Viktor Prieb

Philologie des Genozids und Politologie des Siegers


oder
über das Schicksal Deutschlands und das linguistische Durcheinander im Demokratieunterricht und im Internationalrecht


(Aus dem Buch "Der Zug fährt ab“
www.literatur-viktor-prieb.de
 
 
Die Sache mit der Fluchtreise geriet also in Vaters Visier und wurde von ihm mit seinem vollen Verstand und auf seine abstrakte Weise entschieden. So begann das Spiel, das sie jetzt samt zweier Koffer, zweier Aktentaschen vom Typ „Diplomat“ und einer großen Tüte mit Essen und Trinken für unterwegs in diesen Zug führte – trotz aller Verwirrungen der Zeit; dank aller Vorzüge und trotz aller Nachteile der Perestrojka, die sich fast tagtäglich für sie ergaben.

Bereits bei den Reisevorbereitungen stellte es sich fest, dass sich alles in der UdSSR – was immer so verkrustet steinfest und verrostet eisern war – immer mehr während der sich seit vier Jahren quälenden Perestrojka als etwas verschwommen, unsicher und brüchig erwies und manches sogar durch dieselbe dazu wurde.

Am Anfang wirkte es sich auf Vaters Plan positiv aus.  Er  wusste immer in seinem Leben, dass er nie über die Grenze des Sowjetreiches hinaus durfte. Dafür sorgte allein seine deutsche Nationalität, die in die im Lande berühmte fünfte Zeile seines Innenpasses fest eingetragen war.

Durch diesen von seinem Vater geerbten „Umstand“ wurde er zunächst – gleich bei seiner Geburt – sogar in eine Fünfkilometerzone des sibirischen Teils des Reiches eingewiesen. Eigentlich nicht er persönlich, sondern seine Eltern wurden zusammen mit allen anderen deutschen Kolonistenfamilien in solche Zonen hinter dem Ural unter die Kommandanturaufsicht gesteckt.

Es passierte infolge des russischen – zuerst im Zarenreich panslawischen, dann im Sowjetischen Stalinreich revolutionär-leninistisch-jüdisch-weltkommunistischen – Chauvinismus im Zusammenspiel mit dem deutschen – zuerst im preußischen Kaiserreich pangermanischen, dann im Dritten Hitlerreich national-sozialistisch-rassistisch-faschistischen – Chauvinismus. Oder so.

Jedenfalls führte das teuflische Zusammenspiel letztendlich und unausweichlich zum Ersten deutsch-russischen Krieg zwischen dem Kaiserreich und dem Zarenreich und dann später zum Zweiten deutsch-russischen Krieg zwischen dem Deutsch- und dem Sowjetland, beziehungsweise – wie manche behaupten [Suworow] – zwischen dem Sowjet- und dem Deutschland.

Der Erste Krieg führte zum noch seitens des Zaren vorbereiteten und dann seitens der Bolschewiken und Kommunisten vollzogenen Ende der Existenz der reichen und starken deutschen Kolonien in Russland und der Zweite dann zum seitens des kommunistischen Sowjetregimes entfesselten Beginn der Vernichtung der verarmten und harmlosen Reste der deutschen Kolonisten ausschließlich wegen ihrer Nationalität, die diese Volksgruppe verdächtigt machte, auf irgendwelche Weise zum feindlichen, schon wieder gegen Russland kriegführenden Deutschland zu gehören.
 
*
 
Viele Menschennationen auf der Welt mögen bestimmte, manche ihrer verbrecherischen und schmutzigen Taten direkt und indiskret definierende Begriffe veredeln, indem sie diese ins Griechisch-Lateinische übersetzen. Wenn jemand das, was mit den deutschen Kolonisten in Russland nach ihrem vom sowjetischen Politbüro am 28. August 1941 gesprochenen Ermordungsurteil geschah, hätte auf diese Weise veredeln wollen, sollte er es „Genozid“ nennen. Dann hätte auch kein anderer, sich womöglich dafür interessierender Mensch in dicken Geschichtebänden mühsam nach dieser Geschichte suchen müssen – darin steht sowieso gar nichts über diese Geschichte geschrieben.

