Die Erinnerungen an meine Vergangenheit werden von Tag zu
Tag schwächer, es ist als würden sie nach und nach an Form und Gestalt
verlieren, sie lösen sich in einzelne Bilder und Gedanken auf und dann
verschwinden sie für immer.
Vor langer Zeit führte ich ein Leben so wie es viele führen,
war eine Gefangene einer alltäglichen Routine, die mich stumpf und gefühllos
machte. Meine Augen waren stets nach außen und niemals nach innen gerichtet,
und somit lebte ich mich jeden Tag tot.
Das Sinnlose war mein Lebenssinn und meine Freiheit war
meine Versklavung. Mein erwachsenes Leben hindurch sehnte ich mich nach meiner
Kindheit zurück als alles ohne Bedeutung und noch weit entfernt war, als ich
noch wirklich lebte und glücklich war.
Damals besaß ich eine Freiheit, die man mir so schnell
wieder raubte, dass ich sie nicht einmal mit meinen Händen hätte festhalten
können. Man stieß mich in ein Leben, dass mich in Fesseln legte und mir die
Luft zum atmen abdrückte, und so musste ich halb erstickend jeden Schritt voran
erkämpfen und konnte froh sein, wenn ich dies auch nur halbwegs überstand. In
diesem Leben war ich nur noch ein Sklave, ein Sklave der Regierung, der
Gesellschaft, meiner Familie und meines Lebens. Ohne Unterlass prügelten
zahllose Worte auf mich ein, erstickten jeden Keim von Revolte schon im Kern
und ließen mich wie ein kleines Rädchen in einem Uhrwerk funktionieren. Nur
funktionieren, nur benutzen, denn mehr Wert besaß ich nicht. So hätte es bis an
das Ende meines Lebens gehen können, bis ich nicht mehr nutzbar und nur noch
ein Warten auf mein Ableben übrig wäre.
Mich machte alles nur noch krank, jeder Gedanke an mein
Leben ließ mich würgen, ließ mich die Sorgen und Ängste erbrechen und verzehrte
meinen Körper bis auf die Knochen. Ich wurde so krank vor lauter Ekel, dass ich
nicht mehr funktionieren konnte.
Sie wollten mich retten, sie wollten mich wieder ins Leben
holen, zurück auf meine Folterbank, aber jeder Versuch, jedes Wiedereingliedern
in die Gesellschaft schlug fehl, denn jedes einzelne Mal wurde ich wieder krank
und noch schlimmer als je zuvor. Das verlorene Schaf, so wie sie von mir
dachten, wurde ach so heuchlerisch betrauert und weiterhin umsorgt, immer noch
auf eine Rückkehr hoffend, die es niemals geben würde!
So floh ich des eines Nachts aus meinem Kerker in die
Dunkelheit hinein, ich lief davon, lief vor meinem Leben davon, die Sklaverei
riss ich mir von den Schultern und den Ekel spuckte ich aus, denn das was ich
nun schmeckte war das süßeste von allen. Die Freiheit! Von Freude und
unbändiger Stärke gepackt rannte ich in die Wildnis hinein und von der
Zivilisation fort, ich atmete Bedeutung, ich spürte Existenz, ich lebte neu
auf. Die Wildnis, die Einsamkeit, mein Exil, es wurde zu meinem Leben, zu
meiner Glückseligkeit, zu meinem Frieden.
Ich lernte Spüren, ich lernte Hören, ich lernte Sehen, ich
lernte Schmecken und ich lernte Riechen. Ich begann zu vergessen und
zu verstehen, ich begann zu lieben und zu hassen, ich begann zu gebären und zu
zerstören. Denn nun war ich mehr als nur eine Maschine, mehr als bloße Nummer
im System, mehr als bloßes Fleisch und Knochen, denn nun war ich ein Lebewesen.
Das Vergessen des Neuen und das Erlernen des Alten, machte mich zu dem was ich
nie war, doch was ich immer sein werde. Ich wurde Mensch.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Larissa Lamadé).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.07.2007.
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