Elisabeth Zieger

Unter der Erde da ist es kalt...

Immer dieser Ort...

 

Irrek schlug die Augen auf und starrte an die kaum eine Hand breit von seinem Gesicht entfernte Zimmerdecke. Er fühlte, dass er blass aussehen musste. Seine Glieder kamen ihm unvorstellbar schwer vor und waren steif von einer undefinierbaren Kälte, welche irgendwo aus seinem Inneren zu entspringen schien. Eben, wenige Sekunden bevor er völlig aufgewacht war, war die Welt noch in Ordnung gewesen. Doch jetzt, ja allmorgendlich von neuem, traf es ihn wieder mit voller Wucht. Die Erkenntnis, dass er alles nur geträumt hatte, dass vor ihm nur ein weiterer Tag in der selben dunklen Enge wie an allen anderen Tagen auch lag, durchtränkte sein Gehirn ähnlich einem lähmenden Betäubungsmittel. Das gleißend helle Licht, die unglaubliche Weite konnte er eben nur im Schlaf sehen. Warum, wusste er nicht.

 

Träume!!! Als hätte seine Seele vom Schock der Einsicht ein Leck bekommen, lief das darin versiegelte bittere Gefühl langsam in seinen Köper. Er schmeckte es zuerst in seinem Mund fast wie Blut und ihm wurde übel davon. In Hals und Brust baute sich allmählich ein schmerzhafter Druck auf, sodass es ihm schien als dehne er sich gewaltsam über die normalen Grenzen seines Körpers hinweg aus, während sich das heiß brennende Etwas in ihm anstaute. Gleich müsste er die metallisch graue Decke berühren und links die steinerne Wand; aber nichts geschah.

 

Unnatürlich laut hallte das Ticken der großen Uhr durch den Schlafsaal. Bald würde es wohl erneut losgehen. Ein leises Knacken im Mechanismus, dann folgte ein kurzer Augenblick vollkommener Stille. Gespannt hielt Irrek den Atem an. SCHRRRRAMMMH! SCHRRRRAMMMHhh! Brutal schrillte und verklang der Wecker, ein leichtes Vibrieren unter seinem Rücken verursachend. Er würde also abermals von vorne beginnen müssen.

 

Wie jede der vielen Gestalten, die sich jetzt überall aus den nahezu endlosen Reihen  unzähliger übereinander gestockwerkter Schlafkojen erhoben, wusste Irrek genau, was gleich geschehen würde und was er nun zu tun hatte, bis er endlich am späten Abend zurück in sein Lager kriechen und sich ausruhen dürfte, denn nichts hier war ungewiss am nächsten Tag, außer der Frage ob man ihn erlebte.

 

Eigentlich war Irrek noch recht jung, weshalb sich sein Bett ganz oben befand, doch empfand er eher wie ein Greis. Seine Erinnerungen konnte er längst nicht mehr auseinander halten, denn sie glichen sich zu sehr. Jede Handlung war ihm und seinen Genossen bereits vorgeschrieben und man führte diese aus ohne Fragen zu stellen, oder gar am Sinn seines Tuns zu zweifeln.  

 

Nach dem Abstieg über eine zirka 100 m lange Leiter, spülte ein Strom schweigender Gefährten ihn erst in den Waschsalon, wo für jeden ein kleines Bad mit Dusche und WC vorhanden war, danach in den Speisesaal und zuletzt in die Schule. Dort erzählte ihm eine monotone Lautsprecherstimme bestimmt seit einer latenten Ewigkeit stets dasselbe und gleichgültig hing er auf seinem Platz, die ausdruckslosen Gesichter um sich herum betrachtend. Er kannte nicht einmal seine alltäglichen Nachbarn…

 

Einige Stunden später war Mittag. Manchmal brachte er die Mahlzeiten allerdings durcheinander, da es ohnehin nur ein einziges Menü gab: Eine geruchs- und geschmackslose beigefarbene Masse die angeblich alle notwendigen Nährstoffe enthielt. Über Bildschirme in den Tischplatten wurden unterdessen Aktivitäten für den Nachmittag verteilt. Irrek würde heute Schach gegen den Computer spielen, anschließend einen Flur reinigen und außerdem schwimmen gehen…

 

Während sein Trainings-PC ein Spiel nach dem anderen gewann, sann der geduldige Verlierer über das Dasein nach. Seit sie hier unten lebten, hatten die Menschen so viel vergessen. Ein digitales Programm leitete ihr Leben, übernahm jede Entscheidung und regulierte selbst intimste Abläufe, wie beispielsweise das Finden einer Partnerin. Bisher hatte Irrek zwar nur davon gehört, doch graute ihm vor dem Tag, an welchem er einer solchen unbekannten Idealgefährtin gegenüberstehen sollte. Alles wurde einem hier so einfach gemacht, doch genau dieser Umstand bedrückte ihn auf unerklärliche Weise und er vermutete oft, das es nicht immer so gewesen war...

