Wenn es wirklich Menschen gibt, denen das Unglück nur gebündelt und als Massensendung zugestellt wird, muss ich wohl eine dieser vom Unglück bevorzugten Gestalten sein. In meinem mittlerweile 45jährigen Dasein gab es unzählige schöne Tage – und unglaublich schreckliche Wochen. Es gab jedenfalls nie dieses harmonische Wechselspiel zwischen ‚etwas Glück’ und ‚etwas Unglück’. Wenn, dann kam es knüppeldick und immer dann, wenn ich am wenigsten damit rechnete. An ein ‚bisschen Unglück’ kann ich mich nicht erinnern. An ‚Unglück im Sechserpack’ erinnere ich mich natürlich bestens, da es sich meist um Unglücke handelte, die dramatische Einschnitte in meinem Leben bewirkten oder in Aussicht stellten.
Kann es sein, dass einige Menschen so etwas wie einen ‚negativen Magnetismus’ besitzen, dem kein Unheil wiederstehen kann?
Vielleicht verstehen Sie meine Fragen besser, wenn ich Ihnen ein paar Episoden aus meinem Leben erzähle, an denen Sie erkennen können, wieso ich mich für einen extrastarken ‚Unglücks-Magneten’ halte:
Meinen Vater verlor ich, als ich sieben Jahre alt war. Mutter, die plötzlich vor der Situation stand, ohne ‚Ernährer’ mit zwei Kindern und einem senilen Opa von uns, klarkommen zu müssen, kam natürlich nicht auf die Idee, das Sozialamt zu nutzen, um zu überleben. Stattdessen entscheid sie sich, in zwei Schichten in einer Blechwarenfabrik zu schuften, um das nötige Geld für uns zu erarbeiten. Mein Bruder, der 6 Jahre älter als ich ist, machte damals eine schwere Zeit durch. Ihm fiel es offenbar leichter, diese schwierige Phase zu bewältigen, wenn er mich schlug und schwer misshandelte.
Manchmal weckte er mich mitten in der Nacht, um mich zu zwingen, die Nationalhymne zu singen. Schaffte ich es nicht, alle Strophen zu singen, schlug er mich. Mal tat er es mit einem Einkaufsnetz und mal mit den Fäusten. Seine – bis heute anhaltende rechte, verquere und perverse – Lebenseinstellung sorgte dafür, dass ich keine Minute meiner damaligen Kindheit genießen durfte. In seinem nationalistischen Körperwahn ließ er mich manchmal 50 Liegstützen machen. Pummelig, wie ich damals war, schaffte ich es selten, seinen Anforderungen gerecht zu werden. Es setzte Prügel, wenn ich wieder einmal ‚versagte’.
Meine Mutter? Meine Mutter schuftete so hart, dass sie nicht die Zeit hatte, sich mit den psychischen Problemen ihrer Kinder auseinander zu setzen. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass ich mich stundenlang unter der Bettdecke versteckte, kaum atmete, um die Aufmerksamkeit meines Bruders ja nicht zu erregen, bis dann endlich meine Mutter von der Arbeit nach Hause kam. Ich zählte die Stunden...
Die Blechwarenfabrik entließ eine Menge Leute, zu denen auch meine Mutter gehörte. Für eine gewisse Zeit gab’s Mittags Kartoffeln mit Margarine oder Nudelsuppe, in der die Nudeln im Wasser kaum zu finden waren. Am Schlimmsten war jedoch für mich der Umstand, dass ich als der jüngste ihrer Söhne grundsätzlich alle Klamotten auftragen musste, die mein Bruder getragen hatte, bis sie unansehnlich und tausendmal geflickt waren.
In der Schule wurde ich verspottet, weil ich – selbst für damalige Zeiten – mit meinen Sachen auffiel. Mutter achtete zwar sehr gut darauf, dass wir niemals mit schmutzigen oder löchrigen Sachen zur Schule gingen, aber sie konnte nicht dafür sorgen, dass ich in der schule nicht reichlich Prügel einstecken musste, weil man mich für ‚einen armen Schlucker’ hielt. Diese körperliche und seelische Diffamierung kompensierte ich durch Aggressionen. Ich suchte den Streit mit Anderen, bevor sie den Streit mit mir suchten. Ich schlug zu, bevor man mich schlug. Meine schulischen Leistungen entwickelten sich dementsprechend.
