Pavel Hulka

Der Würfler

Er stand vor dem grünen Tisch und schüttelte die rechte Faust. Die Würfel brannten in seiner Handfläche wie glühende Kohle.
Sein Blick war auf die hintere Wand des Tisches gerichtet und seine Schüttelbewegung wurde immer schneller.
Ein leises Klappern der Würfel war zu hören.
Er fühlte, die Würfel wollen jetzt raus.
Aus dem Handgelenk warf er sie gegen die Kopfwand des Tisches und verfolgte sie mit seinem Blick.
Die Würfel prallten gegen die Wand und kamen nach ein paar Sekunden zum Stillstand.
Im ganzen Raum war es still und alle Anwesenden starrten auf die drei roten Würfel mit ihren schwarzen Augen. Die Würfel sind gefallen.
Dieses Spiel hat er verloren. Totenstille herrschte im Raum.’

Immer wieder sah David diese Szene vor seinen Augen, als er wie jeden Freitag in den  letzten sechs Monaten um diese Zeit nach Hause ging. Es war drei Uhr früh, die Straße war menschenleer, nur die Müllmänner taten ihren Job, sie spielten nicht.
Sie hoben die Mülltonnen auf die Müllwagen und ließen sie wieder mit Gepolter auf die Kopfsteinpflastersteine fallen. Um die Nachtruhe kümmerten sie sich nicht.
Die Schatten der Bäume gaben der Straße eine gespenstische Atmosphäre. Der Himmel war dunkelgrau und nur einige Fenster waren beleuchtet.

David überquerte die Straßenkreuzung und ging in den kleinen Park. Immer, wenn er sich nicht wohl fühlte oder wichtige Entscheidungen treffen musste, kam er hierher. Er mochte die großen uralten Bäume, die vielen Pflanzen, die um jedes Fleckchen  Erde und um jeden Sonnenstrahl rangen. Er mochte es unter den Bäumen zu sitzen und bei seinen Überlegungen das Rauschen der Blätter über sich hören.

Seine Bank war frei. Sie stand unter einer großen zweihundertjährigen Linde, die ihm schon oft Schutz vor Regen und Sonne gab und sie war als einzige in diesem Park rot lackiert.
Wie seine Würfel.
Viele Besucher dieser Bank haben verschiedene Schnitzereien in den schmalen alten Latten hinterlassen. Kleine Herzchen mit Namen haben sie reingeschnitzt, „Ich liebe Dich“ stand auf einer der roten Latten und sein „Wurf der Sieben“ war am Rande der Bank auch noch zu sehen.
Er hat es vor sechs Monaten gemacht.

David setzte sich hin, nahm seine rechte Hand aus der Manteltasche und sah sich seine geschlossene Faust an.
Er sah die letzten sechs Monate in seiner Faust.  Wie in einem Film liefen die bunten Bilder an seinen Augen vorbei.

Harmlos fing es an. Mit einem Spielchen aus Neugierde. Nach einem Monat war er schon der König unter den Spielern. Das Würfelspiel war sein Spiel, es wurde seine Leidenschaft und er hatte Glück.
Überall wo er auftauchte, klopfte man ihn auf die Schulter: „Du bist der Größte unter uns".
Geliebt und geachtet war er.
In den drauffolgenden Monaten tat er nichts anderes als spielen. Nacht für Nacht.