 

Seine Gedanken schweiften ab zu dem Leuchten in seinem Traum, das so viel heller strahlte als die Lichtquellen des Untergrundes, deren Helligkeit sich wie flüssiges Metall in den Raum ergoss. Eine Erinnerung an jenes sagenumwobene Draußen? Öfter hörte man derzeit Meinungen, die besagten, es hätte nie ein solches Draußen gegeben. Einbildung? Gerücht?

 

Die trockene gefilterte Luft roch für Irrek im diesem Moment nach Traurigkeit. Wieso ging es anscheinend nur ihm so schlecht hier? Es musste an den Nächten liegen, welche ihn in diese geheimnisvolle Welt entführten, wo es kein Ende gab zu allen Seiten und wo er allein bestimmte, was er unternehmen wollte…

 

Eine Mail ermahnte ihn seine Aufgaben unverzüglich zu erledigen. Noch im Aufstehen hielt er jedoch inne. Vielleicht sollte ich das nicht tun, flüsterte eine leise Ahnung in seinem Kopf. Erschrocken über solch einen eigenmächtigen Gedanken, sprang er aber prompt hoch und rannte in Richtung seines Bestimmungsortes.

 

In Richtung seines Bestimmungsortes? Gähnende Leere quoll ihm aus einem vollkommen verlassenen Schlafsaal entgegen, der beinahe doppelt so groß war im Vergleich zu dem Seinigen und mindestens tausend Betten fasste, gestapelt gleich Büchern in einer Bibliothek. Wie konnte er bloß her gelangt sein? Die automatische Führung durch das immer gleich gestaltete Gebäude hatte sich dank seines ungewohnt schnellen Laufes aufgehangen! Mit unterdruckter Panik wandelte er im Kreis umher, unnütz aber unablässig. Sein Benutzerkonto war durch sein Fehlverhalten gelöscht! Er existierte nur noch als kleiner Fehler im Apparat... Was machen? Plötzliche Angst befiel seine Nerven, aber andererseits hatte er sich schon seit Langem nicht mehr so lebendig gefühlt. Wie ein Erleuchteter wanderte er durch den Untergrund. Menschen von farblosem Charakter gingen vor seinen Augen routiniert ihrer Arbeit nach, gleich Robotern hörten sie keinen seiner Rufe, reagierten auf keine seiner Gebärden. So hingebungsvoll vertieft schufen und zerstörten sie den Unsinn ihrer Umwelt, dass Irrek sich fragte, ob er tatsächlich aufgehört hatte zu sein? In den folgenden Tagen störte es jedenfalls niemanden, wenn er sich irgendwo Essen nahm oder in einer zufällig ausgewählten Koje schlief. Dafür hörten seine Träume auf. Je mehr er sich darum bemühte, sich an ihren Inhalt zu erinnern, umso mehr entglitten sie ihm. Dennoch trieb ihn ein unerklärliches Verlangen immer wieder an, in seiner kaum begonnenen Suche nach einer Lösung, einem Ausweg durchzuhalten, nicht zu verzagen. Die Einsamkeit,  welche seine plötzliche Unsichtbarkeit mit sich brachte erschwerte dieses Vorhaben. Allein der Außenstehende zu sein, abgesondert vom Rest der Menschheit, allein entscheiden zu müssen, ohne einen Ratschlag auf geprüften Daten basierend, war ungewohnt und extrem mühsam, zumal sich nirgendwo ein Hoffnungsschimmer zeigen wollte. Nichts als ausgedehnte Flure,  Büros, Schlaf-, Speise und Hörsäle, die Öde drohte ihn zu verschlingen!

 

„Bist du Irrek Feint?“

 

Schlagartig schrak der Angesprochene von seinem Stuhl auf, als eine schmeichlerische Stimme ihn von hinten anredete. „Ja!“ Nickte er höflich und musterte sein Gegenüber überrascht.

