dazu zu
zwingen, die Existenz eines Unverstandenen zur Kenntnis zu nehmen.
Nur nicht untergehen, die Existenz unter Beweis stellen, sich unsterblich
machen für einen kurzen Moment, einen Hauch Berühmtheit erhaschen
durch einen Hustenreiz. Ein Reiz, der straflos bleibt, weil er vorgibt, die
Kehle zu reinigen.
 
Die Orgel, die nun einsetzt, klingt hell und billig. Der Anfang ist gemacht,
der Anfang eines künstlichen Rituals, dem Frank in seinem
kranzgeschmückten Sarg nicht mehr entfliehen kann. Frank wird es nicht
hören können. Frank ist jetzt in einem Zustand, in dem er vor seiner
Geburt schon Millionen und Milliarden Jahre war, ein Zustand, in
welchem ihm Saurier, Eiszeiten, Cäsar und Napoleon nichts bedeuteten.
Frank ist wieder da, wo er schon einmal war, als es ihn noch nicht gab.
Frank kann nicht mehr darüber befinden, ob es ihn jemals gegeben hat.
Eigentlich keine schlechte Situation.
Ich war schließlich auch einmal dort. Millionen und Milliarden Jahre hat
es mir nichts ausgemacht, diesen Zustand der Nichtexistenz zu haben.
Es war eine Form totaler Gleichgültigkeit. Wir alle, die wir hier in dieser
Halle sitzen, werden diese Gleichgültigkeit erneut erlangen, früher oder
später. Wir alle werden dann nicht wissen, ob wir jemals existierten und
ob es uns etwas bedeutete.
Wir alle. Das beruhigt. Wir heißt: nicht ich allein. Wir heißt: ich auch.
Auch. Demnächst ich auch. Auch heißt: Vorher bitte noch ein paar
andere.
 
Der Pfarrer kommt. Mit seinen Händen weist er darauf hin aufzustehen.
Eine gute Gelegenheit, den Hintern zu entlasten und die Beine
auszuschütteln, unmerklich. Unser Körper ist es, der uns zu schaffen
macht. Er quengelt hier und quengelt da. Dauernd muss man sich mit
seinen Unzulänglichkeiten abfinden, unerträgliche Hitze im Sommer
aushalten, im November einen Schnupfen kurieren. Die Müdigkeit des
Abends ertragen, die uns zwingt, diesen Körper für einige Stunden zur
Ruhe zu bringen, damit es am anderen Tag wieder unbeschwerter weiter
gehen kann.
Und das sind nur Kleinigkeiten. Größere Mängel müssen operiert oder
mit monatelanger Zufuhr von Medikamenten behoben werden, falls es
überhaupt gelingt.
Franks Körper war nicht stabil genug, den Aufprall seines Wagens gegen
diese Buche zu überstehen. Franks Körper wurde ausgeschaltet.
Schluss, aus. Ist genug jetzt. Einige überlebenswichtige Teile sind zu
sehr beschädigt. Wir schalten ab, vielleicht noch ein paar Sekunden auf
Standby, um Frank mitzuteilen, dass die Zeit der Trennung gekommen
ist. Danke, war schön, wir hatten viel Spaß zusammen. Hätte gerne noch
ein paar Jahre weiter gemacht, aber wie gesagt, diese Buche.
Aha, wieder setzen.
 