Die Spielleidenschaft ist so groß geworden, dass er nach zwei Wochen seinen Job kündigte. Seine Frau packte nach vier Wochen ihre Koffer und verließ ihn mit dem 7-jährigen Sohn.
Das hat ihn sehr getroffen. Tagelang fühlte er sich wie ohnmächtig. Schlief nicht, trank sehr viel und spielte die ganzen Nächte durch. Und er gewann.
Er gewann fast jedes Spiel und sehr viel Geld, das er nicht sinnlos ausgab, nur für das Notwendigste. Den Rest stopfte er in eine Kiste, die er in seiner Wohnung aufbewahrte.
Er zählte es nicht, er stopfte jedes Mal seinen Gewinn rein und machte die Kiste wieder zu.
Es interessierte ihn nicht, wie viel Geld drin war.
Irgendwann werde er es nachzählen und drüber nachdenken, was er mit dem Geld macht.
Das Spiel war seine Leidenschaft, nicht das gewonnene Geld.
Die  Atmosphäre herum, die Spannung vor dem Wurf, die Spannung im Raum bei den Zuschauern, das Warten bis die Würfel zur Ruhe kommen, und zuletzt die Erkenntnis; gewonnen oder verloren zu haben.
Was oder wie viel er im Spiel gewann, interessierte ihn nicht.

Er war frei, konnte machen, was er wollte. Keine Ausreden mehr, keine Rechtfertigungen mehr.
In diesen Monaten führte er ein turbulentes und sorgloses Leben.

Das Leben wäre wohl weiter so gegangen, wenn es die letzte Nacht nicht gegeben hätte.
Als David den Raum betrat, ist es ihm gar nicht aufgefallen, dass eine besondere Stimmung  herrschte.
Der Raum knisterte vor Spannung. Niemand sprach ihn laut an, es wurde nur flüsternd gesprochen, dass er gekommen ist. Niemand klopfte ihm heute auf die Schulter. Alle schauten ihn neugierig an, versuchten in seinem Gesicht die Spuren von Nervosität und Angst zu entdecken.

Während er seinen Mantel auszog, ließ er seinen Blick durch den Raum wandern und stellte mit Zufriedenheit fest, dass er Gesichter sah, die er gerne bei seinen Spielen zugegen hatte.
Er kannte den heutigen Einsatz um den er spielen musste. Es erschreckte ihn nicht, als er es vor einer Woche erfuhr, seine Zuversicht in das Spiel ließ ihn nicht daran zwieifeln, dass er gewinnen werde, wie immer.
Für ihn war es ein Spiel wie jedes andere.

Die ganze Bedeutung ist im erst später klar geworden. Nicht als er die gefallenen Würfel sah und feststand, dass er dieses Spiel verlor, sondern erst als er zu Hause saß, seinen Whisky trank und seine Zigarette rauchte. Da ist ihm bewusst geworden, um was er gestern spielte und was er verlor.

Seit vierundzwanzig Stunden verfolgte ihn das Bild der drei Würfel mit ihren schwarzen Augen auf dem grünen Spieltisch. Dem einzigen Platz, an dem er sich sicher und geborgen fühlte.
Dort wurden keine großen Anforderungen an ihn gestellt und er fühlte sich wohl. Er  wusste schon seit längerem, dass das Spielen ihn zerstört und dennoch hatte er gleichzeitig dieses Gefühl des Aufgehobenseins.

So saß David auf seiner Bank, sein Blick immer noch auf seine Faust gerichtet.
Die Gedanken kreisten ständig um die Frage, „was macht er jetzt?", löst er seinen gestrigen Einsatz ein oder nimmt er seine Paar Sachen und verschwindet aus diesem Land.
Er konnte sich nicht entscheiden.
David hob den Kopf und sah einen alten Mann, der auf ihn zuging und direkt vor ihm stehen blieb. Der alte Mann schaute ihn lächelnd an und begann ohne Guten Tag zu sagen  mit ihm zu sprechen.

