Klaus Georg

Meine kleine Stadt

Manchmal, wenn ich das Gefühl habe im täglichen Ablauf zu versinken, wenn zu vieles sinnlos erscheint von dem was ich sehe und wenn ich in einem durch Asphalt durchbrechenden Löwenzahn kein Wunder mehr zu erkennen vermag, dann weiß ich, es wird wieder Zeit die kleinen Dinge zu suchen.

Die wahren Wunder, wie eine Freundin mir mal gesagt hat.

Dann zieht es mich unaufhaltsam hinaus auf Wiesen und Felder, über Stock und Stein in den dichtesten Wald.
Ich gehe fischen, sage ich dann immer und hoffe, irgendwo dort draußen wieder zu finden, was ich verloren zu haben glaube.
Einmal, es war noch sehr früh am Morgen und ich war auch noch nicht lange unterwegs, traf ich an einem Waldrand einen alten Mann. Er saß auf einer halb verfallenen Bank und sah hinaus auf die endlos scheinenden Felder. Die Sonne war gerade erst aufgegangen und noch nicht stark genug den Nebel zu vertreiben, der sich hartnäckig noch an Büschen und Bäumen festhielt als gelte es, ein sorgsam gehütetes Geheimnis vor uns zu bewahren.
Eine gespenstische und doch auch wunderbare Welt bot sich unseren Augen dar.
 
Wo er denn herkäme, habe ich den alten Mann gefragt, eigentlich mehr um überhaupt etwas zu sagen als aus wirklicher Neugierde.
Dort hinten, hat er gesagt und mit dem rechten Arm in den Nebel hinaus gedeutet, dort hinten ist meine kleine Stadt.
Und wie zur Bekräftigung hat er mit dem Kopf ein paar Mal genickt und mir dabei in die Augen geschaut.
Dort hinten ist sie, meine kleine Stadt, wiederholte er, man muss nur wissen wo.
Und dann fing er an, von seiner kleinen Stadt zu erzählen.
 
Groß ist sie nicht, sagte er ein wenig bedauernd, und eigentlich ist es auch nur ein kleines Dorf das niemand kennt. Aber irgendwann wird es eine große Stadt sein, da bin ich mir ganz sicher.
Manchmal kommen Sonntags Besucher zu uns und schauen sich alles an. Sogar an unseren Fenstern haben sie schon gestanden, schmunzelte er, und ganz verwundert hineingeschaut. Aber als wir ihnen zu Essen und zu Trinken angeboten haben  und sie einladen wollten mit uns zu feiern, da sind sie sehr schnell wieder verschwunden.
Sie haben sich bei uns wohl nicht so recht wohlgefühlt, nehmen wir an.
Nähe muss erwünscht sein um sie zu ertragen, und vielleicht sind wir ihnen ja auch nur etwas zu nahe gekommen.
 
Unsere Stadt hat nur eine einzige Strasse, aber da findet man alles was man braucht.
Irgendwann vor langer Zeit, sagte er heiter und schüttelte sich vor Lachen, da wollten wir der Strasse  einmal einen Namen geben. Unser Bürgermeister wollte unbedingt an einer Strasse mit Namen wohnen weil ihn sonst, wie er immer wieder mit gewichtiger Mine sagte, die Einladung des Präsidenten nicht erreichen  würde.
Der Präsident hat Besseres zu tun als dich einzuladen, haben wir erwidert und ihn damit furchtbar beleidigt.
Also haben wir doch versucht, einen Namen zu finden. Sogar eine Bürgerbefragung haben wir durchgeführt, aber wir haben keinen Namen gefunden der gepasst hätte.
Und wahrscheinlich war es uns auch nicht wichtig genug.
 
