Tina Kluge

Wenn Sterne einsam sterben ( Auszug aus Kapitel 1)

„Dieses fühlt sich gut an.“ Jako strich sanft über den Einband des Buches, das er in den Händen hielt. „Es schmiegt sich an die Haut, als wolle es ein Teil davon sein. Du siehst also, das Buch sucht dich aus, nicht umgekehrt.“
Raki sah ihn verwirrt an. Der kleine Junge verstand nicht recht, ob der Großvater nur einen Scherz machte. Der Alte lächelte zurück. Geduldig zeigte er Raki ein neues Buch. Sein Name war „Lotusbrand“. Der Enkel schien noch verwirrter zu sein, denn Jako zog die soeben ausgestreckte Hand schnell wieder zurück. Er wandte sich erbost nach Raki um.
„Lotusbrand darfst du auf keinen Fall anfassen. Es ist böse. Wer weiß, ob nicht ein dummer Mensch es einmal grob behandelt hat.“
Großvaters Worte klangen sehr ernst. Ohne Lächeln. Aber mit viel Angst, das spürte Raki genau. In diesem Moment stand eine kleine Frau neben ihm. Barsch gewährte sie Hilfe. „Wenn Sie vielleicht die Güte hätten, nur die Bücher anzufassen, die Sie auch kaufen wollen?“ Jako blinzelte sie entsetzt an. Schließlich raunte er Raki zu: „Wenn die Bücher nicht wären, ich hätte diesen Laden nur ein einziges Mal betreten. Zu meiner Zeit war das noch anders. Da konntest du jeden Tag in den Laden kommen und dir Bücher ansehen, ohne, dass sich jemand beschwert hätte. Mich haben sie hier sogar gut gekannt, ich habe früher viel Zeit in diesen Räumlichkeiten verbracht. Und natürlich gelesen, so viel nur ging.“
Raki wusste darauf nichts zu sagen, stattdessen nahm er „Feuerbraut“ in die Hand. Der Großvater nickte ihm zufrieden zu. Sein Enkel gedachte den Worten, die Jakos Verbindung zu diesen seltsamen untoten Geschöpfen offenbarte. Es fühlt sich gut an, hat er gesagt. Nun, wohl war Raki nicht bei dem Gedanken, etwas Lebendiges in den Händen zu halten. Sein steifer Blick fand das unfreundliche, von Zeitdruck gepeinigte Gesicht der Verkäuferin. Man hätte es in diesem Moment wohl fotografieren und sechs Stunden später mit dem original vergleichen können – es würde sicher kein Unterschied deutlich. Doch Raki war das gewöhnt. Tag für Tag begegnete er unfreundlichen Menschen, entnervten Mienen. Das moderne Leben war einfach so, zeitgebunden und stets hektisch. Er zuckte mit den Schultern und legte „Feuerbraut“ wieder aus der Hand. Womöglich war der Lärm schuld, der seine Sinne betäubte. Das Gefühl, dass „Feuerbraut“ tatsächlich fühlte, wer es in der Hand trug, wollte sich nicht einstellen. Dass das Buch auf seine Wahrnehmungen reagierte, schon gar nicht. Jako hatte inzwischen noch einmal ein gänzlich anderes Buch vom Regal genommen. Es roch wie neu, wie einfach alles in diesem Laden, der schon einhundertundvierzig Jahre existierte. Es musste wohl an all den Büchern liegen, die jede Woche aufs Neue an diesem Ort eine neue Heimat suchten. Er sah sich erstaunt um. Es war tatsächlich als riefen die Bücher nach ihm. Jedes einzelne wollte zu ihm vordringen, in seinen Geist. Doch die meisten hätte er nicht anzurühren gewagt. Nicht etwa, weil sie eine negative Aura besaßen, viel mehr, weil er sie nicht ergründen, nicht kennen lernen wollte. Aber vielleicht würde sich Raki für eines entscheiden. Eines, das einmal sein Freund und Begleiter würde. Hinter Raki tauchte eine kleine Gruppe Kinder auf. Zwei von ihnen telefonierten, ihre neuen Handys blitzen im Widerschein der Lampen auf. Die vorhin so ernste Verkäuferin lächelte nun doch. Auch, wenn dieses Kunststück sehr schwer erzwungen aussah. Eines der Kinder gesellte sich zu Raki, schubste ihn grob beiseite. Das Mädchen versuchte, einen Band des „Anubis“ von Wolfgang Hohlbein zu erhaschen. Jako beobachtete sie kritisch, denn sowohl der Titel als auch der Einband wirkten bedrohlich. Hätte Raki ihn nicht erst vor kurzem zur Ordnung gerufen, er hätte noch einmal versucht ein Kind vor der Gefahr zu warnen, die von „Anubis“ ausging. Verzagt schüttelte er den Kopf. Nein, das Mädchen musste seine eigenen Erfahrungen anstellen.