Der Interessent hätte dann einfach diesen Begriff in jedem Lexikon nachschlagen können. Im deutschen Lexikon „Wahrig“[1], zum Beispiel, findet man eine sehr knappe und sehr zurückhaltende  Zurückübersetzung ins Deutsche:
 
„Genozid = Völkermord [zu lat. genus „Geschlecht, Stamm“ + caedere „töten“]“.
 
Sonst gar nicht. Schlicht und knapp. Die Deutschen zeigen ihre „Political Correctness“ und wollen in dem Begriff nicht besonders herumstöbern, weil sie sich nach ihrer Nazi-Vergangenheit eingebildet haben und viel mehr in der langen Nachkriegszeit dazu umgebildet wurden, dass „Genozid“ eine Bezeichnung für die spezifisch deutsche, nur ihnen zu eigen gemachte und auch noch erbliche Nationalkrankheit sei, für die seit dem Kriegsende alle deutschen Kinder und Enkelkinder mit einem Schandmal geschändet, psychoterrorisiert und getreten worden waren, worden sind und – wie der drogenabhängige und die Vorliebe zu illegalen slawischen Prostituierten aufweisende Vertreter des Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Deutschland mal ohne jede Vorliebe zu deutschen Kindern versprach – alle ihre Nachkommen für ewige Zeiten geschändet, psychoterrorisiert und getreten sein werden.

Diese Knappheit führt aber irre, weil man fälschlicherweise denken könnte, dass dies ein anderer Begriff für „Krieg“ wäre, denn in jedem Kriege morden sich die kriegführenden Völker gegenseitig. Ein oberflächlicher Leser – wenn er daraus hätte doch mehr erfahren wollen – hätte außerdem aus dem Inhalt der eckigen Klammern auf etwas Sinnloses wie „Genussmord“, „Stammcidre“ oder sogar „Geschlechtsverkehr“ kommen können. Das Letztere wäre auch nicht so verkehrt, wenn man daran denkt, was für ein mörderischer Verkehraufwand von Viehwaggons die Sowjetmetzger benötigten, um Hunderttausende vom deutschen Geschlecht in Russland zu ihren „Schlachthöfen“ zu transportieren.

Da es in Russland kein gängiges und wie im Deutsch so dreisilbig einfaches russisches Word dafür gibt, findet man zum Beispiel in dem im Jahre 1955 – als der diesem Genozid ausgesetzte Vater-Kleine gerade mal vier Jahre alt war – herausgegebenen und sich auf die Situation des Kleinen gar nicht beziehenden Lexikon „Fremdwörterbuch“[2] eine etwas breitere und nicht so zurückhaltende – die Sowjets haben es nicht nötig, weil sie so etwas wie Genozid nie offiziell begangen haben – Zurückübersetzung, wenn auch nicht gerade ins Russische, sondern ins Sowjetische:

„Genozid [gr. genos „Geschlecht“ + lat. caedere „töten“] – Vernichtung einzelner Völkergruppen aus den auf ihre Nationalität (Religion) bezogenen Beweggründen – das schwerste von Imperialisten begehende Verbrechen gegen die Menschheit. Genozid ist organisch mit faschistischen und rassistischen ‚Theorien’ verbunden, die National- und Rassenhass – Herrschaft von sogenannten ‚höheren’ Rassen und Vernichtung von sogenannten ‚niedrigeren’ Rassen – propagieren.“

Ziemlich verwirrend sind die beiden Zurückübersetzungen. Dem deutschen Lexikon nach ist weder die von sowjetischen Kommunisten begangene Ermordung von deutschen Kolonisten in Russland als Genozid zu bezeichnen – denn, wenn man diese Kolonisten nur als einen Teil des deutschen Volkes betrachtet, dann war es eben ein Krieg, in dem die Völker Russlands und Deutschlands sich gegenseitig, ohne erkennbare, auf ihre Nationalität bezogene Beweggründe mordeten –; noch die von deutschen Nazis begangene Ermordung von Juden – denn das Judentum ist keine Nationalität, sondern eine Religion und somit sind Juden kein Volk im Sinne einer durch gemeinsame Sprache und Kultur verbundenen Gemeinschaft von Menschen, das man aus den im deutschen Lexikon unbestimmten Beweggründen morden kann, sondern eine durch die ganze vielsprachige und multikulturelle Welt zerstreute Religionsgemeinschaft von Menschen.

