Felix M. Hummel

Spross der Wahrheit

   
Ein kalter Schlag gegen die Stirn riss Thomas aus seinem unruhigen Schlaf. Mit einem müden Stöhnen warf er den Kopf herum, in der Hoffnung festzustellen, wo er sich befand. Er versuchte verwirrt die verschwommenen Farben und Lichter vor seinen Augen einer vertrauten Umgebung zuzuordnen, es wollte ihm jedoch nicht gelingen. Erst als er sich, schon halb in Panik geraten, die Augen rieb, fand er seine Orientierung wieder.
Die Luft im Abteil war heiß und stickig, die Heizlüfter schnarrten trotz der Frühlingstemperaturen ohne Einlenken vor sich hin. Der Geruch seines eigenen Schweißes und die Mischung aus Urin und chemischer Zitrone der nahen Toilette auf dem Gang, sorgten dafür, dass er trotz seines knurrenden Magens nur mit Ekel auf die eingewickelten Brote in seinem Rucksack blicken konnte.
Auf den beiden Sitzen gegenüber hatte sich Gabi ausgestreckt. Die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf gegen das schmierige Fenster gelehnt schlief sie dort. Jedes Mal, wenn der Zug scheppernd über eine Naht in den Schienen sprang, nickte sie unwillkürlich, ihr Gesicht wirkte dabei jedoch so ernst, dass man den Eindruck hätte bekommen können, die Fahrt gefiele ihr ganz und gar nicht.
Thomas hätte ihr das nicht übel nehmen können. Wenn es nach ihm gegangen wäre, würden sie nicht einmal Weihnachten nach Hause zurückkehren. Aber Gabi hatte darauf bestanden und auch er hatte es wohl verstanden, dass sie nun, wo sie sich doch quasi verlobt hatten, ihren jeweiligen Eltern einen Besuch abstatten sollten. Es war ja nicht so, als hätte Thomas kein gutes Verhältnis zu seinen Eltern gehabt, nein, er war für sie immer fast so etwas wie ein Musterknabe gewesen, wie er selbst, etwas verlegen, zugeben musste. Er mochte und respektierte die beiden alten Leutchen. Auch Gabis Vater, den er schon seit Kindertagen als alleinerziehend, gutmütig und chronisch mit seiner Tochter überfordert kannte, konnte er gut leiden. Es war etwas anderes, das er an seinem zu Hause verabscheute.
Thomas und Gabi waren schon gemeinsam im Kindergarten gewesen, hatten irgendwann im Gymnasium bemerkt, dass sie mehr als nur eine Freundschaft verband und nach dem Abitur -und nachdem sich Thomas erfolgreich um Wehr- und Zivildienst gedrückt hatte- beschlossen sie gemeinsam zu studieren. Geschichte war dabei keine wirkliche Herzensentscheidung gewesen, mehr ein kleinster gemeinsamer Nenner. Sie konnten nicht einmal genau sagen, wie sie darauf gekommen waren, keiner von beiden hatte sich je überhaupt dafür interessiert. Nun schien es aber genau in eine Lücke zu passen, von deren Existenz sie zuvor nicht einmal gewusst hatten.
Schon wenige Tage nachdem sie von zu Hause ausgezogen waren, fühlte sich Thomas, als wäre eine Last von seinen Schultern genommen. Zuerst glaubte er, es sei so, weil er endlich mit Gabi zusammen leben konnte, aber diese Erklärung befriedigte ihn schon bald nicht mehr. Er verglich das Gefühl damit, als sein man lange gegen eine starke Strömung angeschwommen und daraufhin ganz überrascht, wie leicht und ungebremst man sich außerhalb des Wassers bewegen konnte. Als er sich endlich überwunden und Gabi davon berichtet hatte, überraschte sie ihn damit, dass sie etwas ähnliches zu beschreiben wusste. Sie hatte davon gesprochen, dass es ihr so vorkomme, als habe sie ihr ganzes Leben bisher mit einem tiefen Brummen im Kopf gelebt und dies erst durch sein Verschwinden bemerkt.
Thomas kam es so vor, als müsse er jedes Mal, wenn er nach Hause zurückkehrte, seine Last erneut aufnehmen. Gabi schien es nicht so schwer zu fallen, er jedoch empfand einen ausgeprägten Abscheu, sogar Angst vor der Stadt, in welcher er sein ganzes Leben verbracht hatte.
Noch träge vom Schlaf, blickte er auf die Uhr. Sie musste kurz nach der Abfahrt stehen geblieben sein, denn die Zeiger liefen zwar, aber ihrer Anzeige nach waren nicht mehr als fünf Minuten vergangen, seitdem sie den Bahnhof verlassen hatten. Also wandte er sich zum Fenster, gegen welches seine Stirn vorhin geschlagen war, um zu sehen, ob er die Landschaft wiedererkannte. Doch wie eine schmutzige, graue Wand hüllte sich dichter Nebel um den fahrenden Zug. Nur die Schatten einzelner Bäume, die nahe an den Gleisen standen, zogen wie Fetzen alter Gespenster vorbei.
Seufzend lehnte sich Thomas zurück und versuchte erneut die Augen zu schließen. Es war sonderbar finster im Abteil und die Deckenbeleuchtung ging nicht, so dass auch Lesen keinen Zweck hatte. Im selben Moment verriet ihm ein schweres Gefühl in der Magengrube, dass der Zug im Begriff war abzubremsen. Er musste so in Gedanken versunken gewesen sein, dass er die Durchsage überhört hatte. Mühsam raffte sich der junge Student auf, streckte sich und rüttelte dann seine Freundin an der Schulter.