„Nun Raki, hast du dich entschieden?“ Dieser war eben noch darin vertieft gewesen, die Namen der Bücher vor ihm zu lesen. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich zu entscheiden. Ruckartig drehte er sich um die eigene Achse und stiefelte zum nächsten Regal. Die Inschrift, die ihn dort erwartete, gierte beinahe nach ihm. Raki las sie und stellte fest, wie seltsam das klang. „Eragon“ wirkte auf ihn. Der Name barg etwas großes, das alle Hindernisse überwinden konnte; etwas, das nach Lesern lechzte. Raki griff nach dem schweren Buch – es war dennoch nur ein Taschenbuch – drehte es in der Hand und fühlte sich überzeugt. Erfürchtig schlug er die blütenweißen Seiten hin und her, las hier und da ein paar Abschnitte. Schon war er gefesselt, hörte bereits kein Gelächter und Reden mehr. „Eragon“ schmiegte sich in seine Hand. Was hatte Großvater gesagt, als er das erste Buch vorführte? Es fühlt sich gut an. Es schmiegt sich in deine Hand als ob es um Fusion bittet.
Eine schwere Hand lag auf Rakis Schulter, sie versicherte ihm den Schutz, den er suchte und doch mied. Langsam drehte der Junge sich um, an den Anblick des Alten gewöhnt. Doch der hatte sich gänzlich in ein anderes Buch verliebt. Vor Raki ragte zwar ein alter, aber viel kleinerer Mann empor. Gutmütig lächelte er dem verunsicherten Kind zu.
„Ein gutes Buch hast du gefunden. Möchtest du es haben?“
„Ja, nun, ich weiß nicht“, murmelte Raki abwartend. Er bückte sich flink unter der groben Hand des Unbekannten hindurch, auf dem Weg zu seinem Großvater. Doch der Mann war schneller; fest drückte er seine grobe Hand wieder auf Rakis junge Schulter. Seine Intention ließ der Fremde unausgesprochen im Raum stehen. Die Begierde, die seine Augen jedoch ausstrahlten, sprachen mehr als alle Bücher des Ladens zusammen. Raki schluckte. Wie würde wohl der Großvater auf eine solche Situation reagieren? Womöglich kannte er sich in diesen Dingen besser aus. Der Junge suchte nach einer Ausrede, um dem kleinen Mann hinter ihm nicht grob zu kommen. Seine Augen wanderten hin und her, lasen ohne seinen Willen die einzelnen Buchtitel. Dann fanden sie endlich ein Ziel.
„Entschuldigung, ich möchte nun gern noch ein anderes Buch suchen.“ Hoffentlich wirkte das Gestammel. Raki hatte versucht, sicher aufzutreten, um in seinem Kopf tatsächlich den eben ausgesprochenen Wunsch entstehen zu lassen. Der Mann nickte und nahm langsam seine Finger vom jungen Herz. Die kleinen Füße des Enkels setzten sich in Bewegung, doch sie gehorchten ihrem Besitzer nicht mehr. Raki hatte vor, sich wie zufällig in Jakos Richtung umzusehen, in der Hoffnung dadurch den fremden abschütteln zu können. Großvater würde schon reagieren. Stattdessen suchten seine Beine ihn zu einem anderen Ort zu tragen: einer kleinen Nische, die weder Bücher noch Menschen beherbergte.
„Eragon“ hielt er schützend vor die Brust, nun konnte er die Wärme spüren, die von ihm ausging. Für einen kleinen Augenblick meinte er, das Buch oder doch wenigstens der Romanheld würde ihn retten. Nichts geschah, wenn man davon absah, dass Raki noch immer dabei war, sich auf die leere Wand zuzubewegen. Gleich stand er davor, ohne zu wissen, was er dort wollte.
Erst langsam entkleidete der Alte sein Anliegen.
„Raki, du musst mich anhören!“ Sein Geflüster musste aufgrund seiner scharfen Aussprache im ganzen Raum zu hören sein. Doch Raki war anders. Er versuchte als erstes die Worte des Greisen zu verstehen. Er schüttelte den Kopf, seine Stimme konnte er dennoch nicht frei lassen.
„Also schön, ich wollte, es wäre ein anderer Ort, aber das war mir leider nicht möglich. Du bist in Gefahr, Junge. Ich weiß, dass das nun furchtbar unglaubwürdig klingt, aber anders kann ich es nicht ausdrücken.
Du hast etwas, dass einem Anderen gehört, und er schickt mich, dir folgende Botschaft zu geben:
La vie n’est pas correcte, mais tu sais changer les circonstances. Tu es choisi pour sauver le monde. Das Leben läuft nicht so wie es soll, aber du kannst das ändern. Du bist auserwählt, die Welt zu retten.
Er meinte du könntest damit etwas anfangen.“
„Aber was hat das, was ihm gehört, mit der Rettung der Welt zu tun?“
„Ich darf dir nicht mehr sagen. Aber du musst unbedingt dafür sorgen, dass der Gegenstand zu seinem rechtmäßigen Besitzer findet.“
Mit einem Ruck drehte er sich um und setzte den Schritt in Richtung Ausgang. Raki blickte ihm umso verwirrter und in Gedanken versunken hinterher. Er vergaß für einen Moment seinen Großvater, der ihn eigentlich nur zum Lesen ermutigen wollte. Er vergaß auch „Eragon“, der ruhig in seinen Armen zu schlummern schien. Um ihn herum drehte sich alles. Dass Jako sich bereits an einem völlig fremden Ort wieder fand, nahm er absolut nicht wahr.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.07.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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