„Ich wusste, dass du heute hier sitzen wirst“, sagte er mit  ruhiger Stimme
„Ich beobachte dich schon seit langem, wie unruhig du bist und nach einem Ausweg aus deiner jetzigen Situation suchst",  fuhr er fort und ließ seine Augen nicht von den seinen.
„Du hast seit gestern ein großes Problem und weißt  nicht, wie du es lösen sollst, stimmt das?"
Er schaute den alten Mann erstaunt an und versuchte sich an den gestrigen Pulk von Menschen zu erinnern, die ihm beim Spielen zusahen. Es waren nicht viele, er kannte sie alle. Dieser alte Mann ist nicht dabei gewesen. Woher wusste er von dem gestrigen Spiel?
Hat es ihm jemand erzählt?
Der alte Mann sah ihn an.
„Gestern Nacht hast du nicht geschlafen, du hast die ganze Zeit in deinem Zimmer am Tisch gesessen, trankst Whisky, hast viel geraucht und überlegt, was du jetzt machen sollst.“
David schaute hoch und überlegte: ‚Das kann niemand wissen, ich war dieser Nacht allein.’
„Wer bist du?“ fragte er den alten Mann.
„Weit hast du es gebracht“, fuhr der alte Mann fort, ohne auf seine Frage zu reagieren.
„Du hast viel Geld gewonnen, das du sinnlos in eine Kiste stopfst. Du weißt gar nicht, wie viel Geld das ist und du könntest dir vieles dafür kaufen und vieles Gutes damit tun. Aber was ist mit deinen alten Freunden, mit deinem Sohn und mit deinen Eltern? Die hast du alle verloren.
Und nach dem gestrigen Spiel, in dem du endlich mal verloren hast, hast du sogar einen Teil von dir selbst verloren. Was hast du dir dabei gedacht? Du hast es nicht ernst genommen, du warst im Spielrausch ohne drüber nachzudenken, welche Folgen das Spiel für dich haben kann. Hast du es für einen Spaß gehalten und jetzt sind dir die Leute auf den Fersen und du weißt nicht wohin mit dir. Deine Gedanken sind durcheinander und du weißt nicht, was du tun sollst. Weglaufen oder sich dem Problem stellen. Dich als einen ehrlicher Spieler zu bestätigen, der bereit ist die Konsequenzen seiner Leidenschaft zu tragen. Es ist keine leichte Entscheidung, die du treffen musst. Beende sie so, wie du dein Leben in der letzten Monaten gelebt hast und mach dem allem ein Ende, mein Sohn.“

Die zwei Wörter trafen David wie ein Blitz.
Diese zwei Wörter und der Tonfall der Stimme, die jetzt auf einmal ganz anders klang.
Er drehte sich um und sah den alten Mann an.
Nein, es ist nicht sein Vater, es kann nicht sein Vater sein, denn sein Vater wird seit Jahren vermisst.
Aber diese zwei Wörter und die Stimme; so sprach ihn immer sein Vater an. David liebte seinen Vater. Seine Ratschläge waren sehr oft ein bisschen verschlüsselt gewesen, regten zum Nachdenken an, sie haben ihm so oft in seinem Leben geholfen.

David saß da, nach vorne gebeugt und starrte auf seine geschlossene Faust. Es war ihm, als ob er Schritte hören würde. Sie entfernten sich und langsam verschwand das Geräusch, bis es ganz still um ihn wurde.
Der alte Mann war fort. Nur die zwei Wörter klangen David noch im Ohr: „Mein Sohn“

David machte eine kurze, schwungvolle Handbewegung und ließ die Würfel auf den Boden fallen. Sie zeigten ihm wieder, dass er dieses eine Spiel verloren hatte, so wie gestern, die gleiche Augenzahl. Er schaute genau runter auf den Boden, sah das Bild der drei Würfel an und zählte noch mal die Augen.  An der Zahl gab es keine Zweifel.

Seine Entscheidung ist getroffen.

Er wollte sich bücken um die Würfel aufzuheben, aber er ließ es. Er brauchte sie nicht mehr.
Hastig nahm er seine Tasche, blieb vor den Würfeln stehen, zog mit dem Absatz seines Schuhes ein Herz  um die gefallenen Würfel und ging in Richtung Krankenhaus.

Mal sehen, wie ich mit einer Niere leben kann, dachte er, als er die Eingangstüren des Krankenhauses aufstieß. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.05.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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