„Mh? Waslos?“, nuschelte sie, ganz offensichtlich nicht glücklich über die Störung.
„Komm langsam auf die Beine!“, meinte Thomas und versuchte beschwingt und energisch zu klingen, doch das Gefühl einer unsichtbaren Last auf seinen Schultern drückte zu sehr auf seine Stimmung. „Ich glaub wir sind gleich da.“
Wenige Minuten später blieb der Zug stehen, nur die Umrisse des Vordaches vor dem Fenster verrieten, dass sie einen Bahnhof erreicht hatten. Niemand aus dem sonst fast leeren Zug stieg aus, so dass sich die beiden Studenten beinahe etwas verloren vor kamen, als sie in die Nebelsuppe auf den einsamen Bahnsteig traten. Die Luft war seltsam kalt und feucht, ein zarter süßlicher Geruch umschwamm ihre Nasen.
„Ein hübscher Empfang.“, murmelte Gabi verschlafen und zupfte mit ihren Fingern unruhig am Bügel ihres Rucksacks. „Man sieht ja keine zwanzig Meter weit.“
Thomas zuckte mit den Schultern und ging in Richtung des Bahnhofsgebäudes. Er blickte nach oben um das metallene Regendach mit seinen wunderbaren Jugendstilschnörkeln zu betrachten, musste aber feststellen, dass es mittlerweile vollkommen vom Efeu, welcher auch an dem Backsteingebäude empor rankte, bedeckt war.
„Ist ja schön, dass hier mal was wächst.“, sagte er nebenbei zu Gabi. „Aber ein bisschen nachlässig ist es schon. Sieh mal da hinten! Der Pfeiler ist schon ganz krumm, schaut so aus als würde bald das ganze Dach einbrechen.“
Gabi folgte seinem Fingerzeig und schüttelte den Kopf. „Nein, das schaut nur durch den Nebel so aus. So schief wie das Ding ist, müsste das Dach schon auf dem Bahnsteig liegen.“
Thomas zuckte erneut mit den Schultern. „Auch wahr. Aber komm jetzt, es ist sicher schon fast Mittag. Wie spät ist's denn auf deiner Uhr?“
Gabi hob den Arm, stutzte und tippte dann missmutig mit dem Finger auf das Glas ihrer Digitaluhr. „Null Uhr fünfzig.“, brummte sie. „Das Ding ist wohl kaputt.“
„Glück, meine auch. Schau'n wir in der Bahnhofshalle nach.“
Gabi blickte noch einmal in den Himmel bevor sie weiterging, in der Hoffnung den Sonnenstand bewerten zu können, doch der Nebel war zu dicht. Überhaupt empfand sie die Lichtstimmung als sehr bedrückend. Während man in der Ferne nur graue Schatten sah, war alles Nahe in einen unwirklichen, roten Schein, wie der Abglanz eines besonders prachtvollen Sonnenuntergangs, getaucht. Nur die Blätter des Efeus wiegten schwarz und trist auf ihren Stängeln – obwohl kein Wind zu spüren war.
Die große Uhr in der Bahnhofshalle stellte sich ebenso als unbrauchbar heraus. Das Glas war gesprungen, moosartiger Belag hatte sich zwischen den offenbar schon lange ruhenden Zeigern gebildet. Der Nebel schien den beiden jungen Leuten von draußen nachgekrochen zu sein, denn auch hier, im Inneren den Gebäudes, glühte das Wenige, was auszumachen war, in diffusem Rot.
Gabi sah sich nach dem Fahrkartenschalter um, doch dieser war unbesetzt. Hinter seiner Holzbrüstung, über die eine einsame Efeuranke baumelte, hatte sich eine so tiefe Schwärze eingenistet, dass es Gabi davor graute näher heranzutreten.
„Also an Sonntagen könnte man hier wirklich meinen, die Stadt wäre ausgestorben.“, stellte Thomas fest, als sie auf die Straße traten.
Das Gefühl der Pflastersteine unter ihren Füßen teilte ihnen endgültig mit, dass sie in ihrer Heimat angekommen waren. Nirgends sonst waren ihnen jemals solche Straßen begegnet, die noch mit einem Mosaik aus faustgroßen, unregelmäßigen Feldsteinen belegt waren, ganz so, als hätte man seit dem Mittelalter nichts mehr daran geändert. Mittlerweile, mussten sie feststellen, ließ auch der Zustand dieser Bodendecke einen solchen Gedanken zu: Kräftige, dunkle Büschel Gras, sogar junge Bäumchen schoben sich sich aus den Ritzen hervor. Etliche Steine waren herausgetreten und hatten gefährliche Mulden hinterlassen, die ein dichtes Netzwerk aus Stolperfallen bildeten
Nach einigen Metern wurde die Silhouette des Zeitungskiosk auf dem Bahnhofsplatz sichtbar, ohne welche sie im Nebel sofort die Orientierung verloren hätten. Von weitem wirkte der Umriss der Bude seltsam verzerrt und ausgefranst, so dass sie sich nicht gleich einig werden konnten ob es die richtige sei. Erst als sie schon sehr nahe waren, stellten sie fest warum.