 

„Es tut uns äußerst Leid wegen der unliebsamen kleinen Angelegenheit bezüglich deines Bewohner-Accounts.“ Sagte der Fremde sachlich, ohne den Blick von seinen Papieren zu lösen. „Wir haben Ihnen inzwischen selbstverständlich einen neuen Zugang eingerichtet. Ihr Username lautet ab heute Gemir Mitter.“   

 

„Was?“ Mehr brachte der irritierte Junge nicht hervor. Er wollte doch nicht Gemir heißen! Und überhaupt!

 

„Sie sollen sich sofort einloggen.“ Fuhr der Beamte derweil desinteressiert fort. „Unser…“

 

„Nein!“ Hals über Kopf stürmte der Umgetaufte davon, einer schreckliche Furcht folgend, welche ihn bei dem Gedanken an eine Rückkehr in sein altes Leben überkam. Er konnte nicht mehr so sein wie bisher. Er war anders geworden! Aber nun hatten DIE ihn gewiss im Visier. Sein Fehlen hatte schließlich irgendwer bemerkt, also gab es auch Wächter, Beobachter, Steuerer!

 

„Komm mit mir!“ Mitten im Sprint zog auf einmal jemand an seinem Handgelenk. Widerstreben folgte der Flüchtende dem Mädchen weiter und weiter über Treppen und Flure, die allesamt nach oben führten. Vor einem riesigen Erdloch machten sie schließlich halt und neugierige Blicke hagelten auf das Pärchen ein. „Wer? Wo?“

 

„Willkommen bei den Außenseitern.“ Grüßte ihn die junge Frau an seiner Seite freundlich. Sie wirkte so eigenartig verklärt. „Wir sind alles Leute, die nicht mit dem System leben. Du bist einer von uns, wenn du möchtest. Hilf uns dem Untergrund zu entkommen, indem du mit uns an diesem Tunnel gräbst.“ Eine Gruppe junger Personen hatte sich um die beiden Ankömmlinge gebildet. Irrek trat verlegen einen Schritt zurück, sein Gehirn warf gerade lauter Eindrücke durcheinander. Also gibt es noch mehr wie mich, dachte er aufgeregt, und sie wollten offensichtlich, dass er sie unterstütze. Lauter werdendes Tuscheln riss ihn aus seinen Überlegungen. „Ruhe!“ Gebot eine strenge Stimme.

 

Die Umstehenden bildeten sofort ein Spalier, durch welches die große hagere Sprecherin würdevoll geschritten kam. Ihre Ausstrahlung schien -im Gegensatz zu der ihres Gefolges- wesentlich weniger selig, sondern wirkte erfahren und zugleich ziemlich überlegen. Der schmallippige Mund formte unter ihrer scharf geschnittenen Hakennase eine Art Lächeln, das freilich eher einer Formalität gleichkam anstatt einer netten Geste.

 

„Grüß dich, mein Kleiner. Ich bin die Leiterin der Außenseiter. Du hast in den letzten Tagen viel gelitten, nicht war? Mein Wunsch ist es daher, dich zu trösten. Falls du dich dazu entscheidest unserer Gruppe beizutreten, so werde ich gerne deine Qualen lindern. Du musst dafür nichts weiter tun, als am Bau des neuen Tunnels mitzuwirken. Erklärst du dich einverstanden?“

 

„J-ja?“ Stammelte Irrek auf den erwartungsvollen Blick der atemberaubend schnell redenden Anführerin hin reichlich nervös. Ein unheimlicher Zug der Befriedigung glitt über ihr raubvogelartiges Gesicht bei seinem Gestotter. „Gut so.“ Freute sie sich und Irrek hatte den unangenehmen Eindruck, soeben einen Pakt mit dem Teufel geschlossen zu haben. Seine voreilige Zusage war ihm selbst ein Rätsel.

 

„Dann gibt es jetzt erstmal Essen.“ Die allgemeine Reaktion auf diese Worte verblüffte. Verträumt glasige Augen begannen ringsum von einer Sekunde auf die Nächste begierig zu funkeln und eine lautlose Unruhe breitete sich aus. Einige der Anwesenden wurden sogar von heftigen Zitterkrämpfen befallen beim Anblick des normalen Speisebreis und wie ausgehungertes Getier stürzten sie sich darauf, dass ihre nur als Fressgeräusche zu bezeichnenden Laute, einem regelrecht den Appetit verderben konnten. Irrek war kein großer Esser und konnte daher nicht nachvollziehen, weshalb das geschmacklose Zeug so begehrenswert sein könnte, dass man dafür seine komplette Selbstbeherrschung aufgab. Sicher, er selbst hatte in letzter Zeit ebenfalls mehr davon zu sich genommen, aber nur weil das Treffen eigener Entscheidungen ihn unüblich viel Kraft kostete und er sich nach dem Verzehr einer großen Portion stets seltsam beruhigt und zufrieden fühlte. Derartig exzessiv ging er dabei allerdings nicht vor quittierte ihm ein kurzer Rückblick, obwohl ihn auch jetzt gerade wieder jenes Wohlbehagen durchflutete, stärker als sonst sogar, welches ihn gleichzeitig mit Tatendrang zu erfüllen vermochte. Raus hier! Graben! Eine Welle der Zuversichtlichkeit trug ihn tiefer in den finsteren Stollen und er schuftete bis er dank vollkommener Erschöpfung an Ort und Stelle einschlummerte.