Finanziell verbesserte sich unsere Lage etwas, als meine Mutter in einem Automobilfabrik Arbeit fand. Wieder Fließbandarbeit. Wieder Schichtarbeit. Wieder endlose Zeiten, in denen ich meinem Bruder ausgesetzt war. Wieder Prügel, die ich einstecken musste und die ich an meine Mitschüler weitergab.
Dann lernte meine Mutter einen Mann kennen. Dieser Mann, den ich hier einfach ‚Hans’ nennen möchte, war das typische Abbild eines riesigen plumpen Bären, dem es an Verstand und Einfühlungsvermögen mangelte. Anfangs bewunderte ich ihn dafür, dass er die Kraft eines Bullen hatte, bis ich zum ersten Mal seine Pranke im Gesicht spürte.
Ich war bestimmt kein einfaches Kind – und ich gebe zu, dass ich oftmals einen Grund für Ärger geliefert habe. Dass er mich dafür aber so schlug, dass ich von einer zur anderen Zimmerwand flog, machte aus dem gestörten Kind ein völlig verstörtes Kind, das nun plötzlich zwei Gegner im Haus hatte.
Lassen Sie mich ein paar Jahre überspringen, in denen sehr viel passiert ist, an das ich mich nicht mehr erinnern möchte.
Mein Bruder verließ unsere ‚Familie’, als er 17 Jahre alt war. Das Verhältnis zwischen ihm und dem neuen Mann meiner Mutter war teilweise noch dramatischer, als meines. Nur aufgrund seines Alters war ich es, der die Schläge kassieren durfte, während sich mein Bruder einem unerträglichen Psychoterror ausgesetzt sah. Mitleid mit meinem Bruder? Hatte ich nicht! Im Gegenteil. Obwohl ich ihn auf eine seltsame Art und Weise liebte, hasste ich ihn zutiefst und weinte und lachte zugleich, als er ging.
Ich war 19 Jahre alt, als ich meine Frau kennen lernte. Ein halbes Jahr später heiratete ich und zog zu ihr und ihren Eltern. ‚Nur weg!’ war mein einziger Gedanke, der mich meiner Heimatstadt und meinem Zuhause keine Träne nachweinen ließ.
In den Jahren zuvor war meine Mutter bereits so oft krank, dass sie ihre Arbeit aufgeben musste. Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft sie operiert wurde und wie oft wir dachten, dass wir sie niemals wiedersehen würden, wenn sie wieder einmal in den OP geschoben wurde.
Es gab für mich keine Möglichkeiten, im erlernten Beruf zu arbeiten, als ich die andere Stadt gewechselt hatte, um zu meiner Frau zu ziehen. Bereits einen Tag nach der Hochzeit begann folglich mein erster Tag in einer Fabrik, in der ich in drei Schichten arbeitete. Zeitgleich arbeitete ich nachts in einer Kneipe, die abends um 19.00 Uhr öffnete und etwa gegen 04.00 Uhr früh zu machte. Wenn meine Schicht um sechs Uhr morgens begann, verbrachte ich die verbleibenden zwei Stunden sitzend in der Küche. Ich stellte die Uhr des Herdes auf 120 Minuten, um auf keinen Fall zu spät in die Fabrik zu kommen...
Mit der Zeit wurde ich immer häufiger krank. Glücklicherweise schaffte ich es, vom 3-Schichtdienst in Normalschicht zu wechseln. Gesundheitlich ging es währenddessen immer weiter bergab. Irgendwie habe ich meine gesundheitlichen Probleme auf die Arbeit geschoben. Ich habe mich nie zum Fabrikarbeiter berufen gefühlt und entscheid spontan, dass ich einen Schnitt in meinem leben machen musste, wenn ich nicht völlig verrückt und krank werden wollte.
Aus einer Laune heraus bewarb ich mich bei einer Firma, die Büromaschinen verkaufte. ‚Verkaufen’ war genau das, was ich tun wollte! Ich hatte die Gabe, mit meiner Ausstrahlung Erfolge zu produzieren.
Und es klappte!
Schnell wurde ich zu einem überaus erfolgreichen Vertriebsmitarbeiter dieses Unternehmens.
Sechs Monate später wunderte ich mich beim Rasieren über ein Geschwulst in der Größe eines Hühnereis am Hals. Schon Tage zuvor hatte ich reichlich Probleme, auf der Seite zu liegen, weil ich immer schwerer Luft bekam. Natürlich ging ich erst zum praktischen Arzt, der mich sofort zu einem Internisten schickte.