„Schon wieder Efeu.“, meinte Gabi verwundert. „Sieht zwar wirklich nicht schlecht aus, an dem Kiosk, macht aber doch alles kaputt.“
„Hm.“, stimmte Thomas zu. „Vor allem bei dem Jugendstilkiosk, der ist ja nur aus Metall und beginnt überall wo das Gewächs die Farbe abschabt zu rosten. Der leuchtet schon richtig rot. Aber... ich frag mal eben die alte Lamich nach der Uhrzeit – Falls die da überhaupt noch arbeitet.“
Tatsächlich saß die alte Dame lesend zwischen Stapeln von abgegriffenen, modrigen Zeitschriften hinter dem Verkaufsfenster auf der anderen Seite. Sie sah blasser aus, als Thomas sie in Erinnerung hatte, auch ihre Kleidung war verwaschen und farblos. Ihre faltigen Züge wirkten so fern und verschwommen, als blicke man auf ein altes, rotstichiges Foto
„Morgen Frau Lamich!“, grüßte er freundlich.
Als die Alte ihren Kopf hob und lächelte, schien es so, als würde jetzt erst Leben in sie hineinfahren, die Gesichtsfarbe wurde gesünder und die ganze Erscheinung schärfer. Zweifellos lag es am Licht, als sich die Frau etwas nach vorne beugte.
„Ah, der kleine Hofmann und die Eichner! Ihr wart ja schon lange nicht mehr da. Was braucht ihr denn?“, sagte sie, sehr langsam und bedächtig.
„Ach, eigentlich nur schnell die Uhrzeit, wir haben's womöglich eilig.“
„Ach so, wie schade.“ Leicht enttäuscht und mit angestrengtem Blick sah sie einige Sekunden lang auf ihre Armbanduhr. „Aha, ja. Halb zwölf ist es.“
„Gut, danke. Dann sollten wir uns ein wenig beeilen.“
„Auch sehr schade.“, meinte sie etwas betrübt. „Ist ja so ein herrlicher Tag, da ist es nicht gut, wenn man sich hetzen muss.“
„Ein herrlicher Tag, ja.“, lachte Gabi, die nebenbei die Zeitschriften überflog. Sie wunderte sich, wie alt die Exemplare zu sein schienen, die hier auslagen. Dass sie feucht und glitschig waren, war bei diesem Nebel kein Wunder, aber der rötliche Schimmer, der wie Schimmel- oder Rostflecken auf jeder Seite lag und einen abstoßenden, zuckerigen Geruch verströmte, stellte sie vor ein Rätsel.
„Ich hoffe nur, wir laufen nicht irgendwo dagegen.“, brummte Thomas.
„Sonnenbrillen hätte ich auch da.“, erklärte Frau Lamich hilfsbereit.
„Ja, ja.“, Thomas klopfte ihr auf die Schulter. „Wir packen's dann mal wieder. Bis später.“
„Tschüß.“
Sobald sie sich ein Stück entfernt hatten wischte Thomas seine nasse Hand an der Hose ab. Irgendetwas musste der Frau über den Kittel gelaufen sein.
„Auwei.“, brachte er etwas bedrückt hervor. „Mit Lamich ist es auch nicht mehr weit her. Hat ja gar nicht gut ausgesehen und was sie da von Sonnenbrillen gefaselt hat, das verstehe ich auch nicht.“
Gabi zuckte mit den Schultern und runzelte die Stirn. „Hast du die Zeitungen gesehen? Und ihr Buch? Das war alles schimmelig, dabei waren die Sachen von heute.“
„Hm, dass das keinem auffällt. Irgendjemand muss sich doch mal um sie kümmern. Außerdem ist heute Sonntag. Wieso hatte die überhaupt offen.“
Gabi fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Keine Ahnung. Aber heute ist der fünfte und das stand auch auf den Magazinen.“
Inzwischen waren sie quer über den großen Bahnhofsplatz gelaufen, um sich an der Häuserzeile zu orientieren. In der taghellen Finsternis und dem seltsamen, schimmernden Licht, wirkten die ehrwürdigen Fachwerkhäuser so, als seien sie vor der klammen Kälte noch ein wenig enger zusammengerückt. Rötlich umspielt ragten ihre Giebel wie die Zähne eines gewaltigen Haifischgebisses in das schmutzige Weiß des Himmels. Blickte man direkt nach oben, konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die gesamte Zeile der mittelalterlichen Gebäude zu einem herab neigte. Dabei erschienen die Fassaden dunkler, als die Studenten sie von früher kannten. Wie auch die Fenster waren sie verschmutzt und angelaufen, der Putz bröckelte, aufgetrieben von den allgegenwärtigen, kräftigen Efeuschlingen.
„Dieser dauernde Efeu macht mich noch ganz irre.“, flüsterte Gabi. Sie konnte nicht lauter sprechen, sie fühlte sich beobachtet und hatte sie instinktiv die Stimme gesenkt, als ob man in einer Menschenmenge über Privates sprach. Irgendjemand musste im Nebel vorbeigehen, aber zu sehen war niemand. Nur dieses Gefühl, unbestimmbar, aber es war da. „Es ist doch unmöglich, dass der an jedem einzelnen Gebäude hochwächst. Da! Da hinten hat er sogar ein Fenster eingedrückt! Früher gab es hier überhaupt keine Pflanzen. Das geht doch einfach nicht.“
„Du siehst doch, dass es geht.“, wisperte Thomas zurück. Er wusste, dass es grob geklungen haben musste, aber seine eigene Unsicherheit wollte er unter keinen Umständen zeigen.