 

Keine Träumereien, so vergingen die Wochen. Neue Außenseiter kamen hinzu, manche verschwanden, niemand kümmerte sich darum, denn der Knochenjob beanspruchte die ganz Aufmerksamkeit der Grabenden. Glücksgefühle und Entschlossenheit trieben jeden hier zur Höchstleistung an. Sie wollten sich ihre bedeutsamsten Wünsche erfüllen und waren zuversichtlich...   

 

Zusehends verlangte Irrek unterdessen nach mehr und mehr Nahrung und er erwischte sich öfter bei dem Gedanken, sich vordrängeln zu müssen oder einem Anderen den Teller zu stehlen. Wütend über sich selbst verdonnerte er sich in solchen Situationen zu Überstunden, probierte und überdehnte seine natürlichen Grenzen.

 

Einmal verpasse er so die Mittagspause. Verzweifelt fragte und suchte der Verspätete nach den Austeilern oder der Leiterin, um doch noch ein Wenig zu bekommen, wohl wissend, dass nie Reste übrig blieben…

 

Seine Vorräte erschöpften sich dramatisch, der ausgezehrte Körper wollte ihm nicht mehr gehorchen. Unerklärlicher Kummer sickerte aus seinem Herzen in sein Bewusstsein und Zweifel wurden laut. Woher kam so unvermittelt diese starke Traurigkeit? War es wirklich nur der Hunger? Ihm schien es mehr wie das Erwachen aus langer Betäubung und kritisch begutachtete er sein Werk. Der Fortschritt wirkte erbärmlich, kaum ein paar Meter nach seiner Schätzung. Wann würden sie je fertig werden? Und vor allem, warum führte der Gang überhaupt geradeaus statt der Verheißung nach, nach oben in die Freiheit? Ein waagerechter Tunnel bringt ja niemanden an die Oberfläche!

 

Verbissen hackte eine junge Frau auf die lehmige Erdmasse vor sich ein mit wilder Verzückung im verschwitzten Antlitz. Am liebsten hätte Irrek sie an ihrem sinnlosen Handeln gehindert, aber seine abgekämpften Gliedmaßen regten sich nicht. Über sich selbst lachend sank er kraftlos auf den modrigem Boden hinab und heftige Alpträume, in welchen wahnsinnige Menschenmassen die Erde durchhöhlten, schüttelten seinen Schlaf. „Nach oben!“ Rief er ungehört ins Leere… 

 

Keine Geräusche sondern die totale Stille holten ihn schließlich zurück ins Bewusstsein. Vorsichtig tastend fand er den Weg aus dem Stollen, wo gerade die Leiterin ein neues Mitglied willkommen hieß. Der verschüchterte Bursche stand ihr blassbläulich angelaufen gegenüber. „Tu’s nicht! Das ist eine Falle!“ Schrie Irrek zu seiner eigenen Überraschung.

 

Die innerhalb nur eines Augenblicks gewonnenen Erkenntnisse erklärten sich im selben Moment wie seine Zunge schon die Schlussfolgerung ausformulierte. Mit einem Schlag hatte er alles durchschaut! Die Leiterin und der Neuling, sie beide teilten die gleiche Klarheit wie sonst kein Anwesender. Es war offensichtlich, dass diese große, Missbehagen einflößende Frau mit zum System gehörte, ebenso wie der Flur, an dem die falschen Außenseiter arbeiteten!  Das Essen war der Schlüssel, sie gefügig zu machen. Alle gefügig zu machen! Wer hier arbeitete war weniger anfällig für die chemische Beeinflussung, benötigte eine höhere Dosis des befriedigenden Mittels, welches Fantasie und Willen raubte, dafür aber Gleichmut und Gelassenheit schenkte. Deshalb erinnerte, träumte und litt er kaum noch seit seinem Austritt aus dem gängigem Untergrundbetrieb und seit er häufiger und besser aß. Mehrmals wenn Irrek während seiner einsamen Suche aufgewacht war, hatte er nicht mehr gewusst wo und warum er sich an einer bestimmten Stelle befand oder was er dort tat. Die beglückten Gesichter der Umstehenden erschreckten ihn mit einem Mal, denn was verbarg sich wirklich dahinter?