In der Mitte steht unsere Kirche, schon sehr alt und nicht sehr groß. Die Eingangstür ist schief und knarrt in den Angeln und Wind und Wetter haben längst tiefe Spuren hinterlassen. Aber was soll’s, Hauptsache es geht alles hinein was nicht niet- und nagelfest ist.
Wir haben einen Organisten, der uns Sonntags etwas auf der altersschwachen Orgel vorspielt und der steif und fest behauptet, schon in allen möglichen Konzertsälen der Welt gespielt zu haben.
Vor Publikum sogar.
Und er gerät regelmäßig in Panik wenn eines der Kinder seiner Orgel zu nahe kommt.
 
Manchmal kommt ein stellungsloser zerstreuter Professor in unsere Stadt, klopft an jede Tür und fragt, ob jemand seinen Assistenten gesehen hätte. Nach dem letzten Atomwaffentest sei er spurlos verschwunden, sagt er.
Alle zucken nur bedauernd mit der Schulter, aber niemand schlägt ihm die Tür vor der Nase zu.
Und dann fragt er, ob er wenigstens unser Wohnzimmer zur atomwaffenfreien Zone erklären darf.
Und niemand hat etwas dagegen.
 
Ein paar Behinderte gibt es auch bei uns, aber sie stehen nicht abseits wie in anderen Städten, sondern sind uns lieb und teuer und nehmen, wie alle anderen, am täglichen Leben teil.
Rudy zum Beispiel, unser kleines Downy, wie wir immer liebevoll sagen, zieht jeden morgen singend und tanzend mit den anderen Kindern in Richtung Schule.
Sie lernt wie alle anderen Kinder auch, vielleicht nicht so schnell und vielleicht auch nicht so viel, aber es macht ihr Spaß und alle wollen, dass es ihr gut geht.
Zwei Schulen gibt es bei uns : eine Achtungsschule, in der die Alten den Jungen Achtung und Ehrfurcht lehren, und eine Staunschule, in der die Jungen den Alten wieder das Staunen beibringen. Und in beiden Schulen schwebt der Geist von Hugo Kükelhaus und wacht darüber, dass es allen gut geht.
 
Einen Augenblick hielt der alte Mann inne und atmete tief durch. Dann schaut er mich an als wolle er fragen, ob ich denn auch alles verstanden hätte was er mir bis jetzt erzählt hat.
Das ist nicht einfach so eine Geschichte, sagt mir sein Blick, das ist Stoff zum Nachdenken für ein halbes Leben.
Nun gut, gebe ich insgeheim etwas verärgert zu, ich weiß zwar noch nicht wer Hugo Kükelhaus ist, aber das lässt sich ja ändern. Und über den Rest wird man ja wohl erst einmal nachdenken dürfen.
Wie dem auch sei, sein Urteil muss vernichtend gewesen sein denn er schüttelt mehrmals den Kopf und beginnt seufzend wieder mit seiner Geschichte.
 
Wir haben sogar einen Philosophen in unserer Stadt, fährt er fort, der unentwegt nach dem Sinn des Lebens sucht und fest davon überzeugt ist, ihn irgendwann in der Nähe seiner Fingerspitzen zu finden.
Statt einer Begrüßung fragt er immer ‚wer bin ich ?’ und hofft, wie er sagt, auf diese Weise sein verlorenes ‚ich’ wieder zu finden. Niemand findet das lustig oder lacht gar darüber, ganz im Gegenteil, einige stehen sogar auf und tun wenigstens so, als wollten sie ihm beim Suchen helfen.
Manchmal geht er zu jemandem hin und beobachtet genau was er macht. Und dann fragt er ihn, warum er es denn gemacht hätte.
Dann schauen ihn die Leute an, lächeln und sagen : schon gut Sokrates, lass gut sein.
Jemand hat ihn mal nach seinem wirklichen Namen gefragt und da hat er ganz erstaunt die Stirn in Falten gezogen und geantwortet, er wisse es nicht.
Ich weiß nur dass ich nichts weiß, sagt er immer.
Und wenn er abends nach hause kommt hat er immer größte Schwierigkeiten, das alles seiner nichtsahnenden Freundin zu erklären.
 