„Sieh ihn dir doch wenigstens mal genauer an!“, antwortete sie.
„Warum machst du's nicht selbst?“ Seine Stimme bebte merklich. Er hatte überhaupt kein Interesse daran, das Gewächs näher in Augenschein zu nehmen, es war grässlich genug, dass es überhaupt existierte. Was sollte schon besonderes daran sein? Es war langweilig, alltäglich und stank erbärmlich. Und es war überall. An jeder Laterne, jeder Hauswand und sogar an einigen Verkehrsschildern. Ranken krochen aus dem Pflaster hervor und darüber hinweg. Viele davon waren so lang, dass ihr Ende im Nebel verschwand.
„Jetzt glotz' nicht so ins Leere!“, zischte Gabi. „Du machst mir Angst. Komm, jetzt schau dir das Zeug bitte mal an!“
Tom seufzte resignierend und nickte. Sie hatte recht: Es war einfach zu sonderbar um es zu ignorieren. Auf den ersten Blick mochten die Gewächse ja, trotz ihres schwarzen Glühens -er wusste nicht wie so ein Leuchten überhaupt möglich sein konnte, aber dennoch war es da- wie Efeu erscheinen, doch als er genauer hinsah, fuhr er mit einem entsetzten Schrei zurück.
„Was ist?“, rief Gabi erschrocken.
„Nichts.“, hauchte er und versuchte sie mit einer Handbewegung daran zu hindern, näher zu kommen. „So was gibt’s gar nicht.“, fügte er dann leiser hinzu, als wolle er sich selbst überzeugen. „Das gibt’s nicht.“ Erfolglos.
Die Ranken der Kletterpflanzen glichen schwarzen Adern, die halb im Mauerwerk vergraben, als seien sie eingewachsen, ruckartig pulsierten. Wie eine Schlange, die ihre Muskeln langsam immer enger um ihr wehrloses Opfer spannte. Die Blätter hatten zwar grob die Form von Efeu, doch waren sie halb durchsichtig und leicht violett. Ihre Stängel und Blattrippen waren dürr, sie erinnerten so gar nicht an etwas, das man bei einer Pflanze erwartete, sondern an die fragilen Gebeine eines Fledermausflügels. Tatsächlich endeten sie sogar in winzigen, blitzenden Klauen.
Thomas wusste nicht, wie ihm geschah, immer wieder flüsterte er vor sich hin, dass es so etwas nicht geben konnte. Er wusste das, er musste es nur beweisen. Langsam streckte er die Hand aus um das Gebilde zu berühren. Er zögerte kurz, ob er nicht doch seinen Augen trauen und in Panik ausbrechen sollte. Er besann sich und wechselte zur linken Hand, man konnte nie sicher genug sein. Dann ging er in die Knie und schloss seine Finger vorsichtig um den blattlosen Stamm der Ranke. Kalt und hart, dabei an der Oberfläche bröselig, wie altes Eisen, fühlte sie sich an. Von den Bewegungen war nichts zu spüren, obwohl er sie deutlich sehen konnte.
Ein taubes Prickeln entbrannte hinter seinen Augen, bunte Flecken tanzten darin. Es war echt. Und es war nicht normal. Er wusste, dass er gleich in Ohnmacht fallen würde, der kalte Schweiß rann ihm bereits in die Augen. Ein dumpfes Pochen, ein hohes Pfeifen in seinem Kopf, sie raubten ihm fast die Sinne. Er bemerkte kaum, wie Gabi sich über ihn beugte. Ohne zu wissen was er tat, ohne etwas dagegen tun zu können, hob er seine Hand den Blättern entgegen.
Mit einem gellenden Schmerzensschrei fuhr er zurück, rammte dabei Gabis Beine, so dass er sie mit zu Boden riss. Sie richtete sich recht schnell wieder auf, hielt sich zitternd die Arme um den Bauch geschlagen. Thomas blieb atemlos auf der Straße, die hier fast vollständig von Gras überwuchert war, sitzen. Stetig den Kopf schüttelnd, seine Hand fest an sich gepresst, murmelte er immer und immer wieder, dass er nichts gesehen habe.
„Du blutest.“, stellte Gabi besorgt, aber sachlich fest, als sie sich neben ihn kniete. Doch der Schüttelfrost, der ihren Körper gepackt hatte, strafte die Stärke ihrer Worte Lügen. Sie hatte es gesehen und auch sie wusste, dass es nicht da war, weil es nicht da sein durfte. Es sah so lebendig und gleichzeitig so tot aus, ganz bestimmt nicht wie eine Pflanze. Es hatte sich in das Fleisch der Stadt gegraben – oder war daraus hervorgebrochen und begann sie mit seinen Fängen zu umklammern. Dennoch in all diesen unbestimmbaren, scheußlichen Gefühlen, spürten sie beide, wie die sonderbare Last der Stadt leichter zu werden schien. Auch wenn sie es nie laut ausgesprochen hätten, hatten sie schon seit sie denken konnten das Gefühl, das irgendwann etwas mit der Stadt geschehen hätte müssen.
Während Gabi noch die papierdünnen Schnitte in Thomas Hand begutachtete, wurde sie einer flüchtigen Bewegung im Augenwinkel gewahr. Hinter ihr, am fernen Ende der Straße, waberte ein großer, dunkler Fleck im Nebel.
