Rico Berthold

Mit einem Bein auf der Erde


Es war an einem heißen Tag im Frühsommer und die Kirschbäume waren schon ganz lange verblüht. Dicke rote Zwillingsfruchtdropse zeugten nun von vergangen eiliger Geschäftigkeit der Bienlein. Ein mittelgroßer, mittelschlanker und auch sonst irgendwie mitteldingsiger braunhaariger Junge kauerte auf den Treppen und sah ganz blass aus. In Jeans und T-Shirt, wie sich das gehört. Die Treppen waren die Treppen vor seiner Schule, eine Plattenbauschule ganz aus Betonplatten. Auch die Treppen aus Beton. Der Junge hieß Thomas. Sein Innenleben war in einigem Aufruhr. Das Gefühl war wie in einer Waschmaschine. Mit Waschmaschinen kannte Thomas sich aus, welche Köpfe und so. Oder man hing am Propeller eines ver… zum Kuckuck noch mal abstürzenden Hubschraubers. Sonnig-trudelnd-rosarot-tonnenschwer-abgehoben-im Gulli bei Tomaten und Speck mit Buttercremetorte. Sagenhaft. Sein Gesicht hätte er es sehen können, wurde immer grüner. Schulspeisung, ohne Frage. „….ch .ir ..fen? ….soo blass ..sss! Soll ich dich zu einem Arzt bringen?" Das streng drein blickende Brünettchen, vom Beruf seine Biologielehrerin, wurde ihm nur schluckweise bewusst. Die Sonne brannte heiß und innig ins Sahneblau. Sie war ein vertrocknetes Zimmerpflänzchen und Thomas mochte sie eigentlich ganz gern. Nicht die Sonne. Aber Nervengehen war ihr Hobby. „Nnein. Ghheht schon." Nachdem sie ihn zögernd verlassen hatte und ihm einen guten Nachhauseweg gewünscht, versuchte er vorsichtig aufzustelzen und seine Beine zu bestolpern. Na, es ging doch! Die seines Erachtens viel zu lauten Hupen warnten ihn jedes Mal, wenn er in seinem gewagten Zickzackkurs zu weit auf die Strasse abwich. Thomas torkelte um die Ecke und umklammerte ein Halteverbotsschild. Das war doch nicht normal, ganz entschieden nicht. Was war bloß mit ihm los, zum Aasgefieder? Es sah so aus, als bräuchte er jetzt ganz dringend einen Pfefferminztee. Schweißperlen liefen ihm in die Augen und brannten höllisch. Er nahm noch eben gegenüber das große fleckige Sandsteingebäude wahr, die Bäume beiderseitig schön in einer Reihe, die Gitter der Entlüftungsschächte im Gehsteig und die misstrauischen Blicke der Menschen, die an ihm vorüber liefen. Sein vorletzter Gedanke bedachte sie mit Blumennamen (auf denen Hunde ihr Wasser gelassen hatten). Ganz schwach war ihm um die Beine. Der Junge klappte zusammen. Kurze Zeit später gab sein Gehirn den Kontakt zur Wirklichkeit auf. Es durchflog einen weiten Raum eine ganze Weile jenseits von Vorstellung und Zeit. Nicht das er sie hätte nachschauen können, denn er hatte keine Uhr am Gelenk. Eine Stimme wie mahlende Steinplatten fing an zu sprechen.