Wer hat eigentlich vor langer Zeit diese Buchecker genau an dieser
Stelle in die Erde gebracht, nur zu dem Zweck, damit ein oder zwei
Jahrhunderte später Franks Wagen an diesem Baum zerschellt? Zu
diesem Zweck? Welchem Zwecke war sie sonst noch geweiht? Hatte
diese Buche 150 Jahre nur auf Franks Wagen gewartet?
Wurde Frank durch einen entgegenkommenden Wagen geblendet?
Hätte er auch langsamer durch diese Kurve fahren können? Oder ein
wenig später oder früher bremsen können? Ein wenig mehr oder weniger
einlenken können?
Vermutlich hätte diese Buche dann vergeblich gewartet. Sein Wagen
wäre rechts oder links an dieser Buche vorbei geschleudert, hätte einen
einfachen Weidezaun durchbrochen, sich in der offenen Wiese mehrere
Male überschlagen. Frank hätte sich aufgerappelt, sich gewundert,
seinen Körper auf Schmerzsignale abgefühlt, wäre aus dem Wagen
gestiegen, hätte seinen Wagen schließlich auf Beulen untersucht.
Frank hätte geflucht, den Schaden an seinem Auto auf ein paar Tausend
beziffert, wiederum geflucht, einen Blick auf die Buche geworfen, die
aufgewühlte Erde neben der Buche taxiert, gemurmelt: „Alles in allem
noch einmal verdammtes Glück gehabt.“
 
Vielleicht säße ich in diesem Falle nicht hier, sondern in Franks
Wohnzimmer. Er hätte eine stabilisierende Halskrause um seinen
Kragen. Er würde schimpfen, dass er dieses Ding leider noch eine ganze
Zeit tragen müsse, sich darüber beschweren, dass die Dinge mit der
Versicherung auch nicht so problemlos liefen wie erwartet. „Aber die
Prämien sind immer – zack – abgebucht.“
So hätte es auch geschehen können. Aber da Franks geschundener
Körper da vorne in der Kiste liegt, ist es – unwiderruflich – anders
gekommen.
 
So, wie etwas geschehen ist, lässt es sich immer nachher als absolut
vorher bestimmt bezeichnen. Von der Möglichkeit, dass an dieser Stelle
gar keine Buche steht, weil vor einhundert oder zweihundert Jahren
diese Buchecker dort gar nicht keimte, sondern wegen vieler
Regenwochen hinweg geschwemmt wurde, bis zu der Möglichkeit, dass
Frank in dieser Nacht nicht unterwegs war, sondern in seinem Bett
gelegen hätte, gäbe es viele Möglichkeiten, die Franks Existenz heute
noch gesichert hätten.

Was sagt der Pfarrer gerade?„....der Herr in seinem Ratschluss....“?
Von wegen „Ratschluss“. Der Zufall, der blinde Zufall hat Franks Leben
beendet. Der gleiche Zufall, der sein Leben begründet hat. Der Zufall,
der das Leben aller hier, meines auch, begründet hat und der Zufall, der
diese Leben beenden wird wie meines.
Im Januar wird eine neue Statistik erscheinen. „Im vergangenen Jahr
konnten wieder weniger Verkehrstote verzeichnet werden als im Jahr
davor, obwohl 9 Prozent mehr Kraftfahrzeuge zugelassen wurden.“
Dieses Mal war Frank dabei.

Franks Leben ist zwar beendet, sein Tod aber nicht, zumindest nicht
statistisch. In irgendeiner Rubrik lebt sein Tod fort. Was mag es da
geben? Blechschäden? Verletzte? Unfalltote? Suizidverdacht?
Geisterfahrer? Kreuzungsbereiche? Autobahnen? Bundesstraßen?
Landstraßen? Aus ungeklärten Gründen?
Im Statistikamt stellen Computer und Menschen diese Tabellen
zusammen, lassen Grafiken erstellen, beschreiben vermutete
Zusammenhänge, werten aus. Franks Tod erhöht irgendeinen Wert um
eins und lässt die Diagrammsäule „Aus ungeklärten Gründen“
geringfügig anwachsen, kaum wahrnehmbar. Der Zufall, nicht
vorhersehbar, wenigstens nachträglich eingefangen in einem
Statistikwert.
 
