Peter Böhme

Zeitbombe

„Can You feel it? I‘ve gotta live with it every day
  I can’t take the pressure, I’m going insane
  Now go away!“
                Sully Erna, Godsmack
                „Bad Religion“

Der Tag brach gerade an, als Scott Wilcox von seinem Fahrrad abstieg und es anschloss. Es war noch recht neblig, die Sonne wurde vollkommen von Wolken bedeckt und es roch fast nach Regen, dennoch wirkte der Tag gemütlich. In der Ferne bellten Hunde wild durcheinander, so wie ein Mensch, der schrecklichen Husten hat. Doch das alles spielte keine Rolle.
Auf dem Hof spielten einige Jungen Fußball. Es gab zwei Mannschaften zu je drei Mitspielern. Im ersten Team spielte Wilson, dieses Arschloch. Er hatte ständig dieses arrogante, selbstgefällige Grinsen im Gesicht, in das man sowieso am liebsten vierundzwanzig Stunden am Tag schlagen möchte.
Wilcox machte sich auf den Weg. Das Schulgebäude war gerade mal siebzehn Meter entfernt und stellte einen krassen Gegensatz zu der umliegenden Umgebung, da es in einer hellblauen Farbe erstrahlte. Als er an den Eingang trat und seine Hand ausstreckte, um die Tür zu öffnen, wurde die Tür jäh brutal aufgestoßen. Peacock trat heraus und schaute zu Wilcox. Erkennen breitete sich in seinem Gesicht aus.
„Hey Wilcox, altes Haus! War doch echt scheiße gestern, oder?“ sagte Peacock mit überzeugter Stimme.
„Da hast du Recht.“
Peacock trug schwarze Sportschuhe und eine dunkle Hose. Sein T-Shirt war auch dunkel und es stand einer von diesen sinnlosen Sprüchen darauf. In diesem Fall: Jeder hat das Recht dumm zu sein. Einige missbrauchen dieses Recht ständig. Sein Gesicht deutete auf einen Versager hin.
„Das war doch total unfair. Was fällt denen eigentlich ein, uns so eine Arbeit schreiben zu lassen!“ bemerkte er.
„Stimmt.“, stellte Wilcox fest, „Die spinnen.“
„Ich hab diesen Kurs von Anfang an gehasst. Ich wollte ihn ja noch abwählen, aber auf einmal war der letzte Termin vorbei, an dem ich das hätte machen können. Einbringen tu ich ihn nicht. Also kann ich die schlechte Note noch verkraften“, sagte Peacock und ließ dabei seine gelben Zähne glänzen.
„Da hast du noch mal Glück gehabt.“
„Glaubst du, du bist durchgefallen?“ fragte Peacock.
„Ja, ich denke schon, dass ich das bin.“
Peacocks Augen weiteten sich und er schaute hoffnungslos an Wilcox vorbei. „Man wenn du schon sagst, dass du durchgefallen bist“, stammelte er.
Stille.
„Ist schon scheiße“, sagte Wilcox und unterbrach damit die Ruhe.
„Amen. Schreibst du noch irgendwelche Arbeiten?“ Peacock konnte manchmal so eine Nervensäge sein.
„Nein. Das war die letzte.“
„Okay. Na dann mach‘s mal gut, ich hab für heute Schluss“, sagte Peacock und setzte einen Fuß an Wilcox vorbei, bis ihm einfiel, dass er noch etwas zu sagen hatte.
„Ach und noch was“, sagte er.
„Hmm?“ grummelte Wilcox.
„Hast du schon mal was von TIME BOMB gehört?“
„Nein.“
„Istn Song von Godsmack, ner Rockgruppe. Echt verschärft. Musst dir mal anhören.“
„Zeitbombe hm?“ sagte Wilcox verträumt.
„Also bis bald. Wir sehen uns.“
„Zeitbombe... .“
Peacock trat unvermittelt an Wilcox vorbei und ließ ihn allein da stehen. Dieser öffnete die Tür und betrat die unheimliche Atmosphäre. Die Wände waren größtenteils hellbraun gestrichen und wurden stellenweise durch Bögen an der Decke verschönert. In der Richtung, in die er jetzt ging, lag die Jungentoilette, die der Mädchen befand sich eine Etage höher. Wilcox stieß die saloonartige Tür auf und wandte sich nach links, um sich zu vergewissern, dass sich niemand anderes hier befand und so war es auch. Er war der Einzige in dem Raum. Er drehte sich nach rechts und schritt zu dem Waschbecken und den Spiegeln. Sie ließen keinen Schmutz erkennen. Wilcox schaute in die Spiegel. Seine blasse Haut war ganz ausgemergelt. Akne breitete sich aus und überall stachen schwarze Punkte hervor – Mitesser. Sein rotes, sonst glattes, Haar war ganz zerzaust, so als hätte auf seinem Kopf ein Sturm gewütet. Die Augen wiesen eigentlich ein helles Blau auf, doch nun sahen sie eher ockerfarben aus und sie wirkten irgendwie eingefallen.
Wilcox bückte sich und schaute unter das Waschbecken. Sie klebte immer noch sicher daran. Plötzlich stürmte eine Person in die Toilette. Harris.
„Hey! Gut, dass ich dich treffe Scotti. Ich kann morgen leider nicht zu dir kommen“, brachte er mit hastiger Stimme hervor.
Harris war eins von diesen Arschlöchern, die es überall zu geben schien. Ständig haben solche Leute das Bedürfnis alles raus zu lassen, was raus musste – und das noch aus dem Mund. Sie spielen sich ständig auf, denken, dass sie die Geilsten sind und so weiter. So eine Person war Harris. Wilcox hasste solche Menschen.
„Ist schon okay“, beschwichtigte er Harris.
„Es tut mir ja Leid Scotti, aber ich muss zur Zeit einfach zu vielen Nachhilfe geben. Und deshalb hab ich leider keine Zeit für dich. Ich denke manchmal, dass jeder was von mir will“, sagte Harris und ein Lächeln umspielte seine Lippen.
„So wird es wohl sein“, sagte Wilcox trocken.
„Und du bist mir wirklich nicht böse? Versteh mich nicht falsch, ich denke mir schon was dabei, wenn ich zu dir nein sage. Ich weiß wie gut du mittlerweile in Mathe bist. Sobald ich wieder Zeit habe, bist du er erste den ich besuche. Es ist halt nur so: andere brauchen die Hilfe dringender als du.“
„Es ist schon in Ordnung, ich glaube dir“, sagte Wilcox ohne sich eine Lüge anmerken zu lassen. „Es macht mir nichts aus.“
„Wirklich?“
„Ja.“
„Sehr gut, dann sehen wir uns später“, fügte Harris als letztes hinzu.
Von wegen später. Wilcox wusste, dass er, wenn er sich mit Harris traf, jedes Mal so dämlich anstellte, dass Harris jedes Mal fast ausrastete und rot wurde wie ein schlimmer Sonnenbrand. Von wegen keine Zeit. Harris war ein Streber und hatte praktisch immer Zeit. Genauso wenig stimmte es, dass viele Leute bei ihm Nachhilfe nahmen. Wilcox war der Einzige.
„Geht klar.“
Und schon verschwand Harris wieder. Anscheinend hatte er sogar vergessen, das zu tun, wozu er eigentlich in die Jungentoilette gegangen ist. Wilcox störte das nicht im Geringsten, so hatte er wenigstens seine Ruhe. Bevor er noch einmal ansetzte, um sich zu bücken, blickte er aus dem Fenster. Der Nebel hatte sich inzwischen komplett verzogen und die Sonne schien durch ein paar kleine Löcher in der Wolkendecke. Wilson und seine Freunde spielten nach wie vor Fußball. Wie es aussah gewann Wilsons Team, da er sich jetzt höllisch aufspielte. Das war bei ihm immer ein Zeichen von arroganter Siegesgewissheit.
Wilcox hob seinen rechten Arm und schaute auf die daran gebundene Uhr. Halb zwölf. Langsam wurde es aber wirklich Zeit, dass er anfing. Er bückte sich unter das große durchgängige Waschbecken und holte die Winchester hervor. Die Waffe hatte ein angenehm schweres Gewicht, sie war nicht zu leicht, aber schwer genug, damit man sich sicher und geborgen fühlen konnte. Wilcox betrachtete das Gewehr gedankenverloren. Es sah schön aus, hatte eine niedliche holzbraune Farbe und ein pechschwarzes Visier. Wilcox begann die Waffe zu streicheln, fast schon zu liebkosen, bis er aufhörte, um sie von oben seitlich in seine Hose zu stecken und sein Shirt darüber zu ziehen. Das wirkte trotz der Tarnung verräterisch. Deshalb trug Wilcox seinen Rucksack nur auf der rechten Schulter, damit er von seinem steifen Gang und den vereinzelten Ausbuchtungen ablenken konnte, sie kaschieren konnte. Nun machte er sich auf den Weg in die oberste Etage. Von dort hatte man einen prima Ausblick.
Offen stehende Räume, geschlossene Türen, die nebenbei in der Überzahl waren, und Plakate, sowie Poster zogen an ihm vorbei. Eins dieser Plakate kündigte das bald anstehende Erdbeerfest an, bei dem es darum ging Erdbeeren zu essen, alles über ihre Geschichte zu erfahren und das, was notgedrungen noch alles dazu gehört. Vor dem schwarzen Brett blieb Wilcox stehen. Auf dieses Brett waren diverse Nachrichten gepint worden. Bald sollte ein Erste-Hilfe-Kurs stattfinden, dessen Teilnahme keine Pflicht war. Wilcox ging die Liste durch und entdeckte, dass jemand seinen Namen auf den Zettel geschrieben hatte. Der- oder Diejenige hatte sogar die Unterschrift gefälscht. Die Schrift sah weiblich aus ... . Ein anderer Zettel stellte die Bitte eines Mädchens dar, nach ihrem blauen Brillenetui Ausschau zu halten, da sie es verloren hatte. Eine auffällig bunte Nachricht gab den Befehl heute Abend fernzusehen. Wilcox wusste nicht wieso und es war ihm auch egal. Er wollte heute Abend sowieso fernsehen. Er drehte sich um und hatte eigentlich die Absicht seinen Weg fortzusetzen, als ein Mädchen vor ihm auftauchte und stehen blieb.
„Hey Scotti. Na wie geht’s dir?“ fragte es ganz unbefangen.
„Ich kenne dich nicht,“ antwortete Wilcox.
„Ich weiß, aber das ist doch egal. Ich kenne dich und versuche gerade ein Gespräch mit dir anzufangen. Also wie geht’s dir?“ fragte das Mädchen abermals ohne locker zu lassen.
„Gut. Danke,“ bemerkte Wilcox trocken.
„Und was machst du jetzt?“
Das Mädchen fing langsam an, ihm auf die Nerven zu gehen.
„Ich stehe hier und rede mit jemandem, den ich noch nie in meinem Leben gesehen habe.“
„Oh Entschuldigung. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt,“ sie streckte ihre rechte Hand vor „Ich bin Annie.“
Wilcox schaute ihre Hand an, ohne eine Regung zu zeigen. Er sagte vollkommen desinteressiert: „Hallo Annie...Wie geht’s dir?“
„Ach ganz gut denk ich. Aber wieso willst du mir nicht die Hand geben?“ sagte Annie und ihre Augenbrauen wanderten nach oben.
Wilcox verharrte in seiner Position und blickte nun auf den Boden. Er schien recht sauber zu sein. Die Putzfrauen schienen sich ihrer wichtigen Arbeit wirklich bewusst zu sein.
„Hallo? Ich rede mit dir!“ stichelte sie und stemmte ihre Arme an die Hüften.
„Was ist noch?“ sagte Wilcox, dem es mittlerweile immer unangenehmer wurde mit Annie zu reden.
„Wieso stehst du eigentlich so steif da? Und den Rucksack mit einem Träger zu tragen ist seit ungefähr zehn Jahren schon out... .“
Was fiel diesem Mädchen eigentlich ein? Es hatte Wilcox angesprochen, ohne Grund, versuchte ein Gespräch mit ihm zu führen und das Erste, was sie machte, war ihn zu kritisieren?
„Ich habe dich nicht gebeten mich anzusprechen. Du hast das gemacht“, sagte er.
„Und diese Ausbuchtungen...“
Wilcox zuckte innerlich zusammen. Dass Annie ihn als uncool abstempelte war eine Sache, aber jetzt bemerkte sie die Winchester. Er konnte einfach nicht zulassen, dass jemand die Winchester erkannte. Wilcox kam eine Idee. Wenn er Annie fragen würde, ob er mit ihr einmal ausgehen dürfe, würde sie sich ziemlich schnell verziehen. Sie schaute immer konzentrierter auf seinen Körper und versuchte klare Gegenstände hinter den Umrissen zu erkennen – noch ohne Erfolg. Eine Verabredung war ja offensichtlich ihr Ziel, dessen war sich Wilcox sicher. Also fragte er: „Annie, wie wäre es, wenn wir zwei mal was zusammen unternehmen?“
„Oh, das geht nicht. Ich habe schon einen Freund, mit dem ich seit zwei Jahren zusammen bin. Das kann ich ihm doch nicht antun und auf einmal mit jemandem Wildfremden ausgehen“, war ihre um Sachlichkeit bemühte Antwort.
Wilcox stand ruhig da.
„Weshalb hast du mich dann angesprochen?“
„Ich wollte einfach ein Gespräch anfangen.“
„Du solltest jetzt lieber gehen.“
„Hey tut mir Leid, wenn du da was falsch verstanden hast.“
„Du sollst gehen!“ wiederholte Wilcox.
„Okay okay, bin ja schon weg.“ Und damit verschwand Annie wieder genauso schnell wie sie erschienen war. Wegen so etwas war für Wilcox jetzt Schluss. Dennoch...sie war endlich weg und er konnte sich anderen Dingen zuwenden. Dingen, die mehr Spaß versprachen, als sich von einem fremden Mädchen ansprechen zu lassen, das dazu noch einen Freund hat.
Wieder schaute Wilcox auf die Uhr. Sie zeigte mittlerweile an, dass es zehn Minuten vor dreiviertel zwölf war. Langsam wurde es aber wirklich Zeit. Bald würden die meisten Schüler auf dem Hof sein, um dort ihre wohlverdiente Pause zu verbringen.
Über eine letzte Steintreppe gelang Wilcox in die zweite und oberste Etage. Links von ihm befand sich die Aula, in der auch Prüfungen geschrieben wurden; rechts führte ein Gang zu den Physik- und Chemiekabinetten. Wilcox trabte los und setzte einen Fuß vor den anderen.. Die dunkelbraune Tür vor ihm stellte sein Ziel dar. Doch sein letzter Gang wurde wieder unterbrochen.
„Warte mal Scotti!“ Das war wieder Harris. „Ich hatte ganz vergessen, dich noch was zu fragen.“
Von wegen.
„Als ich das letzte Mal bei dir war...also hast du irgendwo ‘nen Taschenrechner bei dir gefunden, der nicht dir gehört? Du musst nämlich wissen, ich such meinen schon seit ungefähr einer Woche, ich hab Zuhause schon überall nach ihm gesucht, aber ich finde ihn einfach nicht. Deshalb hab ich gedacht, dass er vielleicht noch bei dir ist. Vielleicht?“
„Ich hab keine Ahnung, ob er bei mir ist. Ich wird heut Nachmittag nachschauen“, sagte Wilcox und hoffte, dass das damit geklärt wäre.
„Tust du das für mich? Ich glaube ich beanspruche dich sowieso schon zu viel. Jedenfalls...ach übrigens schickes Hemd“, schleimte Harris und zeigte auf Wilcox Oberkörper.
„Danke.“ Es war ein schlichtes, dunkelblaues Polo-Shirt – kein Hemd. Was wollte dieser Typ jetzt schon wieder?
„Ähm. Als ich neulich bei dir war, da hab ich so ein Poster gesehen. Es lag zusammengerollt auf dem Telefonschränkchen und du warst gerade pinkeln. Naja. Darum hab ich mal geschaut, was es für eins ist. Ist so ein Stirb Langsam IV Filmplakat, wo Bruce Willis drauf ist, aber das weißt du ja bestimmt selbst.“
„...“
„Brauchst du das noch? Ich würd es gerne haben und da es einfach so rumlag. Geld würde ich dir dafür natürlich auch geben. Das ist kein Problem.“
„Nein das Plakat ist unverkäuflich“, sagte Wilcox knapp.
„Ach schade. Aber trotzdem sag mir Bescheid, wenn du deine Meinung änderst.“
„Mache ich“, log Wilcox, denn er hatte nicht vor Harris das Poster jemals zu verkaufen. Er wollte es zwar selbst nicht unbedingt irgendwo aufhängen, aber dieser Versager von Harris sollte es auf keinen Fall bekommen. Dafür würde Wilcox schon sorgen.
„Tschüß!“
Und damit ging Harris wieder. Wilcox hatte ihm sowieso keine Aufmerksamkeit geschenkt, Harris war ein Arschloch.
Wilcox setzte seinen Weg fort und berührte die Tür. Rechts von ihr hing ein Schild an der Wand, das besagte, dass dieser Raum eine Abstellkammer sei. Sonst war sie verschlossen, aber Wilcox hatte sich den Universalschlüssel des Hausmeisters genommen, als dieser das Gras auf dem Hof der Schule mähte und bei einem Schlosser neu anfertigen lassen. Er zog ihn aus seiner Hosentasche und steckte ihn in das Schloss. Der Schlüssel ließ sich ganz leicht drehen. Wilcox drehte ihn bis zum Anschlag, aber wahrscheinlich mit etwas zu viel Kraft – oder es lag am Material. Man munkelte, dass der Schlosser ein Betrüger war und kaum Ahnung hatte von seinem Handwerk. Der Schlüssel brach ab. Wilcox drückte hastig die Klinke nach unten, ob wenigstens die Tür offen war. Zu seiner Erleichterung war sie das. Er atmete durch, während er in den stickigen Raum trat. Links von ihm standen etwa sieben bis acht übereinander zusammengesteckte Stuhlstapel, vor ihm stand ein einzelner Stuhl, so als hätte ihn jemand bestellt, jedoch nicht abgeholt. Wilcox nahm sich den Stuhl und stellte ihn fest gleich einer Barriere vor die sich nach innen öffnende Tür.
Der Raum war rechteckig angelegt. Die Stuhlstapel flankierten den einzigen Ein- und Ausgang. Gegenüber der Tür waren Fenster in die Wand eingebracht, die Wandfarbe, sandfarben, blätterte an einigen Stellen ab. Der weiche Bodenbelag dämpfte Wilcox‘ Schritte, als er zu den Fenstern ging. Er ließ seinen Rucksack fallen und zog sein Hemd hoch, um das Gewehr heraus zu holen. Unglaublich, dass es niemandem aufgefallen war. Nur dem Mädchen mit dem Freund.
Wilcox legte die Waffe ganz sanft auf die rauen Fensterbänke und betrachtete sie. Die Waffe war geladen, hatte einen langen Lauf und war mit Buchenholz gemasert, das Visier bestand aus Stahl.
Er schob den Riegel eines Fensters beiseite. Das Fenster knarrte verräterisch.
Niemand befand sich auf dem Hof, nicht mal die Raucher, die durch irgendeine Ausrede, meistens war es der Klassiker: ich muss mal auf Toilette, aus dem Unterricht gehen konnten, eine Zigarette anmachten und diese mit zwei Mal ziehen fertig geraucht hatten. Das sollte sich bald ändern. In eins, zwei, drei ... die Schulklingel begann zu läuten. Türen wurden brutal aufgerissen, jemand fing an zu lachen, Stimmen ertönten in der Gängen, gefolgt von den Schritten der Schüler, die sich auf den Weg zum Hof machten, um sich dort zu unterhalten oder eben eine zu rauchen. Eben jenem Hof auf den Wilcox aus einem Fenster im Obergeschoss der Schule schaute.
Er legte das Gewehr an, stützte sich mit seinem linken Ellenbogen ab und suchte in der sich bildenden Menge von Schülern. Ein Junge, vielleicht Wilcox‘ Alter, sprach gerade sehr energisch mit einem Mädchen. Er setzte seine Arme, seinen Kopf, im Grunde genommen seinen ganzen Körper ein. Irgendetwas an diesem eigenartigen Tanz veranlasste das Mädchen zu lächeln und den Jungen zu knuffen.
Wilcox betätigte den Abzug zwei mal.
Zwei mal entstand ein angenehm leichter Rückstoß. Die linke Seite des Kopfes von dem Jungen platzte regelrecht und ein roter Blutschwall ergoss sich auf das Mädchen, ihre helle Kleidung färbte sich rot.
Der zweite Schuss traf den Jungen in der linken Schulter und ließ ihn rücklings nach hinten stürzen. Ob das Mädchen schrie, konnte Wilcox nicht sagen, denn er war fast wie in Trance. Er bemerkte nichts anderes mehr nur das kleine, runde, vergrößerte Bild, sonst nichts.
Das Mädchen schaute panisch nach oben und versuchte auszumachen, was hier eigentlich gerade geschehen war. Wilcox gab ihr keine Zeit. Ein weiterer ohrenbetäubender Knall.
Die anderen Schüler, die das Spektakel bemerkten, schauten entsetzt zu den zwei leblosen Körpern. Eine Schülerin fing an hysterisch zu schreien.
Ein vierter und fünfter Knall.
Aber das Schreien hörte nicht auf, es breitete sich auf den ganzen Schulhof aus.
Plötzlich klopfte es an die verriegelte Tür.
„Wilcox?“
Das war wieder Harris. Wieder störte er.
„Bist du da drin Wilcox?“
„Warum kannst du nicht da draußen stehen?“ flüsterte Wilcox mehr zu sich selbst. Auf seinem Gesicht zeichnete sich ein enttäuschtes Grinsen ab. Dennoch schien er ganz kühl und abgeklärt.
„Warum bist du in dem Lager? Weißt du was da draußen los ist? ... man ... da schießt irgendjemand von irgendwo her auf die Leute!!!“
Wilcox erspähte Wilsons Gesicht und zielte mit dem Visier auf ihn.
„Aber ich komm gleich zum Punkt...
„Wieso redet er mit mir, wenn er gar nicht weiß, ob die Person hier drin wirklich ich bin?“ hauchte Wilcox.
„...ich geb dir 100$ für das Poster oder ich tausche meine alte Münzsammlung mit dir.“
Das Kreuz zielte jetzt genau auf Wilsons hässliches Gesicht.
„Sag was bitte!“
Stille.
Ein sechster Knall.
„Verdammt was war das denn?“ erdreistete sich Harris zu fragen.
Wilsons Gesicht flog in Fetzen von seinem Kopf. Lag da auf der Wiese nicht ein Stück Nase?
„Hey hat du das gehört?“
Erneutes panisches Gekreische. Ja das war die Nase.
„Hallo hörst du mich?“
Oder doch nicht? Egal dann eben der Nächste. Wilson ist wenigstens gut geflogen. Acht von 10 Punkten würde ich sagen.
„OH MAN SCHEIßE DER SCHUSS KAM AUS DIESEM RAUM!!!“ schrie Harris.
An der äußersten Grenze des Schulhofes versuchte sich doch tatsächlich ein Schüler hinter einer Reihe von Bäumen zu verstecken. Dafür musste er allerdings erst Mal dort ankommen. Wilcox konzentrierte sich und ließ das Fadenkreuz durch die Umgebung wandern. Er schätzte die Zeit ab, bis der Junge die Bäume erreichen würde und kam zu dem Schluss, dass er sich Zeit lassen konnte, denn der Junge rannte sehr langsam. Wilcox dagegen zielte schnell.
Es hämmerte gegen die Tür.
„Verdammt Wilcox was machst du da drin!!!“ schrie Harris nochmals aber es war zwecklos.
Der Schüler kam ihm bekannt vor. War das nicht derjenige, der ihm vor kurzem noch erzählt hatte wie nett und freundlich Wilcox sei? Wie war noch gleich sein Name? Tja ist auch egal.
„FUCK FUCK FUCK. HEY HÖRT MICH HIER JEMAND? WILCOX SCHIEßT HIER OBEN WAHLLOS AUF SCHÜLER!!!“
Da war sein Kopf, voller Blut. Zwei Meter noch und der Junge hätte tatsächlich seinen Schutz gefunden, aber Wilcox wartete bereits mit seinem Visier, das auf die Bäume gerichtet war. Er drückte den Abzug und der Junge, Simpson war sein Name, jetzt fiel es Wilcox wieder ein, wurde im Rücken getroffen.
„SCHEIßE WAS SOLL DER MIST WILCOX, BIST DU VERRÜCKT!!!“
Noch im Fallen krümmte sich Simpson zusammen und macht dadurch einen Purzelbaum nach vorn.
„WILCOX DU BIST EIN VERDAMMTER PSYCHO!!!“
Es sah eigenartig aus wie Simpson aus den Lauf heraus nach unten stürzte, eine Rolle machte und mit dem Kopf hart an den ersten Baum knallte. Wilcox glaubte sogar ein leichtes Knacken zu hören.
„JA HIER OBEN BIN ICH, WILCOX KNALLT HIER DIE LEUTE AB“
Schritte. Leise aber näher kommend.
„IN DER ABSTELLKAMMER. NEIN ICH WEIß NICHT WIE ER DA REIN GEKOMMEN IST.“
Das machte nichts, es waren ja noch einige auf dem Hof. Menschen die zu verängstigt und geschockt waren, um auch nur einen Schritt zu machen.
Jetzt hämmerte jemand brutal gegen die Tür . Das konnten nicht nur Fäuste sein, das war etwas Schwereres. Immer wieder dieses Gehämmer.
„GLEICH IST ALLES VORBEI WILCOX“
Er konnte sich vorstellen wie Harris das mit einem dummen schadenfrohen Grinsen im Gesicht sagte. Aber das war Wilcox egal, denn noch hielt der Stuhl, der unter der Tür klemmte und allein das zählte.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.07.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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