Einmal im Monat kommt ein Landstreicher in unsere Stadt und wandert stundenlang gemessenen Schrittes unsere Strasse auf und ab. In der Hand hält er, wie er jedem hinter vorgehaltener Hand sagt, geheime russische und amerikanische Dokumente die angeblich besagen, dass ein Herr Kennedy nicht erschossen, sondern entführt worden ist. Keiner weiß wer er ist und keiner versteht auch nur ein Wort von dem, was er sagt, aber alle öffnen ihre Spardosen und geben ihm etwas Geld weil sie wollen, dass er nächsten Monat wiederkommt.
 
Manchmal sieht man die wasserstoffblonde Rosa mit ihrem roten Kleid und ihrer überdimensionalen giftgrünen Federboa über unsere Strasse flanieren. Jeder weiß, dass sie mit jedem mal was gehabt hat, aber keiner kommt auf die Idee, darüber die Stirn zu runzeln.
Sie sei die Wiege des Lebens, hat unser Dorfschmied  einmal augenzwinkernd gesagt. Im Stadtrat sitzt sie immer neben der Lebensgefährtin des Pfarrers und tauscht mit ihr, allen wütenden Blicken des Bürgermeisters zum Trotz, Kochrezepte aus.
 
An jedem zweiten Sonntag im Monat um die gleiche Zeit legt unser sensibler Dorpolizist sein Amt nieder und tritt wegen Arbeitsmangel in einen unbefristeten Streik. Dann marschiert er dreimal unsere Strasse auf und ab und verkündet mit lauter Stimme :
Herr Bürgermeister, ich kündige !
Dann treten wir alle tief betrübt vor unsere Türen und überreichen ihm eine selbstgepflückte Rose und einen langen Brief in dem wir ihn bitten, sein schweres Amt zu unser aller Wohl weiter zu führen.
Und wenn er alles eingesammelt hat, begleiten wir ihn alle mit Marschmusik wieder auf seine Amtsstube.
 
Und dann kommt wieder einmal der stellungslose zerstreute Professor zu uns und fragt, ob wir nicht sein Versuchskaninchen irgendwo gesehen hätten. Er müsse es dringend wieder einfangen um, wie er mit ernster Mine erklärt, die Welt vor dem sicheren Untergang zu bewahren.
Alle schauen sich um und schütteln nur bedauernd mit dem Kopf und alle sind damit einverstanden, dass er statt dessen unsere Toiletten zur atomwaffenfreien Zone erklärt.
 
Sogar eine kleine Galerie gibt es bei uns, in der unsere jungen Künstlerinnen und Künstler ihre Werke ausstellen. Alle sind mit Ernst und großem Eifer bei der Sache, und alle sind wild entschlossen, in ihren Werken das Leben einzufangen.
Manchmal brauchen sie mehrere Tage für einen einzigen Pinselstrich, und manchmal malen sie mehrere Bilder an einen einzigen Tag.
Wie das Leben so ist, sagen sie.
 
Auch den einen oder anderen Dummen haben wir in unserer Stadt. Einer von ihnen schläft regelmäßig jeden Nachmittag bei dem vergeblichen Versuch ein, wenigstens einmal im Leben alle sogenannten Talk-Shows gesehen zu haben. Gegen Abend wacht er dann auf, nimmt ein Zentimetermaß und legt es sich um die Stirn um zu messen, ob sich sein Bewusstsein schon erweitert hat.
 