Schon am Gesichtsausdruck des Internisten erkannte ich, dass etwas Ernstes vorliegen musste.
„Es ist besser, wenn ich Sie zur weiteren Untersuchung in eine Spezialklinik einweise. Ich möchte nicht drum herum reden..., aber es besteht die Möglichkeit, dass operiert werden muss!“
Mehr wollte er nicht sagen und verwies auf diese ‚Spezialklinik’, in die ich umgehend fahren sollte. Das alles geschah vier Jahre nach meiner Hochzeit. Fünf Monate zuvor war unsere Tochter zur Welt gekommen.
Während ich im Krankenhaus die ersten stationären Untersuchungen über mich ergehen ließ, schickte mir mein Arbeitgeber die Kündigung. Allen Vertriebsmitarbeitern wurde gekündigt, da das Unternehmen von Grund auf neu strukturiert werden sollte.
Zu Hause meine kleine Tochter. Arbeitsplatz gekündigt.
Der Arzt im Krankenhaus teilte mir mit, dass man Gewebeproben entnehmen müsse, weil der verdacht auf Lymphdrüsenkrebs bestehe. Mittlerweile war ich bereits von 96 Kilo auf 65 Kilo abgemagert.
Man stellte Geschwüre in der Lunge, in den Leisten, unter den Achseln und am Hals fest. In Verbindung mit meinem dramatischen Gewichtsverlust glaubte man, dass der pathologische Befund der Gewebeproben nur bestätigen würde, was man ohnehin vermutete.
Die Gewebeproben, die man mir aus Lunge und Hals entnahm, wurden in die Medizinische Hochschule und zu einem pathologischen Institut nach Kiel geschickt. Etwa vier Tage später bat mich der Chefarzt der Klinik zu sich. Inzwischen war ich bereits sein zwei Wochen im Krankenhaus.
„Es ist besser, wenn Sie sich auf höchstens sechs Monate einstellen! Es sieht nicht gut aus. Leider. Tut mir leid, aber die Heilungschancen sind eher minimal...!“
Ich hatte mir sehr ruhig angehört, was mir der Arzt gesagt hatte. Ich bat ihn, zu meiner Frau nachhause fahren zu dürfen, um mit ihr darüber zu reden. Auch wenn er mir, aufgrund der Medikamente, die ich nahm, die Fahrt verboten hätte, wäre ich natürlich gefahren, wenn gleich mein Ziel nicht das Zuhause sein sollte, das ich glaubte, verlieren zu müssen.
Die Strecke, die ich fuhr, war eine Schnellstraße mit etlichen Brücken und Betonpfeilern, die mich immer einladender ansahen. Wirre, kranke und ängstliche Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich dachte an meine kleine Familie und an den Tod. Ich dachte an meine Frau, die ich über alles liebte und nicht so schnell verlieren wollte. Ich dachte an meine Tochter, die ich viel zu wenig kannte, um sie wieder zu verlassen. Ich dachte typische Gedanken, die immer wieder fragten, wieso ausgerechnet mich dieses Schicksal ereilte.
Es war so einfach. Ich brauchte nur einmal das Lenkrad so bewegen, dass mein Wagen frontal gegen einen der Betonpfeiler krachte.
Alles vermischte sich in meinem Kopf.
Finanzielle Probleme, die ich zurückließ, wenn ich tot war. Was würde meine Familie ohne mich tun? Wie würden sie zurechtkommen? Hatte ich das Recht, mich umzubringen? Musste ich nicht ohnehin sterben? War es nicht besser, das Leiden schnell und ohne lange Wartezeit zu beenden?
Mit jeden Pfeiler, an dem ich vorbeiraste, dachte ich an den Schmerz, den ich meiner Frau zufügen würde. Ich hatte keine Angst vor dem Tod. Komisch – aber ich hatte wirklich kein bisschen Angst davor, sterben zu müssen. Da war nur diese erdrückende Angst vor dem Unglück, das ich verursachte, wenn ich...
25 Kilometer lang wog ich Für und Wider ab.
Ich lebe noch.
Die Ergebnisse der MHH sagten eindeutig aus, dass es sich um Lymphdrüsenkrebs handelte. Die pathologischen Befunde aus Kiel sagten, dass es sich um eine Sarkoidose handele, die ähnliche Symptome wie Lymphdrüsenkrebs zeige.