„Tom!“, keuchte sie. „Siehst du das auch?“
Anstatt zu antworten, schloss er seine verletzten Finger fest um ihre Hand.
Der Schatten bewegte sich behäbig langsam, schwere Schritte hallten durch das Weiß um die Häuser.
„Es ist ganz nah, man müsste es schon sehen!“, brachte Gabi schrill hervor.
„Nu-Nur eein Schatten.“, stotterte ihr Freund. „So viele Schritte.“
Bevor Thomas seinen Satz ordnen und beenden konnte, erhob sich ein tiefes, klagendes Geräusch. Es klang nicht wie ein Ruf, sondern wie die Pervertierung eines lang gezogenen, menschlichen Stöhnens.
„Lauf!“, brüllte Thomas Gabi ins Gesicht und riss sie mit sich auf die Beine. Sie rannten, sahen nichts und achteten auf nichts als die vorbeihuschenden Nebelschwaden, das eilige Trappeln ihrer Füße und ihre abgehackten Atemzüge.
Sie wussten nicht wie lange und wohin sie gelaufen waren, aber sie wurden immer langsamer und das Stechen der kalten Luft in ihren Lungen nahm zu. Im Gegensatz zu ihren Kräften schwand die Angst nur wenig. Irgendwas war dort draußen im Nebel. Irgendetwas Unmenschliches. Keiner von ihnen wollte auch nur daran denken stehen zu bleiben, aber die Muskeln zerrten, die Kehlen brannten, ihre Körper ächzten. Plötzlich packte Gabi ihren Freund am Arm, schnellte herum und stürzte mit ihm durch eine Tür.
Nur kurz konnten sie sich dagegengestemmt aufrecht halten, dann sackten sie beide in die Knie. Ein Atemzug konnte nicht genug Luft in die wunden Lungen pumpen, jedes Schnaufen wurde Erlösung und Fegefeuer zugleich. So waren sie noch nie gelaufen.
Erst nachdem sie wieder Luft bekamen, begannen sie das halblaute Stimmengewirr um sie herum wahrzunehmen. Bratengeruch, Zigarettenrauch, mengten sich in den allfauligen Gestank. Sie sahen auf und stellten endlich fest, dass sie sich in der Gaderobe einer Speisewirtschaft befanden. Durch den schwachen Dunst hindurch, eindeutig ein Ausläufer des Nebels, konnten sie sehen, dass die engen Tische des Gasthauses voll besetzt waren. Nicht wenige der Gäste starrten sie irritiert oder gar verärgert über ihr lautstarkes Eindringen an. Fast schien alles ganz normal zu sein. Ein gewöhnliches Lokal zur Mittagszeit. Nur, der Nebel, das rostige Licht, welches nicht aus den Deckenlampen fiel, sondern diffus, ohne seine Quelle zu verraten, im Raum stand. Es nahm allen Farben Kraft.
Thomas bleib an der Tür lehnen und schloss die Augen, während Gabi wortlos auf eine Bedienung zustrebte. Er hatte Kopfschmerzen, in einer Art, schlimmer als er sie jemals erlitten hatte. Das Bild einer Kuh tanzte in seinem Geist auf und ab. Sie waren außergewöhnlich stark, doch die Pein schien von seinem Schädel aus in das Mark aller Knochen kriechen zu wollen. Spannte er seinen geschundenen Körper an, konnte er sie zurücktreiben, bis sie nur noch ein gläserner Dorn in seinem Hirn waren, doch das Brummen wurde dadurch stärker. Dennoch wollte er sie instinktiv nicht aus seinem Kopf entkommen lassen. Er redete sich ein, dass sie von Laufen kamen, von der Anstrengung, aber er wusste ganz genau, dass es das Licht war. Dieses bohrende Glühen, dass sich direkt in seine Nerven fraß. Ebenso plötzlich wie es gekommen war, verschwand es jedoch schon wieder.
„Entschuldigung!“, wandte sich Gabi an die Kellnerin, die zwar eindeutig kaum älter als sie selbst war, aber grau und ausgelaugt wirkte. Die Gesichter der anderen Gäste konnte sie nicht sehen, sie befürchtete fast, dass sie das Aussehen der Bedienung teilten. „Könnten Sie mir vielleicht sagen, wie ich in die Bergenstrasse komme?“
Kurz flackerte gesundes Rosa über die bleichen Wangen der Angesprochenen. „Bergenstraße?“, lispelte sie freundlich. „Da sind Sie schon richtig, Sie hätten das Schild an der Ecke eigentlich sehen müssen. Gleich die nächste Links. Von mir aus gesehen.“
Während die junge Frau noch sprach fiel Gabis Blick über deren Schulter hinweg zu einem Fenster bei der Garderobe Die Ranken waren auch hier eingedrungen. Ob der Rahmen herausgesprengt, oder die Scheiben nur gekippt waren, ließ sich aus dieser Entfernung nicht feststellen, aber ein dichter Kranz aus buschigen Wedeln ragte rund herum in den Schankraum. Einige wenige hatten sich schon in die Wände und das Fensterbrett gegraben
„Danke... Und... noch eine Frage.“, begann Gabi langsam, während eine Einsicht in ihr reifte.