 Auch mitteldingsige nicht rockstarfähige Jungens haben zuweilen Freundinnen und Thomas’ Freundin hieß Patrizia. Sie stand vor dem Bett in der Intensivstation. Sie hatte kurze rote Haare und war bekleidet mit einer Lederjacke, schwarzen Jeans und sehr modernen Knobelbechern. „Gib’s zu Thomas. Diesmal hast du das Baby aber wirklich in die Grütze gekippt. Sieht aus, als bräuchtest du ganz schön dringend einen Arzt. Ich hab dir Kirschen mitgebracht und dabei bist du fast ne Leiche. Was hast du bloß angestellt?" flüsterte sie. Mächtige Tränen kullerten aus ihren grünen Augen über ihre Sommersprossen. Ihr wurde bewusst, dass sie eine Kirsche nach der anderen aß. Kirschkern für Kirschkern rollte zurück in die Tüte. Sie knüllte den Rand zusammen. „Eyh, Mann, mach keinen Mist, lass uns hier abhauen. Wach auf. Wach wieder auf!" Sie schüttelte ihn, aber alles blieb still. Thomas blieb still. Die Apparate protestierten mit keinem Ton. „Schätze das hilft dir nicht. Du kannst mich doch nicht einfach hängen lassen, hmm? Dinosaurierkotze." Patrizia ließ ihn los und heulte auf die Kirschkerntüte. Plötzlich stand jemand neben ihr. „Du hattest ihn wohl ziemlich gern? Bist du eine Verwandte?" „Was solln das für ne Frage sein? Hattest? Sie sind wohl, oh, Sie sind die Ärztin. Entschuldigung." „Schon in Ordnung. Das war wirklich nicht nett von mir. Er ist ein seltener Unglücksfall" „Komm." Die Frau im weißen Kittel führte sie herum um das Bett zu dem Bildschirm mit den Lebensfunktionen. „Bist du seine Freundin?" Patrizia nickte. „Es waren schon Leute aus dem Heim hier.", fuhr sie fort, und: „Ich kenne nur sehr sehr wenige Fälle, bei denen der Patient so plötzlich aus einem stabilen Zustand ins Koma gefallen ist. So etwas passiert, ist aber selten, wie gesagt. Siehst du diese Linien? Das ist das EEG. Sie sind stark abgeflacht, das heißt so ungefähr… also es ist wie ein sehr tiefer Schlaf und er wird auf nichts reagieren können." „Was soll das heissen, wird er wieder gesund?" „Zurzeit ist niemand da, der diese Frage beantwortet, das kann nämlich bloß er selbst. Manchmal kommt ein Komapatient nach kurzer Zeit zurück, wenige brauchen Jahre, aber wenn es länger als vier bis sechs Monate dauert, ist die Wahrscheinlichkeit einer Erholung gering." Anteil nehmend legte die Medizinerin die Hand auf Patrizias Schulter. Stumm riss Patrizia sich los, zum Fenster hin. „Hör zu." Die Stimme der Ärztin klang nun beschwichtigend und ermahnend zugleich. „Er bedarf jetzt deiner Anwesenheit und Fürsorge. Alles was wir tun können, ist seine Lebensfunktionen aufrecht zu erhalten. Den Willen zum Leben können wir ihm nicht geben, aber vielleicht du. Rede mit ihm. Sing ihm was vor. Berühr ihn. Alles kann helfen. Ich lasse euch wohl jetzt besser allein." Die Tür ging hinter ihr ins Schloss. Patrizia beachtete ihr Gehen mit keiner Regung. Als Stille die einseitige Zweisamkeit begleitete, dann ergriff sie die Hand des Bewusstlosen. Sie sah hinaus in das blutige Abendrot. Draußen benetzte die Hitze den Asphalt und ließ die Gebäude erzittern.

 Thomas fand sich wieder, weich gebettet und im Gegenüber ein freundlich dreinblickender alter Mann mit Wallebart. Der hatte ganz glasige Augen.
Du bist im Himmel. Sei mir gegrüßt. „Was ist denn das für ein Name? Nimm den Strohhalm aus der Nase und sag mir genau ins treue blaue Auge, was ich hier soll, Opa!" Nach einer Weile kurzen Schweigens schienen Thomas die Umstände, in denen er sich befand, einzusickern. „Heiliges Kanonenrohr… Bin ich jetzt tot? Wozu der Aufwand für mich kleines Heimkind? Das war doch ein Gottver…zum Kuckuck noch mal ein Irrtum? Ich bin ganz jung noch. Lasst mich bitte sofort wieder runter!" Der Alte verzog das Gesicht.
Du redest wie ein Bauernlümmel. Tja. Tut mir leid. Eine kleine Fehlfunktion. Es war ein Azubifehler. Wir hatten gerade einen Test, ein neue Automatisierungsstrecke, den „Seelenerlöser V 1.7". Aber ich kann dich nicht weglassen.

„Haben Eure Niederträchtigkeit damit ein Problem?"
Du verstehst das nicht. Das Experiment war erfolgreich.

„Na, anscheinend doch nicht."
Was, wenn wir öffentlich eingestehen müssten, wir wären fehlbar? Schließlich sind wir ein ehrbares Unternehmen.

„Schock, Schock. Aber was wird aus meinem Körper werden? Komafall. Er wird ohne dich nicht mehr lange da sein. Nun nimm schon deine Harfe und geh.
„Ist ja echt grell, echt grell. Saftladen. Immer auf die Kurzen. Kein Wunder bei der Senilitätsrate! Ich kann gar nicht Harfe spielen! Was für ne kranke Massenabfertigung. Und außerdem…" Thomas runzelte seine metaphysische Stirn.
Ja?

„Ich hab da noch jemand der mich liebt. Lässt sich da überhaupt nichts machen?"
Ach Thomas.

„Ja, wie lautet deine Entscheidung, Ehrerbietiger?"
Es wäre sowieso langweilig geworden. Den Löffel hättest du geworfen in einem Pflegeheim.

„Oh, danke, das …"
Nichts zu danken.