Wir haben einen Arzt der wunderschöne Kommoden schreinern kann und einen Schreiner, der am Wochenende unsere Hühner und Gänse verarztet.
Und einen Schuster haben wir, von dem keiner weiß, wie alt er wirklich ist. Manche sagen, er hätte die Stadt gegründet.
Einmal in der Woche dürfen die Kinder die Schule schwänzen und dann treffen sie sich alle in seiner kleinen Werkstatt und hören seinen Geschichten zu.
Manchmal sind diese Geschichten traurig und rühren die Kinder zu Tränen, und manchmal sind sie heiter und zaubern ein fröhliches Lachen auf ihre kleinen Gesichter.
Meine Geschichten sind wie ich selbst, sagt er immer, manchmal traurig und sentimental und manchmal heiter und fröhlich.
Aber in seinen Geschichten kommen weder Menschen noch Tiere zu Schaden, selbst das Osterlamm wird nicht geopfert sondern darf in unseren Stuben umherlaufen.
Es gibt bei uns weder Krieg noch schlechte Taten, die sich hinter guten Absichten verstecken. Auch mit edlen Ideen, sagt ein jüdisches Sprichwort, kann man die Welt vernichten.
Worte wie Neid und Missgunst haben wir vor langer Zeit ersetzt durch Toleranz und Mitgefühl.
Wir kennen keinen scheelen Blick, bei uns darf alles bis ins hohe Alter gedacht, gesagt und diskutiert werden.
Schlimm ist für uns nicht das, was gesagt wird. Schlimm ist, wenn man sich nicht mehr traut es zu sagen.
Jeder in unserer Stadt wird von jedem anderen hoch geachtet, sei es als Partner, im Beruf oder einfach nur als Mensch.
Niemand kommt auf den Gedanken, er sei besser oder schlechter, wertvoller oder wertloser als die Anderen.
Wir stecken voller Fehler, aber wir kennen sie alle und sind stolz darauf.
Auch die Politik kommt bei uns nicht zu kurz.
Ein paar Grüne gibt es, auch Rote und Schwarze. Sogar einen Braunen haben wir in unseren Reihen, der als Vorsitzender unseres Fremdenverkehrsvereins regelmäßig in größte Schwierigkeiten gerät bei dem Versuch, Fremde zum Besuch unserer Stadt zu bewegen.
 
Unsere Kirche ist jeden Sonntag bis auf den letzten Platz gefüllt. Manche haben die Bibel vor sich, manche die Thora und manche den Koran. Und wieder andere lesen in den Schriften Buddahs.
Und alle sitzen einträchtig nebeneinander, beten zu ihrem Gott und danken für das, was sie haben dürfen. Und niemand kommt auf die Idee, seinen Glauben für den einzig wahren zu halten.
Niemand muss, aber jeder darf.
Und genau das ist unser Geheimnis, dass man nichts muss, aber alles darf.
Und weil man alles darf, muss man nicht alles.
 
Und am Abend treffen wir uns alle im ‚Goldenen Krug’ und feiern ein fröhliches Fest. Dann wird getrunken, geredet und diskutiert bis der Tag sich dem Ende zuneigt und der Dorfschmied sich den betrunkenen Organisten über die Schulter wirft und nach Hause bringt.
Ab und zu stellen wir uns nachts auf dem Dorfplatz auf und horchen in die Nacht hinaus. Und wenn der Wind aus Westen zu uns herüberweht hören wir manchmal ganz leise, was in den anderen Städten so vor sich geht.
Dann hören wir auch das Gelächter aus ihren Kneipen und Gaststätten, wenn sie über uns reden und lästern.
Doch es kümmert uns nicht und wir gehen leise lächelnd nach hause.
Denn eines Tages werden sie alle vor unserer Tür stehen und wollen eingelassen werden.
Einer nach dem Anderen.
Und wenn wir sie dann zum Essen und Trinken einladen werden sie nicht mehr zurückschrecken und die Flucht ergreifen.
Sie werden bleiben.
Wir liegen nämlich nicht mit betrunkenen Köpfen auf den Biertischen und schwatzen etwas von Utopie.
Wir sind Utopie.
Noch jedenfalls.
 
Hier endete seine Geschichte und er hielt erschöpft inne.
Den letzten Satz, das letzte Wort hatte der alte Mann geradezu beschwörend und mit erhobenem Zeigefinger gesagt.
Dann ist er aufgestanden, hat freundlich 'wir sehen uns' gesagt und ist langsam im Wald verschwunden.
Und ich bin sicher, er hat mir dabei noch kurz zugezwinkert.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.05.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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