„Ja bitte?“
„Fällt Ihnen dort an dem Fenster etwas auf?“
„Nein.“, die Bedienung schüttelte verwirrt den Kopf. „Was ist denn da? Schon wieder Schmierereien?“
„Nein, nein, schon in Ordnung.“, wimmelte Gabi die Frau ab und kehrte zu Thomas an die Tür zurück.
„Sie sehen es nicht.“, sagte sie tonlos.
„Ich weiß.“
Sie verließen die Wirtschaft, den Schatten im Nebel aufgrund der neuen, sonderbaren Erkenntniss fast vergessen und setzten ihren Weg fort. Schatten gab es überall, sie huschten umher, blieben träge an einer Stelle und schienen oft sogar direkt durch sie hindurch zu schweben, aber irgendwie erschreckte es sie nicht mehr.
„Tatsächlich, es ist die richtige Straße, dann sind wir ja gleich da.“, entfuhr es Thomas erstaunt.
„Ich hoffe, bei meinem Vater ist alles in Ordnung.“, fügte Gabi leise hinzu.
Doch schon nach einigen Metern war die Straße zu Ende. Sie erkannten die Häuser rechts und links von ihnen, sie konnten nicht falsch abgebogen sein, aber dies änderte nichts daran, dass eine solide Wellblechwand von einer Häuserfront zur anderen ihren Weg abschnitt. Gabi und Thomas untersuchten ungläubig die Ränder. Es sah ganz so aus, als wäre dieses Hindernis nicht einfach aufgestellt worden, sondern schon immer hier gewesen. Unverrückbar war es in den Boden und die Wände eingelassen. Während die beiden noch ratlos über das kalte Metall tasteten ließ sie ein kratzendes Geräusch zusammenfahren.
Gabi schrie auf, als plötzlich ein Mann neben ihr stand. Sein Aussehen war gewöhnlich, ein wettergegerbtes Gesicht mittleren Alters in dreckverschmierten Jeans, Gummistiefel und kariertem Hemd. Doch sein lautloses Auftreten und die Tatsache, dass er halb in der Wand eines Fachwerkhauses stand ließ die beiden vollkommen erstarren.
Noch bevor sie einen Muskel rühren konnten, fragte er mit strenger, vorwurfsvoller Stimme: „Darf ich Sie fragen, was Sie da vorhaben?“
„Wir – wir, was?“, stammelte Thomas.
„Was ist das hier?“, fiel ihm Gabi ins Wort.
Der Fremde starrte sie an, als seinen sie verrückt geworden. „Das ist mein Schweinestall, verdammtnochmal!“
Sein Arm fuhr mit ausladender Geste in Richtung des Wellblechs durch die Hauswand. „Und Sie haben hier nichts verloren. Ich will hier keine Krankheiten, hauen sie ab!“
Die Studenten waren zu verschreckt um an Widerspruch zu denken und stacksten davon. „Durch den Park.“, brummte Thomas
Sie kamen dort relativ schnell an, blieben aber schon nach einigen Metern erneut ratlos stehen: Keine hundert Schritte nach dem Eingang des Parks trafen sie auf ein Haus. Zuerst war es nicht besonders auffällig, zumal sie ohnehin nur die Umrisse hatten sehen können, doch als sie näher kamen, bemerkten sie, dass es quer über den Weg und mit einer Ecke im Springbrunnen stand.
Es war zweifelsfrei ein sehr schönes, herrschaftliches Exemplar eines Fachwerkhauses, mit Erkern an jeder Flanke und einem kleinen Glockenturm, der aus dem Dachfirst ragte. Jedes Fenster war mit Bleischeiben versehen, nirgends hatte man sie durch modernes Doppelglas ersetzt. Sogar im Flaschenzug über dem Dachfenster hing noch ein Seil, was dem Ganzen den Eindruck verlieh, als hätte man dieses merkwürdige Schmuckstück direkt aus dem 17. Jahrhundert geholt und achtlos in den Park fallen lassen.
„Wa...?“, machte Tom entschloss sich aber doch nichts zu sagen.
An der Front führte eine Treppe aus großen Granitblöcken zu einer einfachen Holztür mit blitzenden Messingbeschlägen. Darüber prangte ein grob gepinseltes Schild, das so aussah, als habe man es ohne große Fertigkeit dort angebracht.
„Der Klan der Lüge.“, las Gabi laut vor, während sie schon ein Bein auf die erste Stufe gesetzt hatte.
„Du willst da doch nicht wirklich rein?“, mahnte ihr Freund hinter ihr.
Verwirrt sah sie auf den Boden hinab, als hätte sie gar nicht bemerkt, was sie da tat. „Ich denke schon.“, begann sie langsam. „Ich meine, es sieht wichtig aus, vielleicht finden wir da drin was raus.“
Thomas zuckte unsicher mit den Schultern: „Vielleicht. Gefährlich sieht es jedenfalls nicht aus – aber unheimlich.“ Er trat zurück und begutachtete, den Kopf im Nacken, die Fassade. „Da ist gar keine Gekräut dran.“
„Doch, ein bisschen was schon, aber nur sehr sehr wenig. An der Blechwand vorhin war keines, wo du's gerade sagst.“
„Dann nichts wie rein!“
Die Tür war nicht verschlossen, ließ sich aber nur schwer ausdrücken. Ein Schwall staubiger, heißer Luft schlug ihnen aus dem unbeleuchteten Korridor, der dahinter lag, entgegen. Brandgeruch hüllte sie ein und stach in ihren Augen. Ihre Schritte hallten auf dem Holzboden wieder, das Haus schien wie ausgestorben. Alle Türen links und rechts des Ganges ließen sich nicht bewegen, als seien sie nur ein Teil der Wandtäfelung. Schließlich standen sie am Ende des Flures, wo eine steile Treppe, die in gähnende Schwärze nach Oben führte. Sie zögerten, doch eindeutig wälzte sich die warme, staubtrockene Luft von dort zu ihnen herab. Sogar einen fernen Lichtschimmer konnten sie ausmachen. Allen Mut zusammennehmendstiegen sie hinauf und stießen auf etwas, das sich wie eine weitere Tür anfühlte. Der Raum dahinter musste beleuchtet sein und dumpfe Stimmen waren zu hören.