Eine Woche später hatte ich bereits weitere 8 Kilo verloren. Mir wurden Tumore aus dem Hals und aus der Lunge entfernt. Noch immer wussten die Ärzte nicht sicher, um welche Krankheit es sich handelte, obwohl sie mich bereits fast in den Tod getrieben hatten...
Man diagnostizierte in der gleichen Woche eine Tuberkulose bei mir...
Ein halbes Jahr verbrachte ich in der Klinik, in der sehr viele Krebspatienten auf ihr Ende warteten. In dieser Zeit sah ich acht Patienten sterben.
Ich erfuhr zeitgleich vom Leberkrebs meiner Mutter. Es gab keinerlei Heilungschancen für sie, da die Metastasen sich bereits im ganzen Körper verteilt hatten. Meine Mutter war zum damaligen Zeitpunkt 48 Jahre alt. Vier Monate, nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, sah ich meine Mutter zum letzten Mal, als ich sie im Krankenhaus besuchte. Sie erkannte mich nicht mehr, war auf dreißig Kilo abgemagert und ihr schmächtiger Körper ertrug die Schmerzen nur noch mit starken Morphiumdosierungen. Sie, die immer dachte, dass ihr schwaches Herz sie vor einem langen Leiden schützte, ‚lebte’, weil ihr Herz nicht aufhören wollte, zu schlagen...
Nicht aufgeben! Jetzt erst recht nicht! Es gibt eine Verantwortung, der man sich auch dann nicht entziehen darf, wenn der Himmel über einem zusammenbricht!
Irgendwie habe ich’s geschafft. Vollgestopft mit Cortison und aufgedunsen wie ein Hefekuchen, habe ich mir einen neuen Arbeitsplatz gesucht. Ich sah wirklich seltsam aus, da das Cortison meinen Schädel regelrecht aufquellen ließ. Meine gesamten Knochen waren so sehr auseinander gegangen, dass ich fast glaubte, nie mehr im Vertrieb arbeiten zu können.
Aber ich arbeitete! Ich arbeitete wie ein Pferd! Täglich schuftete ich über 18 Stunden, vernachlässigte meine Familie und versuchte, meine Ängste in Arbeit zu ersticken.
Mein Stiefvater starb ein Jahr, nachdem meine Mutter gestorben war. Auch dieser mächtige, bullige Kerl, von dem ich dachte, dass er ewig leben würde, ging erbärmlich an Krebs zugrunde.
Mein Sohn wurde geboren. Endlich besonn ich mich darauf, dass Arbeit nur dem Zweck diente, das Leben erleben zu können. Wir hatten nun zwei Kinder, die ich unendlich liebe.
Unser drittes Kind, David, starb bei der Geburt. Über die Umstände seines Todes möchte ich hier nichts schreiben. Nur eines will ich denen mit auf den Weg geben, die am Leben verzweifeln:
Meine Frau und ich wussten, dass David nicht leben konnte. Fünf Monaten trug sie David in ihrem Bauch. Sie spürte ihn, liebte ihn und hoffte, obwohl es keine Hoffnung gab...
Heute lebe ich noch immer. Ich liebe meine Kinder, meinen Enkelsohn – und natürlich, mit jedem Tag etwas mehr, meine Frau. Ich lebe gerne und ich weiß, dass nichts das Leben garantiert. Nur eine Garantie gibt es, die jeder für sich selbst zu verantworten hat. Es ist die Garantie, dass man niemals ohne irgendeine Hoffung dasteht. Egal, wie schwer und wie dramatisch einem das Leben mitspielt – es gibt immer einen Grund zur Hoffung und es gibt immer Menschen, denen es noch weitaus schlechter geht, als einem selbst.
Vielleicht ziehe ich das Unglück an. Vielleicht. Aber ganz bestimmt finde ich mich niemals damit ab!
Vorheriger TitelNächster TitelDieser Text ist keine Kurzgeschichte. Dieser Text ist sicher auch nicht im typisch Heidschen Stil geschrieben und soll auch nicht amüsieren. Dieser Text ist nur der Auszug aus einem Leben, dass es noch immer gibt...Klaus-D. Heid, Anmerkung zur Geschichte
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.09.2002.
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Lieber Papa
von Klaus-D. Heid
Klaus-D. Heid beschreibt auf witzige Weise, wie die Nachkommen die Marotten
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