Vor zwei Wochen etwa habe ich ihn gefragt, ob etwas mit ihm sei. Er
wirkte fahrig, unkonzentriert, ein wenig hektisch, humorlos. „Frank, hast
du 'was?“
„Nicht der Rede wert. Ein paar Probleme mit Bettina. Kommt in den
besten Familien vor. Wird schon wieder!“
Das war Frank. Immer nur die Aktiva des Lebens sind von Bedeutung.
Alles wunderbar.
„Jörg hat sein Abitur gemacht, mit 1,6.“
„Mareike hat ihren Führerschein, mit der geringsten Anzahl an
Fahrstunden, die möglich ist.“
„Wenn Schlösser in den Außendienst geht, hat mir der Chef seine Stelle
versprochen. 'Sie sind er Einzige, den ich dafür vorgesehen habe', hat er
gesagt.“
„Ich habe vor zwei Wochen eine Prämie bekommen. Mehr als ich
dachte, viel mehr.“
Immer nur die Aktiva.
„Den Wagen ungeheuer günstig bekommen. Mächtig herunter
gehandelt.“
„Erfolgreiches Gespräch mit der Bank, sie haben die Hypo-Zinsen noch
einmal um 0,3 gesenkt. Waren aber ohnehin schon ziemlich unten.“
„Ich denke daran, einen Segelbootschein zu machen.“
Die Aktiva waren es, die Frank bestätigten, dass er existierte. Die Aktiva
waren seine Hustenreize. Seine Aktiva gaben ihm die Rolle, seine Bühne
waren wir.

Da er aus ungeklärten Gründen auf die Welt gekommen war und aus
ungeklärten Gründen wieder verschwand, wollte er wenigstens
zwischendurch uns gegenüber, die wir auch aus ungeklärten Gründen
existierten, einen Hauch von Sinn erzeugen.
„Schaut, weswegen ich da bin, schaut auf meine Aktiva.“
Und die Passiva?
„Hätte Mareike nicht in diesem Jahr ihr Abitur machen sollen?“ - „Was,
Mareike? Nein, erst im nächsten Jahr. Ehrenrunde in der Mittelstufe,
habe ich dir das nicht gesagt? Wie Einstein. Kommt in den besten
Familien vor.“
„Nicht der Rede wert. Ein paar Probleme mit Bettina. Kommt in den
besten Familien vor. Wird schon wieder! - Wenn es wichtig wäre, würde
ich mit dir darüber reden, nur mit dir.“
Die Passiva waren die Stolperer und Versprecher im Bühnenprogramm.
Nicht der Rede wert. Kommt in den besten Familien vor.

Wo war Frank in der Nacht von Donnerstag auf Freitag? Sein Beruf
erfordert keine nächtlichen Aktivitäten. Welchem warmen Bett ist er
entschlüpft, um mit schlechtem Gewissen - und daher ein wenig zu
schnell - heimwärts zu rasen?
War es das? Gehörte zu seinen Aktiva schließlich auch noch eine kleine
Freundin, die kompensieren sollte, das Bettina immer mehr Teil des
Alltags wurde, unverschuldet. Ein junges Mädchen, welches die Aufgabe
hatte, ihn auch auf diesem Terrain zu bestätigen, nachdem alle anderen
Bereiche der Bestätigung sondiert waren? Eine kleine Freundin, die
neben der erwarteten unkomplizierten Affäre allmählich begann, sein
Leben in Unordnung zu bringen, sein Gewissen belastete, sein Verhalten
veränderte, sein Verhalten so veränderte, dass Bettina die
Empfangsleistung ihrer ohnehin sensiblen Antennen steigerte?
 
Ich habe nicht die geringste Ahnung. Was unterstelle ich einem Toten,
der sich nicht mehr wehren kann? Wie stehe ich eigentlich zu Frank?
Hallensitzreihe etwa 40 Prozent. Macht 60 Prozent freundschaftliche
Nähe. Mehr nicht. Dass man das in Prozenten ausdrücken kann. Null
Prozent – der Kerl ist mir gleichgültig, 100 Prozent – ich kann nicht ohne
ihn leben.
Derzeit 60 Prozent. In der nächsten Zeit wird dieser Prozentwert
heruntergefahren. Frank wird in der Erde liegen und einer Zukunft
zugeführt, die nichts mehr von ihm erwartet. Die Erde wird sich auf ihre
gleichgültige Art um seinen Körper kümmern. Langsam, sehr langsam,
aber unaufhaltsam.
 