„Und wenn wir doch den Schrammhans herausstreichen und die Schlacht um drei Jahre nach hinten verlegen?“, fragte ein leise, rauchige Stimme.
„Dann bekommen wir in höchstens hundert Jahren Probleme mit der Haselstraße.“, vervollständigte eine andere, ebenfalls sehr schwache und alte Stimme den Satz.
„Aber die können wir doch auch streichen.“
„Nein.“, meinte ein anderer bestimmt. „Das Problem wäre ja, dass sie nicht da wäre. Wir haben uns geschworen nicht auszusuchen, wer überleben soll und wer nicht. Wie können wir da eine Straße löschen um alles zu retten?“
„Es wäre doch ein sehr kleines Opfer...“, begann ein Vierter.
„Ruhe jetzt!“, meldete sich eine dumpfe, gebieterische Stimme zu Wort. „Es geht hier nicht um Opfer. Wir sind nicht der Herr, also bestimmen wir nicht darüber wer lebt und wer stirbt. Wir müssen die Wahrheit einsehen, dass es nicht zu schaffen ist. Ich schlage vor wir nehmen ein für alle Mal unseren Abschied. Bevor die Geschichte sich selbst heilt und vernarbt, verhindern wir, dass sie überhaupt verletzt wird. Wir werden die Lüge aufgeben. Meine Herren, wer ist dagegen?“ Eine Pause folgte. „Und wer ist dafür?“ Wiederum Stille. „Damit wäre es also entschieden: Wir lassen unsere Stadt wieder im Nebel der Geschichte verschwinden, wie es sein sollte.“
Gabi entfuhr ein entsetzter Schrei. Bevor sie noch wusste, was sie getan hatte, war das allgemeine Gemurmel hinter der Tür verstummt. Ein Stuhl wurde verrückt, einige Schritte folgten. Kurz darauf wurde die Tür von innen aufgestoßen
Sie blickten in ein großes Zimmer, hell erleuchtet durch dutzende von Kerzenleuchtern und angefüllt mit Bergen von vergilbten, handbeschriebenem und eng bedrucktem Papier oder Pergament. In einem Kamin an der Stirnseite des Saales brannte stark qualmend ebenfalls dieses Material vor sich hin. Vor dem Kamin stand eine Art Konferenztisch aus schwerem Eichenholz um den vierzehn Männer herumsaßen. Thomas entfuhr ein nervöses Kichern, als er die altmodischen Pluderärmel, Beinlinge, Wämse und Barette der Herren sah, die dort mit gequälten und abgekämpften Gesichtern über Papier und Feder kauerten. Alle sahen sie so alt und dürr aus, hatten lange schütterne Bärte, dass man den Eindruck gewann, ihre Kleidung würde sehr gut ihrem tatsächlichen Alter entsprechen.
„Willkommen!“, grüßte der Greis an der Tür, der offenbar die Abstimmung geleitet hatte. Seine Haut spannte sich halb durchsichtig und gelblich über den knochigen, kahlen Schädel, die Augen waren milchig und blind. Seine altertümliche Kleidung schien wohl einmal sehr herrschaftlich, mit Samt und Pelz verbärmt, gewesen zu sein, war nun aber ausgeblichen und staubig.
„Verzeiht mir, dass ich Euch nicht hereinbitte.“, fuhr der Alte fort.“Aber es ist wohl sicherer wenn Ihr die Stadt verlasst. Ihr wart lange fort, also hat euch die Vergangenheit noch nicht eingeholt. Ich weiß nicht genau was geschehen wird, aber Du,“, er deutete auf Gabi, „hast sicher noch eine Zukunft außerhalb der Stadt.“
„Und... und was ist mit mir?“, wisperte Thomas erschrocken.