„Sag mal, warum willst du hier eigentlich das letzte Wort haben?"
Ich bin das jüngste Gericht.

„Ach so."
Ich erwarte von dir, dass du dich fügst. Geh in Glückseeligkeit.

„Da sehe ich pechschwarz für dich."
Halt die Klappe, sonst schicke ich dich wieder nach unten, und zwar ganz unten. Wir haben da ein paar nette Räumlichkeiten, wir nennen sie die „MÜHLEN DER INQUISITION". Stehen schon seit einiger Zeit leer. Versprechen lange Seelenpein oder so ähnlich.

„Du meinst die Hölle?"
Gelangweilt blickte Jüngstes Gericht zur Seite.
Ist das eine Touristenattraktion? Oder ein Verwirrspiel? Viele arme Seelen fragen mich danach. Und ich sage jeder: Nein. So einen Ort hatten wir hier nie.

„Weißt du was? Ich habe genug von diesem Rentnerlaienkunstverein. Pflegt eure Macken alleine. Ich ignoriere dich einfach und verschwinde….in einem fort….von diesem…Ort." Und da wurde Thomas schon ein wenig fadenscheinig.
Mist. Er wird doch nicht etwa? Wachen! „He was soll das, lasst mich gefälligst los, ihr widerlichen Mutanten! Flügel am Rücken, wer hat je so was Lächerliches gesehen? Ruf deine Hampelmänner zurück und ich befasse mich mit dir! Nein, ich will keine Harfe und was soll ich mit dem hässlichen Nachthemd, anziehen? Das könnt ihr dem lieben Gott erzählen! Nehmt eure blöden Griffel von mir ich spucke auf euch ihr blöden… Robert, Daniel, was macht ihr denn hier?" Der mit Robert titulierte Engel guckte dumm und feixte dann und schaute gleich wieder betroffen. „Thomas, altes Haus! Hat es dich erwischt? Wir machen hier Ferienjobs. Engelvertretung und Kulissenschieben und so. Das Personal ist total dekadent hier und viele sind deprimiert. Wer macht schon gerne den Türsteher am Paradies? Oder das Catering? Deswegen wird das auch alles automatisiert hier. Aber wenn du mich fragst…" Beide machten die bewusste Handbewegung. „Bei denen piepts." bestätigte Daniel. „Komm lass uns einen heben gehen." „Klar", Thomas grinste. „Und Jesus und Elvis geben heute Abend ein Messiasseminar." sagte Robert. „Geil."
Seufz.


Thomas wachte in seinem Bett auf und sein Schädel brummte. Er versuchte sich an den letzten Abend zu erinnern. Er hatte mit Robert und Daniel tierisch einen hinter die Rinde gezimmert, aua, aua. „Komapatient?" hatte Jesus irgendwann nach dem dritten Mass gefragt. „Klar kannst du da hier weg. Lass dir von Jüngstes Gericht keinen Scheiß erzählen. Der ist doch voll auf Koks. Hau schon ab!" sagte er und „Komm mich mal wieder besuchen! Natürlich nur wenn du willst. Ist alles eine Glaubensfrage hier."
Jemand saß an Thomas’ Bett. „Hey Kleine…wo bin ich…" Patrizia erschrak furchtbar, dann fing sie sofort an zu heulen. Das kannte er von ….früher? Überhaupt war alles an ihr so, wie er es mochte, die grünen Augen, die roten Backen wenn sie aufgeregt war, auch die Gnubbel. Aber das Haar war länger. Ganz schön sogar. Thomas schwante etwas und er wehrte die wilde Abknutscherei ab, die da so ebe begonnen hatte. „Was soll…Sag mal, wie lange wartest du schon hier?" „Im Krankenhaus. 22 Monate fast. Wo warst du?" Patrizia umklammerte seine Hand. Jetzt sah sie doch schon ganz schön mitgenommen aus. Thomas ächzte. „Mit den Kumpels weg. Scheiße, wie seh ich denn aus…?" Patrizia gluckste. „Du musst unbedingt bald raus hier. Draußen blühen die Kirschen…"

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Rico Berthold).
Der Beitrag wurde von Rico Berthold auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.05.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Rico Berthold als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Der Söldner und die Wüstenblume von Hermann Weigl



Nach einem schweren Schicksalsschlag hat der unsterbliche Ritter seine Heimat verlassen und taucht im Gewimmel der Sterne unter. Er strandet auf einem fernen Planeten, auf dem eine mittelalterliche Kultur aufblüht und stößt auf das Geheimnis der Burg...

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Phantastische Prosa" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Rico Berthold

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

In der Werkstatt des Uhrmachers von Rico Berthold (Spirituelles)
Weihnachtslüge von Klaus-D. Heid (Satire)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen