Rolf Kirsch
Bredenbergs Gedanken über die Wahrnehmung
Bredenberg, der gerne über alles Mögliche nachdenkt, saß bei einer Tasse Tee, die er schon halb geleert hatte, als er, Bredenberg, sich eine Frage stellte.
War das, was er gerade trank, Tee? Oder war das, was er, Bredenberg, gerade trank, etwas, was Bredenberg bislang nur Tee genannt hatte und für ihn, Bredenberg, wie Tee schmeckte, in Wirklichkeit etwas anderes als Tee?
Würde ein anderer als Bredenberg, das, was Bredenberg gerade trank, anders sehen und anders schmecken als Bredenberg, es aber auch Tee nennen, so wie Bredenberg von Anfang an, das, was er gerade trank, Tee zu nennen gewohnt war?
Da Bredenberg niemand anderes sein konnte als Bredenberg, würde er das niemals genau wissen, dachte Bredenberg. Das, was er, Bredenberg, gerade trank, und für ihn, Bredenberg, Tee war, konnte für einen anderen etwas anderes sein, auch wenn dieser es ebenfalls Tee nannte.
Bredenberg fragte sich: Ist die Welt, wie sie Bredenberg sah, auch die Welt, die jemand sah, der nicht Bredenberg war?
Er, Bredenberg, zweifelte. Er wusste über die vielen verschiedenen Meinungen in der Welt. Er hatte erfahren, wie Menschen zu anderen Menschen ärgerlich sagten: „Das siehst du aber ganz falsch!“ oder freundlicher: „Das siehst du offensichtlich ganz anders als ich!“
Aber über einfache Sachen wie Tee oder das, was alle Tee nannten, aber für jeden etwas anderes war, gab es selten Streit, dachte Bredenberg. Es sei denn, das, was alle Tee nannten, schmeckte verschiedenen Menschen verschieden gut.
Wir sind nicht sicher, dachte Bredenberg, ob das, was da ist, in der gleichen Weise für alle da ist. Wir sind nicht einmal sicher, dachte Bredenberg, ob da überhaupt etwas ist. Bredenberg erzeugte eine Welt, ein anderer als Bredenberg erzeugte auch eine Welt, eine andere als die Welt, die Bredenberg erzeugte.
Das, dachte Bredenberg, wäre auch möglich. Sie, die verschiedenen Menschen, könnten sich dennoch verständigen, weil sie für die verschiedenen Dinge, die ihre Hirne und Augen erzeugten, die gleichen Begriffe verwendeten.
Eines ist jedoch sicher, dachte Bredenberg: Gäbe es mich nicht so wie ich gerade bin, gäbe es diese Fragen nicht.
Und Bredenberg trank das, was er bislang für Tee gehalten hatte und in Zukunft wieder Tee nennen würde, aus dem, was er bislang für eine Tasse hielt und auch in Zukunft wieder Tasse nennen würde, mit dem Gefühl, das er bislang mit Wohlbehagen bezeichnet hatte, aus.
...aus dem eBook "Bredenberg", verfügbar bei rolfkirsch.de
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.07.2007.
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