Der Mann schüttelte traurig den Kopf. „Lasst mich einmal kurz erklären, vielleicht hilft es Euch: Diese Stadt und alle die aus ihr stammen sind eine einzige Lüge und wir sind ihre Urheber. Darum haben wir uns „Der Klan der Lüge“ genannt. Im Jahre sechzehhundertunddreiunddreissig standen die Schweden vor unserer schönen Stadt, die wir um keinen Unterpfand, den sie uns versprachen hergeben wollten. Doch es kam, wie es keiner überhaupt befürchten wollte: Sie nahmen die Stadt im Sturm, darum war es ihnen erlaubt sie zu plündern. Das taten sie, so gut sie nur konnten, mordeten, raubten und legten schließlich Feuer. Nach drei Tagen war die Stadt geschleift bis auf das letzte Stück der Mauer und nur wenige hatten überlebt. Darunter waren wir jedoch, die Stadtschreiber und wir wollten es nicht hinnehmen. Jeder der des Schreibens mächtig ist weiß, dass das Geschehene nur das ist, was geschrieben steht und woran man sich erinnert. Also haben wir geschrieben, wir änderten die Geschichte, bis alle die wir liebten wieder bei uns waren, unsere Stadt wieder stand. Doch das hielt nicht lange, denn wir hatten viele Fehler gemacht, die wir ausbessern mussten. Bald stellten wir fest, dass wir uns selbst aus der Geschichte herausnehmen mussten um sie besser betrachten zu können. Wir schrieben und schrieben bis heute, immer neue Versuche, immer neues Scheitern, dass sich oft erst nach hunderten von Jahren zeigte. Heute, wo es erneut zusammenbricht wie unzählige Male zuvor, wissen wir, dass es vergebens war. Wir können nicht sagen, wie lange wir hier gesessen sind, vielleicht Jahrtausende, und es ist uns nie gelungen jede einzelne Faser der Geschichte logisch und schlüssig zu machen. Heute werden wir es beenden. Was geschehen ist ist geschehen, auch wenn die Wahrheit noch so bitter und die Lüge noch so süß ist.“
Der Greis holte tief Luft und blickte Thomas in die Augen. „Thomas Hofmann, Deine Familie stammt von hier, aber der Keim der Wahrheit ist in Dir noch nicht gesprossen. Vielleicht hast du eine Chance. Am Besten ist es ihr geht jetzt gleich, am Besten ist es ihr lauft so schnell es euch nur möglich ist. Wir werden es nicht beenden bevor ihr aus der Stadt seid, aber vielleicht tut sich die Wahrheit bis dahin schon in ihrer vollen Blüte auf. Rennt! Jetzt!“ Mit diesen Worten schlug der Schreiber die Tür mit seinen tintenfleckigen Fingern zu und ließ Thomas und Gabi starr und unfähig zu denken auf dem Treppenabsatz zurück.
Sie wussten nicht, wie sie die Treppe hinunter und aus dem sonderbaren Haus gekommen waren, denn ehe sie sich versahen liefen sie durch die vernebelten Straßen. Die Gebäude, die sie ausmachen konnten, glichen nur noch gewaltigen zinnglänzenden Hecken, in welchen hier und da bösartige, grelle, blaue Lichter, wie Rasiermesser aufblitzten. Die Gassen waren von wild wucherndem Gras bedeckt. Sie rannten, wie schon zuvor in blinder Panik, ohne Ziel und ohne eine bekannte Straße wiederzuerkennen. Nur die Hoffnung, dem Albtraum zu entgehen und der Takt ihrer Füße teilten ihnen mit, überhaupt noch zu sein.
Langsam lichtete sich der Nebel, als sie dem Stadtrand näher kamen. Kein Bauwerk war mehr zu sehen und das matschige Gras machte jeden Schritt bleiern. Schließlich war sich Gabi sicher, dass sie weit genug gelaufen waren, dass sie hinaus und in Sicherheit waren, darum blieb sie stehen. Ohne zu zögern ließ sie sich schlaff in den Morast fallen.
„Gabi, du...“, begann Thomas, atemlos schnaufend.
Sie hob den Kopf um nach ihm zu sehen, doch sie konnte ihn nicht finden. Die Wiese war leer, er war verschwunden.
Sie zwang sich auf die Knie um besser sehen zu können, doch auch nun, da der Nebel nur noch als ferne Schleier im Tal hing, war er nicht da. Nur eine Wiese, ein fernes Gehöft, ein Auwäldchen in der Flussbiegung lagen vor ihr. Wie heißes Blei rann die Erkenntnis ihre Wirbelsäule hinab.
Er war mit allen anderen Lügen gegangen, es konnte ihn ja niemals gegeben haben. Sie wollte schreien und heulen, doch ihre Lungen gaben keinen Laut heraus. Nicht einmal den ersten Moment des Entsetzens konnte sie überwinden, als schon der nächste schwarze Dorn der Verzweiflung in sie drang. Ihr Vater war in der Stadt gewesen, er musste also auch...
Nein er konnte nicht auch, denn sie existierte, sie war die Wahrheit. Aber sie kannte nun die Geschichte nicht. Ihre Mutter war in der Stadt bei einem Autounfall ums Leben gekommen, doch wo war sie nun, wo war ihr Vater? Alle ihre Erinnerungen, ja ihr ganzes Leben war mit Dingen verwoben gewesen, die einmal waren, nun aber niemals wirklich existiert hatten. Lügen, alles Lügen!
Sie konnte nicht aufstehen, sie hätte auch nicht gewusst wohin sie gehen hätte sollen. Die warme Frühlingssonne, die auch die letzten Nebelfetzen verschlang, wärmte ihr, gleich einer vergebens tröstenden Hand den Rücken. Ihr Gesicht in das nasse Gras gepresst blieb sie vor Kälte bebend liegen.

Ende, zum Glück, eine Zeile mehr und ich lösch' das ganze wieder.
 

In einem Stück geschrieben, so dass mir drauf schlecht wurde.
War für den 4. Haefft.de Schreibwettbewerb gedacht, damit gehöre ich also auch zu den vielen, die wutschnaubende Mails an die Verantwortlichen geschrieben haben und keine Antwort bekamen.
Felix M. Hummel, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.05.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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