Dem sowjetischen Lexikon nach, wenn man nur aus dem Inhalt der eckigen Klammern so etwas wie „Genossenmord“ zusammenbastelt, sollte man eigentlich die von Stalin und seiner Vernichtungsmaschinerie begangene Ermordung von seinen eigenen Parteigenossen als Genozid betrachten, besonders wenn man dazu den Kommunismusglauben – auf den Inhalt der runden Klammern bezogen – auch als eine Religion verstehen würde.

Bei weiterer Analyse der sowjetischen Definition hätte man die Ermordung von deutschen Kolonisten als einer nationalen Volksgruppe in Russland schon als Genozid betrachten können – jedoch nur dann, wenn man gleichzeitig die diese Ermordung im Sowjetimperium begangenen Kommunisten als Imperialisten betrachten dürfte, was historisch bekanntlich nie der Fall war.

Der Bevölkerungsteil jüdischen Glaubens im Dritten Deutschen Reich und auf den von ihm besetzten Territorien als ein Teil der weltweiten Religionsgemeinde steht in dem sowjetischen Lexikon – wenn auch nur in runden Klammern – doch besser da, als der deutsche Bevölkerungsteil im Sowjetreich und auf den von ihm im Jahre 1939 besetzten Territorien als ein Teil des deutschen Volkes, und seine Ermordung seitens des Bevölkerungsteils christlichen Glaubens in demselben Reiche kann – dem Inhalt der runden Klammern folgend – als Genozid anerkannt werden und war anerkannt worden.

Also, im politischen Sinne ist diese Lexikonlogik genauso verwirrend wie im linguistischen auch. So verwirrend, dass die Weltpolitiker immer noch nicht genau wissen, was das Wort „Genozid“ bedeutet, beziehungsweise nicht immer Genozid erkennen können, um  es dann auch gleich anzuerkennen, gegebenenfalls nicht immer genau wissen, nach welchem Lexikon sie handeln sollen.

Die Amerikaner handelten offensichtlich nach dem Zweiten Weltkrieg nach dem sowjetischen Lexikon und erkannten das im Dritten Reich begangene Genozid an Juden an, während sie gerne – vielleicht auch nicht, aber beim Teilen Deutschlands und Verurteilen der Deutschen in Nürnberg doch – mit Sowjets alliierten und dabei ihre beiden Augen ganz toll zudrücken mussten, um die Genozidanfälle des ersten Sowjetreiches zu übersehen.

Die Sache mit all diesen auf den ersten Blick sinnlosen lexikon-politisch-linguistischen Übungen ist die: Genozid ist zu Recht von der Völkergemeinschaft in internationalen Gesetzen zum rechtlich zu verfolgenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt worden (und nicht gegen die Menschheit wie es irrtümlich in dem sowjetischen Lexikon behauptet wird, obwohl vorhin richtig behauptet wurde, dass es ein Verbrechen gegen manche kleine national-religiöse Teile der Menschheit ist). Wird dieses Verbrechen nachgewiesen – gibt es ein Opfer, das zu entschädigen sei, und einen Täter, der nicht nur zur internationalen Verachtung, sondern auch zur Geldstrafe in Höhe dieser Entschädigung zu verurteilen wäre. Und hier liegt der Hund begraben.

Zur Verachtung kann man auch Geister verurteilen – ein verbrecherisches, aber bereits vernichtetes Regime zum Beispiel. Doch zu einer Geldstrafe kann nur eine real existierende juristische Person beziehungsweise ein juristisches Subjekt – ein Staat zum Beispiel – verurteilt werden. Das dieses Genozid begangene, das Dritte Reich proklamierte und geführte Nazi-Regime war zur Verachtung verurteilt worden und seine noch übrig gebliebenen Vertreter in Personen wurden hingerichtet. Alles zu Recht – nur entstanden somit gewaltige Schwierigkeiten und ein totales Durcheinander mit dem besagten juristischen Täter-Subjekt.

Nachdem die letzten Vertreter der Nazi-Regierung Deutschlands ihre letzten Regierungsformalitäten mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht (nicht Deutschlands) erledigt hatten und dann verurteilt und hingerichtet worden waren, wurde Deutschland als Staat und somit als das juristische Subjekt von vier alliierten Besatzungsmächten aberkannt. Und nicht um die Deutschen von Entschädigungsansprüchen zu retten, sondern um auf dem besetzten Territorium Deutschland eine den Alliierten freie Hand gewährende rechtfreie Zone zu verschaffen.

Von den Großen Vieren benötigte die Sowjetmacht am wenigsten – nie davor und schon gar nicht nach dem Großen Sieg –, sich und ihre Willkür in Deutschland mit irgendwelchen juristischen Tricks zu rechtfertigen. Den zwei anderen Mächten – den Engländern des Vereinigten Königtums und den durch ihre Provisorische Regierung der Französischen Republik vertretenen Franzosen – war noch seit der Versailler Hinrichtung Deutschlands im Jahre 1919 jedes seine Rechfertigung ebenso wenig benötigte Mittel recht, Deutschland erneut hinzurichten. Nicht so der Macht der US-Amerikaner!

Das war eine ausgezeichnete und beispiellose Leistung von amerikanischen Juristen[3], die internationalen Gesetzte sowie den Status Deutschlands so zu interpretieren und auszulegen, dass das deutsche Volk auf dem Territorium Deutschland zu einem Obdachlosen – ohne sein staatliches Dach über den Kopf – und Gesetzlosen – ohne es und seine Interessen und Rechte schützende Gesetze – wurde und alles nach dem Kriegsende mit ihm Geschehene und bis heute noch Andauernde über sich ergehen lassen musste. Es bleibe einstweilen dahingestellt, dass das Meiste – natürlich – zum Wohle desselben deutschen Volkes geschah, das zunächst eindeutig umgeschult und demokratisiert werden musste, bevor es sein eigenes und souveränes Obdach erlangt und irgendwelche demokratischen, diese Souveränität schützenden Rechte bekommt.

Das internationale Gesetz untersagt nämlich ausdrücklich die Staatsordnung auf dem besetzten Territorium eines kriegführenden Staates zu ändern, das besetzte Territorium in neue Administrationsgebiete zu teilen sowie ein Teil des besetzten Territoriums zu einem anderen Staat zu transferieren, beziehungsweise das besetzte Territorium zum Vorteil von Nachbarn zu reduzieren – also, all das und vieles mehr, was über das Nachkriegsschicksal der Deutschen noch in Teheran beschlossen, in Jalta bestätigt, in Potsdam deklariert und in Berlin durchgeführt worden war.

Das internationale noch 1907 in Haag ausgehandelte Gesetz definiert und reglementiert damit den Status „kriegführender Besatzung“. So wurde noch im Jahre 1944 – nach der Konferenz in Teheran, noch vor der Eröffnung der Zweiten Front in Europa und vor dem noch lange nicht errungenen, wenn auch sich schon andeutenden Sieg über Deutschland – den USA-Rechtswissenschaftlern die Aufgabe von ihrer Regierung gestellt, die Rechtsgrundlagen für die bereits beschlossene Nachkriegsbehandlung Deutschlands unter der rechtskräftigen Umgehung des internationalen Rechtes  zu verschaffen.

Die brillante Lösung-Erfindung der amerikanischen Wissenschaftler an der Universität von Kalifornien[4] bestand darin, dass der legale Status Deutschlands keineswegs der Status der im Gesetz gemeinten „kriegführenden Besatzung“ sei, denn Deutschland habe nach der bedingungslosen Kapitulation seiner Wehrmacht – bereits in dieser Formulierung „Wehrmacht“, statt „Deutschland“ und zu diesem Zeitpunkt war Deutschland seine rechtliche Existenz als besiegten Staates verwehrt – aufgehört, als ein souveräner Staat zu existieren! Dies war auch mit wissenschaftlicher Gründlichkeit begründet: Da keine legitime Regierung vorhanden sei, gäbe es keinen Staat namens „Deutschland“ mehr. Eine legitime Regierung sei nämlich eine fortdauernde und von der Besatzungsmacht (nicht vom Volk des Landes!) anerkannte Regierung.

Also, nachdem Deutschland mit seinem nazifizierten deutschen Volk die Bande von einem Haufen großer und kleiner Nazi-Führer endlich loswurde, hörte es auf der Stelle auf, als ein Staat und ein juristisches Subjekt zu existieren. Eine legitime Regierung – nämlich die von Oberadmiral Dönitz – war zwar vorhanden und wurde sogar, wenn auch nur vorübergehend, von den Alliierten durch die Annahme der von ihr unterschriebenen bedingungslosen Kapitulation anerkannt, aber nachdem sie von selben abgeschafft und verhaftet wurde, sahen sich die Siegesmächte selbstverständlich menschlich verpflichtet, die Sorgen um das staatlose deutsche Volk und um die Ordnung in dem nicht mehr existierenden Staate zu übernehmen.

Somit war der Status weg – die „kriegführende Besatzung“ dennoch rechtskräftig geblieben. Da wäre zwar noch etwas – diese Besatzung setzt demselben internationalen Gesetz nach den fortdauernden Kriegszustand voraus. Sei der Zustand vorbei – seien die Besatzung nicht mehr legitim, das besetzte Territorium zurückzugeben, die Besatzungstruppen abzuziehen und die Kriegsgefangenen zu ihrer Rückkehr in ihre Heimat freizulassen.

Nichts leichter als das! Da brauchten Politiker nicht einmal ihre Wissenschaftler zu bitten, einen Aus- und Umweg zu finden: Der Krieg war zwar de facto vorbei, nachdem die Militärkräfte Deutschlands unfähig gemacht worden waren, ihn weiterzuführen und kapitulierten; der Kriegszustand mit dem nicht mehr existierenden Deutschland blieb dennoch de jure – aufgrund keines Friedenabkommens – noch lange bestehen und wurde sogar schon nach der endgültigen, offiziell anerkannten Zerstückelung Deutschlands im Jahre 1948 in der Bundesrepublik von Westalliierten bis zum Pariser Vertrag vom Juli 1951 und von den Sowjets bis zum Moskauer Vertrag vom August 1970 beibehalten[5]!

Dies sollte der erste den Deutschen von dem einzig demokratischen Rechtsstaat gegebene Unterricht in der Demokratiekunst und Rechtsstaatlichkeit sein. Diese rechtswissenschaftliche Methode wurde dann von den Demokratielehrern immer weiter entwickelt und wird heute – bei den von ihnen durch Kriege unternommenen territorialen und Regimeänderungen – bereits weltweit unterrichtet. Also, auch diese juristisch-politischen Übungen ergeben keinen Sinn und führen einen menschlichen Verstand keinen Schritt weiter, beziehungsweise der Sinn und der Verstand liegen dabei woanders, wo sie nur Politiker oder Rechtswissenschaftler und kein logisch denkender Mensch finden können.

Diese Feststellung allein hätte aber weder damals noch heute dem zerrissenen Gewissen der Deutschen helfen können. Besonders dann nicht, wenn viele andere auf der Welt den Deutschen gegenüber kaum Gewissen zeigen, als ob das gewissenlose Nazi-Regime auch sie von ihrem Gewissen befreit hätte.

Die 1948 gegründete „souveräne“ Bundesrepublik Deutschland musste den von amerikanischen Wissenschaftlern so gut und begründet aberkannten Besatzungsstatus noch bis zum Mai 1955 de jure und bis zum bis heute noch andauernden Abzug der alliierten Truppen und ihrer Stützpunkte de facto hinnehmen. Mit der von den Westalliierten bei den Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder verlangten – ja fast erpressten – Gründung der BRD ging zwar für Deutschland die DDR verloren, war nun aber der Widerspruch der brillanten Lösung – die günstige Gültigkeit eines nicht mehr existierenden deutschen Staates machte ja jeweilige Ansprüche aller Genozidopfer auf ihre Entschädigung ungünstig ungültig – ebenfalls brillant gelöst und der dringend benötigte Rechtserbe des Dritten Reiches endlich erschaffen worden, der nun die festgelegten Kriegsschulden und die unbestimmten, aber nach jeder Aufforderung sofort zu zahlenden Geldentschädigungen an die Genozidopfer alleinig zahlen durfte.

Diesen Unterricht im Recht mit allen wissenschaftlich-politischen Erfindungen verstanden am besten die Sowjets, für die er gar nicht gemeint war. Demzufolge mussten sich die kriegsgefangenen Deutschen – gegen alle bisher geltenden und nun von Amerikanern abgeschaffenen internationalen Kriegsrechte und Gesetze – noch zehn Jahre nach dem Kriegsende zwangsmäßig am Aufbau des Kommunismus in der UdSSR beteiligen, während die deutschen Kolonisten Russlands – bereits fünfzehn Jahre nach ihrer Verurteilung als Spionen und Diversanten der Nazis – in ihren Konzentrationslagern und Verbannungszonen weiter verrecken durften.