 

Bedrohlich schlossen sich die Augenbraunen der Führerin zu einer einzigen Linie zusammen, nachdem sie ihn gehört hatte und intuitiv begann Irrek zu rennen. Seine Hacke, die vorsorglich in der rechten Hand des Flüchtenden verblieben war, zur Waffe machend bahnte sich der plötzlich von neuem Mut Erfüllte seinen Weg durch die unbeeindruckten Außenseiter. „Ihr seid alle betrogen!“  Nur Einen erreichte sein wütender Ruf: Den verstörten Anwärter auf die inzwischen recht fragwürdig anmutende Karriere als Schachtarbeiter, welcher ihm mit flüchtigem Kopfschütteln in Richtung der Führerin spontan nachlief. „Immer nach oben! Das Licht ist dort oben!“ Wies Irrek ihn während ihres gemeinsamen  Spurts an, welcher sie eine unsägliche Anzahl Stufen hinauf führte und war froh vielleicht wenigstens diesen Jungen retten zu können.

 

Beide folgten ihrem Instinkt oder möglicherweise auch einer wagen Erinnerung. Der Weg schien, sobald sie die Traube hungriger und daher motivationsloser Außenseiter hinter sich gelassen hatten, erstaunlicher Weise frei von Widersachern. Lediglich vor der vermutlich letzten Leiter, welche inmitten einer schier grenzenlosen Halle platziert war, wartete ein seltsamer dicker Mann auf sie. Sein graugelblicher Bart sah älter aus als der Greis selbst und reichte ihm zweimal um die Hüften gewunden immer noch bis auf den schwarz weiß gefliesten Boden herab. Mit gelassener Mimik fixierte er die Ankömmlinge. „Wollt ihr raus?“ Dröhnte seine tief grollende Stimme den beiden Jungs entgegen. Irrek fiel auf, wie sein Begleiter haltlos zitterte. Das endlos erscheinende Nichts um sie herum konnte einem wahrlich den Verstand rauben. Die Horizontlinie flimmerte undeutlich vor seinen Augen, sodass dieser Ort wohl höchstens mit einer Wüste oder dem Ozean vergleichbar wäre, ohne jeden Anhaltspunkt für die sich in unabschätzbarer Ferne verlierenden Augen. So ähnlich musste ein Sternenhimmel sein, das Universum!

 

„So ist es.“ Antwortete Irrek nach einer Weile zögerlich, weil weiterhin um Fassung ringend. Der begrenzte menschliche Geist, kann das Ewige nicht verstehen, denn Raum und Zeit sind nur unsere Methoden, um damit eine Wirklichkeit wahrzunehmen, die in Wirklichkeit ohne Zeit ist.  

 

„Bedenkt. Niemand kann euch sagen, was euch dort erwartet. Ich hoffe euch ist bewusst, dass wahrscheinlich nur der Tod da oben lauert.“ Warnte der Alte. „Ich gehe dennoch.“ Erwiderte Irrek, worauf der zunehmend bleicher werdende Jüngling neben ihm ein leises Wimmern anfing und langsam vor ihm zurückwich. „Du wirst sicher bleiben.“ Mit ausladendem Winken bedeutete eine faltige Hand seinem ängstlichen Mitläufer zu gehen, nachdem der Graukopf ihn kurz aufmerksam gemustert hatte.

 

„Dann mache ich es eben allein.“ Irreks Entscheidung stand fest und ohne nochmaliges Umdrehen begann er seinen letzten Aufstieg. Die Strapazen der vergangenen Höchstleistungen machten sich jetzt deutlich bemerkbar. Ausgelaugt drückte er förmlich mit letzter Kraft die kleine Silberklinke der sechseckigen Dachluke herunter, die ihn endlich aus dem Untergrund entlassen sollte und mit einem glühend heißen Schwall aus farbenfroh schillernder Helligkeit wurde er augenblicklich nach Draußen gesogen. Danach klappte die Tür hinter ihm wieder zu, sodass der gleißende Lichtstahl, welcher beinahe die gesamte Halle auszufüllen vermocht hatte erlosch und automatisch wurde in den unterirdischen Computern das Benutzerkonto „Gemir Mitter“ gelöscht.  

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.05.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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