Christina Göllner

Der Baum des Lebens


Es war ein wirklich alter Baum. Seine Rinde war rauh und hatte tiefe Furchen, seine Wurzeln waren stark und kräftig.
Jedes Mal kam er hierher, wenn er Probleme hatte, oder einfach nur Zeit für sich brauchte...
... Es hatte etwas Beruhigendes, diesen alten Baum zu sehen, ihn zu berühren, die Narben zu fühlen, die ihm die Zeit zugefügt hatte, ihn trotz eines Sturmes, der mit aller Macht wütete, fast unberührt hier stehen zu sehen ...
Sanft, als hätte er Angst dem Baum einen Schaden zuzufügen, strichen seine Finger über die Rinde. Ein leichter Sommerwind ließ die Blätter im Takt tanzen. Es roch gut nach frisch geschnittenem Rasen ...
 „Ich wünschte, ich wäre wie du!" hauchte er dem Wind entgegen. Er schloss die Augen und atmete tief ein. Vor seinem inneren Auge entstand das Bild eines Sturmes, der dem alten, kräftigen Baum mit aller Macht drohte, an seinen starken Wurzeln zerrte, seine Äste hin und her warf. Er sah auch, wie der Sturm sich resignierend verzog und der Baum, mit der ein oder anderen Narbe mehr, noch immer herausfordernd in den Himmel ragte.
Noch einmal sagte er: „Ich wünschte, ich wäre wie du!"
 
Mit diesem alten Baum, den er schon so oft besucht hatte, fühlte er sich auf eine unerklärbare Weise verbunden. Er hatte Achtung vor seiner Stärke und Größe, vor seiner Unverfrorenheit, vor seiner Widerspenstigkeit. Jeden Regen, jeden Sturm, jeden Schnee musste der Baum über sich ergehen lassen, und jedes Mal büßte er einen seiner schönen Äste ein, doch stand er auch jedes Mal, fast unberührt von dem Verlust, in alter Pracht am selben Ort.
Er selbst fühlte sich furchtbar klein und schwach, unfähig seine Probleme zu lösen ...
... So vieles war in seinem Leben schon schief gegangen, viel zu früh hatte er die Schule abgebrochen und sich für einen Beruf entschieden, von dem er meinte, viel Geld zu ernten. Ziemlich schnell hatte er gelernt, dass ihn dieser Beruf niemals glücklich machen konnte, und von da an beherrschten Lustlosigkeit und Gleichgültigkeit sein Leben. Das war es wohl, was seine Eltern endgültig veranlasste, sich von ihrem Sohn abzuwenden. Sie konnten keinen Sohn gebrauchen, der ihrem Ansehen schadete. Insgeheim hatten seine Eltern ihm immer die Schuld daran gegeben, wenn in ihrem Leben etwas nicht ganz nach Plan verlief ...
... Er war ein Unfall gewesen, und seine Eltern hatten ihn das oft genug zu spüren gegeben. An Abtreibung war gar nicht zu denken, als seine Mutter ihren Eltern mit knapp achtzehn Jahren beichtete, dass sie schwanger sei.
Schon als er klein war wusste er nicht, was ihn mehr schmerzte, die Schläge seines Vaters, oder die verachtenden Blicke und Worte seiner Mutter ...
... Irgendwann hatte er dann seine jetzige Frau kennengelernt, er liebte sie, und sie liebte ihn auch, dass wusste er - sie erwarteten ein Baby. Endlich meinte es das Leben gut mit ihm, endlich hatte er etwas, was nicht schief ging, endlich hatte er seinen Weg gefunden. Endlich wollte er sein Leben wieder in die rechten Bahnen lenken. Er hatte seine Ziele aus den Augen verloren, sich einfach treiben lassen, und damit sollte jetzt Schluss sein!
Aber sein Chef hatte seine Lügen satt, wollte seine Versprechungen nicht mehr hören, hatte genug von seiner Faulheit ...
 > Fristlos gekündigt < die Worte seines Chefs geisterten durch seinen Kopf ...
... Wie sollte er das seiner Frau erklären? Wie sollte er das Geld für Miete und Familie aufbringen? Und das Baby ... ? Was würden die anderen sagen? 
 
Er konnte sie schon hören, ihre bemitleidenden Blicke auf sich spüren, aufmunternde Worte, verachtende Gedanken...
Am liebsten würde er abhauen - einmal in seinem Leben passiert ihm etwas wirklich Gutes, und er macht es gleich darauf wieder zunichte.
Wieder blickte er dem Baum empor und dachte, wie jämmerlich er doch war, er hatte eine Frau, und bald ein Kind, und ihm fiel nichts besseres ein, als übers Abhauen nachzudenken. Als er in die Krone des Baumes starrte, sah er, wie dieser sanfte, sommerliche Wind einen kleinen Ast abknickte, ganz ohne Mühe. Auch ohne diesen Ast stand der Baum groß und mächtig vor ihm, bloß eine kleine, helle Stelle erzählte von dem Verlust. Eigentlich, dachte der Mann, kann selbst ein abgebrochener Ast diesen alten Baum nur schöner machen...
Es war dieser eine Gedanke, der ihn hellhörig machte. Er horchte in sich hinein und plötzlich war da noch ein Gedanke, ein Gefühl ...
... Zwischen dem Baum und dem Leben, welches er führte, waren Parallelen, nein, sie waren vielleicht nicht da, aber man konnte sie ziehen. Dieser Baum musste schon so viel mitmachen, positives, wie negatives - genau wie er. Auch hatte der Baum schon so manchen Ast verloren, so wie er schon so manches Schicksal erleiden musste. Der einzige Unterschied war eigentlich der, dass der Baum nicht weglaufen konnte, wenn der Sturm nahte, und so alles was geschieht, erdulden musste. Dennoch wehrte er sich, indem er immer wieder neue Äste bekam, die stärker und mächtiger waren als ihre Vorgänger.
Der Mann legte seine Hände auf den klobigen Stamm des Baumes, ganz plötzlich wusste der er was zu tun war. Er würde mit seiner Frau reden, alles daran setzen, einen neuen Job zu finden, vielleicht würde er sogar seinen Abschluss nachholen, oder ein eigenes Geschäft eröffnen. Mit einem Mal sah er in seinem Verlust eine Chance, Euphorie ergriff ihn, er hatte wieder Ziele, neue, bessere Ziele. Er sah jetzt alles aus einer ganz anderen Perspektive, wie ein Vogel auf einem Baum ...
... Er wusste, dass der Anfang schwer sein würde, er wusste auch, das der Baum noch so manchen Ast verlieren würde.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.05.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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