Erst nach Verhandlungen zwischen den deutschen und sowjetischen politischen Kollegen im Herbst 1955 in Moskau[6] und nur dank der historisch bekannten „Saufkraft“ von Herrn Kanzler Adenauer und seiner Suite bei der ebenso bekannten, ausgiebigen Abschiedsparty im Kreml erlangten die letzten Kriegsgefangenen das Recht heimzukehren. Nebenbei wurden auch die den Repressalien und dem Genozid ausgesetzten deutschen Kolonistenfamilien den kriegsgefangenen Heimkehrern rechtmäßig gleichgestellt.

Das Letztere war allerdings nur von der Seite der Bundesrepublik wahrgenommen worden. Die Fünfkilometergrenze und wöchentliche Meldepflicht waren zwar von der Sowjetseite abgeschafft worden, die Einsperrung in die Hinteruralzone blieb aber weiter erhalten. So durften die wenigen Überlebenden aus diesen deutschen Kolonistenfamilien – trotz des bei der Saufparty ausgehandelten Abkommens und im Unterschied zu den ebenso wenigen Überlebenden von den kriegsgefangenen Deutschen – noch weitere zehn Jahre und nach dem Kriegsausbruch bereits fünfundzwanzig Jahre weder nach Deutschland, um sich wenigstens bei Herrn Kanzler durch einen Handkuss bedanken zu können, noch in ihre früheren Koloniegebiete heimkehren.

Aber auch nach diesen Jahren und bis an den Perestrojkaausbruch wurde das ebenso in weiteren politischen Verträgen seit langem offiziell verankerte Recht von Deutschen in der UdSSR auf ihre Heimkehr nach Deutschland inoffiziell durch das Ausreisegenehmigungsverfahren so erschwert, dass selbst ein Versuch, dieses Recht in Anspruch zu nehmen, für einige Tausende besonders hartnäckiger Draufgänger zu jahrelangen Abenteuern und zur Folter wurde.

Dennoch dehnte sich schließlich die Einsperrzone des vierzehnjährigen Vaters von fünf Kilometer bis auf die Endlosigkeit des sowjetischen Reiches hin. An den Grenzen dieser Endlosigkeit war dann aber Schluss.

*


[1] „Wahrig – deutsches Wörterbuch“, Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh, 1994, S. 659
[2] «Словарь иностранных слов». Издательство Москва «ГИИНС», 1955г., стр. 164 („Fremdwörterbuch“. Verlag „GIINS“, Moskau, 1955, S. 164)
[3] Hans Kelsen „The international legal status of Germany to be established immediatly upon termination of the war“ („Der internationale, legale, unmittelbar nach der Beendigung des Krieges einzuführende Status Deutschlands“) . The American Journal of International Law (AJIL), 1944, p. 689
[4] Hans Kelsen „The legal status of Germany according to the declaration of Berlin“ („Der legale Status Deutschlands entsprechend der Berliner Deklaration“). AJIL, 1945, p. 518
[5] „Deutsche Geschichte. Staat, Gesellschaft und Kultur – von Anfängen bis zur Wiedervereinigung“, Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh, 1990, S. 223-242 -  „Die Ära Adenauer 1945-1963“
[6] „Die deutsche Geschichte“ (in vier Bänden).  Archiv Verlag, Braunschweig, 2001, Band 4: 1945-2000, S. 546 .

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Viktor Prieb).
Der Beitrag wurde von Viktor Prieb auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.06.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Viktor Prieb als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Sammelsurium: Geschichten und Gedanken von Klaus Buschendorf



Familiengeschichten erzählt man an der Kaffeetafel, Freundinnen tun es verschwörerisch im Schlafzimmer. Am Biertisch werden philosophische Gedanken gewälzt. Sie sind Beete, auf denen diese 17 Kurzgeschichten der verschiedensten Länge entsprossen sind.

Erfreuen Sie sich an den Blumen, lieber Leser, die so gewachsen sind. Und nun – viel Spaß!

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Satire" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Viktor Prieb

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die Internetromanze von Viktor Prieb (Romantisches)
+ KREUZ + WEISE + von Siegfried Fischer (Satire)
Regen auf dem Fenster von Eric Beyer (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen