Florence Siwak

FÜR GUT

Annemarie musterte sich kritisch im Spiegel.
„Ja, ja, schon gut, Mama“ murmelte sie.
„Ich hätte den guten Hosenanzug wirklich nicht zum Räumen anziehen sollen...“

In Annemaries Familie wurde schon immer viel Wert auf  Formen gelegt. Einiges war eben nur „für gut“, so auch der elegante schwarze Anzug, den sie heute trug, während sie in der Wohnung ihrer Mutter Sachen von links nach rechts räumte.

Gut in Erinnerung waren ihr noch die hauchfeinen Tassen, die sie jetzt gegen das Licht hielt. Die wurden wirklich nur für die alleredelsten Anlässe aus dem Schrank genommen, heiß, aber nicht  z u  heiß gespült, mit einem Tuch aus reinem Leinen sanft poliert und vorsichtig auf dem weißen Leinentischtuch platziert.

Jetzt wehte ein rauerer Wind und die verwöhnten Luxusteilchen standen kurz von einem Umzug in eine Umgebung, in der ein resoluter Geschirrspüler und nicht zarte Händchen das Zepter schwangen.

Schuldbewusst wischte Annemarie mit einem Taschentuch Staub vom Jacket und verfluchte erneut ihre morgendliche Entscheidung vor dem Kleiderschrank.

Sie war inzwischen in der Abteilung „Kittelschürzen“ ihrer Mutter angekommen. Eine riesige, tiefe Schublade wurde bewohnt von diesen geblümten, gestreiften und unifarbenen Ungetümen, dazu gedacht, die strapazierfähigen Wollkleider zu schützen, die zwar schon für besser, aber eben nicht für „gut“ waren.

Zum Schutz dieser wenigen Kleidungsstücke dienten zwei weiße Leinenschürzen, die natürlich abgenommen und sauber gefaltet wurden, bevor man zu Tisch ging.

„So, Mama, hier ist es ja. Dein wirklich bestes Kleid!“

Sie schälte vorsichtig ein dunkelblaues feines Wollkleid mit langen Ärmeln und weißen Manschetten von einem extra gepolsterten Bügel, legte es sorgsam zusammen und packte es in eine Plastiktüte.

Seufzend zog sie die Schlafzimmertür hinter sich ins Schloss. Ganz leise. In der Hand die Tüte mit dem Kleid, das ihre Mutter sich „für ganz besondere Anlässe“ aufgehoben hatte.

Noch einmal sah sie sich abschließend in der Wohnung um, die früher einmal ihr Zuhause gewesen war.

„Tschüss, Mama“ sagte sie leise und schwenkte die Tüte ganz leicht in Richtung Schlafzimmer.

„Diesmal wirst Du dieses Kleid tragen, Mama. Einen besseren Anlass gibt es nicht mehr, Dein gutes Kleid anzuziehen – auf Deinem letzten Gang.“
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.05.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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