Wir, die Lebenden, werden uns von Frank trennen. Bettina wird in
einigen Jahren sicherlich einen neuen Partner - blödes Wort – zum
Leben finden. Ich werde Bettina, die ich nur deshalb kannte, weil ich
Frank kannte, aus den Augen verlieren. Es wird zufällige Begegnungen
geben.
„Hallo Bettina, sieht man dich auch mal wieder, wie geht es denn so?“ -
„Ach, das Leben ist weiter gegangen, Mareike ist jetzt.....und Jörg macht
gerade.....“ - „Grüß Sie von mir...“ - „Ja, gerne, werde ich ausrichten...“
Sie wird es nicht tun. Sie wird die Kinder beim Einsammeln ihrer
Trophäen nicht durch dahin gesagte Grußworte stören. Recht so. Ganz
im Sinne von Frank.
 
Aufstehen. „Vater unser, der du .....ach ja, da du gerade angebetet wirst,
ich hätte einige Fragen.“
Dabei war es noch niemals nützlich, Fragen an ihn zu richten, Fragen
wie: „Warum hat Frank gelebt? Warum ist er wieder gestorben? Was ist
mit allen anderen, die bislang gestorben sind, an Hunger, an
Krankheiten, an Unfällen, an Kriegen, an Katastrophen? Warum haben
sie erst einmal gelebt, in nicht wenigen Fällen nur wenige Tage,
Wochen, Monate?“
Er ist immer stumm geblieben.
Weil es ihn niemals gegeben hat? Oder weil er vor Milliarden Jahren als
kalter Weltgeist das Universum angeschoben hat und nun nichts
anderes tut, als die Wirkung seiner Tat zu beobachten, nicht mehr
eingreift? Weiß er schon, an welchem Tage ein aus der Bahn
gekommener Asteroid unseren Planeten trifft und jedes Spiel beendet?
Wie wäre es mit diesem Gebet?
 
Vater unser
der wir dir
und deinesgleichen
Totempfähle, Statuen, Kirchen und Moscheen
errichtet haben
um unserem Leben
Kraft, Herrlichkeit
und Sinn
zu schenken,
dein Reich komme.
 
Vater unser
der wir dir
und deinesgleichen
Rollen und Schriften gewidmet haben
um unserer Hoffnung
Nahrung zu geben
ein kleiner Teil
eines großen Planes
zu sein,
dein Wille geschehe.
 
Franks Sarg wird durch den Mittelgang geschoben. Bettina, seine Mutter
und Mareike folgen, ernsthafte Mienen, gefasst, unmerklich prüfend, wer
der Einladung zu Franks Heimgang – kein unpassendes Wort –
nachgekommen ist. Wo ist eigentlich Jörg?
Wir anderen reihen uns ein, verlassen die kalte Trauerhalle. Draußen
empfängt uns die Sommerhitze, wärmt uns Lebendige die ausgekühlte
Haut wieder auf, nur uns noch Lebenden.
Wir folgen Frank bis zu seinem Erdloch. Für uns alle wird es eines Tages
ein Erdloch geben, das uns aufnimmt, unsere Suche beendet, die Aktiva
des Lebens, die wir gesammelt haben, zurück lässt, der Erbmasse
zufügt. Es war eine schöne Zeit.
 
Vater unser
der wir dich
und deinesgleichen
erfunden haben
aus Angst
zu leben
und zu sterben
aus unbekannten Gründen,
erbarme dich unser.
 
Ich werde noch drei Schaufeln Erde auf Franks Sarg werfen, Bettina,
seiner Mutter und Mareike die Hand geben, irgend etwas murmeln.
Es wird Zeit, dass ich Lessmann anrufe. Der Chef hat recht, der Vertrag
ist Gold wert. Er sollte uns wirklich nicht durch die Lappen gehen.

....auch als Slidebook verfügbar auf der HP des Autors

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.04.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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